Spagat zwischen Idealismus und Wirtschaftlichkeit

Nach über vierzig Jahren Betrieb steckt die Brasserie Lorraine in der Krise. Mit einem Spendenaufruf sollen 100’000 Franken zusammenkommen. So will sich das Kult-Lokal retten.

Brasserie Lorraine fotografiert am Montag, 5. Februar 2024 in Bern. (hauptstadt.be / Simon Boschi)
Brasserie Lorraine: Immer wieder kontrovers diskutiert, nun in finanziellen Schwierigkeiten. (Bild: Simon Boschi)

Es ist vielleicht der günstigste Kaffee im Lorraine-Quartier: Vier Franken kostet die Tasse in der Brasserie Lorraine. Das ist Konzept: «Wir sind ja nicht günstig, weil wir blöd sind, sondern aus politischem Willen», sagt Valentina. Sie arbeitet in der «Brass» im Service, organisiert Veranstaltungen und hat den Spendenaufruf mitverantwortet. 

Auf den sozialen Medien und ihrer Website bittet die Beiz seit Dezember um Spenden. Mit dem Betrag möchte sie einen Covid-Kredit in der Höhe von 100’000 Franken zurückzahlen.

Der Kredit wurde damals zinslos gewährt, seit rund einem Jahr sind nun Zinsen darauf fällig. Gleichzeitig sind die Einnahmen gesunken: «Wir haben immer noch genug Kundschaft, aber der Pro-Kopf-Konsum ist tiefer», sagt Valentina. Sie erklärt sich das mit der Teuerung. Die Leute seien weniger bereit, Geld auszugeben, um auswärts zu essen. Es würden weniger Mittagsmenüs, Vorspeisen, Desserts und weniger Getränke pro Tisch bestellt. 

«Ich glaube nicht, dass wir so länger als ein halbes Jahr weiterexistieren könnten»

Valentina, Kollektiv-Mitglied Brasserie Lorraine

Die Kombination aus Schulden und tieferen Einnahmen macht den Spagat schwieriger, an dem sich das Lokal seit vierzig Jahren übt: Eine linke, antikapitalistische Beiz zu sein, die gleichzeitig wirtschaftlich sein muss.

«Ich glaube nicht, dass wir so länger als ein halbes Jahr weiterexistieren könnten», unterstreicht Valentina die Dringlichkeit der Lage. Sie sitzt an einem Montag in der Brasserie am Fenster. Rundherum schwere Beizentische, Holztäfelung. Weder hip noch trendig – es wirkt ein wenig, als wäre hier die Zeit stehengeblieben. Nur die bunten Plakate und politischen Flyer erinnern: Hier passiert etwas.

Brasserie Lorraine fotografiert am Montag, 5. Februar 2024 in Bern. (hauptstadt.be / Simon Boschi)
Fast schon urchig mutet die Einrichtung in der Brasserie an. (Bild: Simon Boschi)

Seit 1981 verschreibt sich die Beiz einer Art kulturell-gastronomischem Aktivismus. Der äussert sich auf verschiedene Arten: Erstens ist die Brasserie Lorraine selbstverwaltet und kollektiv geführt – alle Entscheidungen werden in der Gruppe abgesegnet. Vorgesetzte gibt es keine. Darum herrscht an diesem Montag auch reger Betrieb im Lokal: immer wieder trudeln Mitglieder des Kollektivs ein. Der Ruhetag ist hier Sitzungstag. 

Ein Wohnzimmer für viele

Zweitens pflegt die Beiz eine Politik der offenen Tür: Fast alle sind hier willkommen. Menschen ohne festes Zuhause, Menschen, die am Rande der Gesellschaft stehen. Die Brasserie soll für sie und alle anderen eine Art offenes Wohnzimmer sein. Darum gilt auch kein Konsumzwang: Wer will, darf hier den ganzen Tag verbringen, ohne etwas zu bestellen. Das sehr durchmischte Publikum bringt aber Betreuungsaufwand mit sich: «Manchmal bin ich auch ein wenig Sozialarbeiterin», sagt Valentina. 

Brasserie Lorraine fotografiert am Montag, 5. Februar 2024 in Bern. (hauptstadt.be / Simon Boschi)
Wortwörtlich auf die Fahne geschrieben - Selbstverwaltung, seit über 40 Jahren. (Bild: Simon Boschi)

Weniger willkommen ist die Polizei, die in der Brasserie immer wieder auftaucht, wie das Kollektiv auf seiner Website schreibt. Um was es bei den Kontrollen und Verhaftungen geht, weiss man nicht – es sollen aber auch Drogen im Spiel sein. 

Politisch kontrovers

Drittens positioniert sich die «Brass» ganz klar politisch: Soldaten in Uniform oder SVP-Politiker werden nicht bedient. Und am bekanntesten: Ein Konzert der Band «Lauwarm» wird vor eineinhalb Jahren mittendrin abgebrochen. Das führt zu einer landesweiten Debatte über kulturelle Aneignung und zuletzt zu einem Strafbefehl wegen Rassendiskriminierung gegen das Lokal. Gegenüber Medien äussert sich das Kollektiv momentan nicht zum Thema. Einen Zusammenhang zu den tieferen Einnahmen verneinen sie aber.

Alles in allem braucht es viel Idealismus, um länger in der «Brass» zu arbeiten. Das Einkommen ist tief: ein Einheitslohn von knapp zwanzig Franken pro Stunde, plus Kinderzuschlag. Im Gespräch fällt das Wort «Selbstausbeutung». Hier zu arbeiten, scheint mehr als ein Gastro-Job zu sein. Alle, die im Kollektiv mitwirken, übernehmen neben der Arbeit in Service oder Küche zusätzliche Funktionen. Arbeitsgruppen sind zuständig für den Unterhalt, organisieren Veranstaltungen oder zahlen die Löhne aus. Viel Engagement für wenig Lohn: aus politischer Überzeugung.

Darum setzt das Kollektiv in erster Linie auf Spenden. Und da muss noch einiges gehen: Erst rund 10’000 Franken wurden bisher gespendet. Und so macht das Lokal, was es ungern tut: Ab März erhöht die «Brass» über die ganze Speisekarte die Preise.

Der Kaffee in der linken Beiz könnte also bald nicht mehr der günstigste in der Lorraine sein.

Brasserie Lorraine fotografiert am Montag, 5. Februar 2024 in Bern. (hauptstadt.be / Simon Boschi)
Zwar sozial, aber wohl kaum profitabel: In der Brass kann man ein Menu spenden. (Bild: Simon Boschi)
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Diskussion

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Christoph Grottolo
20. Februar 2024 um 19:25

Die Angaben zum Spenden finden sich hier: https://brasserie-lorraine.ch/

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