Unsichtbare Arbeit

Die hartnäckige Besucherin

Seit 20 Jahren besucht Tanja Kunz Sexarbeiterinnen im Kanton Bern. Sie klärt auf, berät – und muss häufig auch ganz flexibel planen.

Tanja Kunz ist eine Beraterin des vierköpfigen Teams von Xenia, der spezialisierten Fachstelle, welche Sexarbeiter*innen, Behörden und Betreiber*innen berät, Medien und andere in Fragen rund um das Sexgewerbe informiert. Fotografiert fuer die Hauptstadt. Bild: Christine Strub, ©christinestrub.ch
Mehrmals in der Woche geht Tanja Kunz auf Tour, um über sexuell übertragbare Krankheiten aufzuklären. (Bild: Christine Strub)

Tanja Kunz öffnet die Tür des kleinen Hauses mitten in der Berner Matte. Ihr Händedruck ist fest, ihre Kleidung unauffällig, ihr Blick offen.

Niemand, der ihr auf der Strasse begegnet, würde ihren Job erraten. Tanja Kunz arbeitet seit 20 Jahren für Xenia, die Beratungsstelle für Sexarbeiter*innen im Kanton Bern.

Eigentlich wollte die «Hauptstadt» sie einen Nachmittag lang bei ihrer Arbeit begleiten. Sexarbeiterinnen besuchen und mit ihnen über Gesundheitsprävention sprechen, was Tanja Kunz mehrmals in der Woche macht. Aber die meisten der Frauen waren nicht bereit, eine Journalistin zu empfangen. «Das hat mich selbst auch erstaunt», sagt Kunz, «ich erlebe sie sonst eigentlich als sehr selbstbewusst und nicht als scheu». Aber vermutlich sei die Angst, erkannt zu werden, zu gross. «In der Gesellschaft werden Sexarbeiter*innen immer noch stigmatisiert.»

Die einzige, die zugesagt hat, ist diese Woche nun doch nicht in Bern. Und das sagt viel über die Branche aus. Denn in den letzten Jahren hat sich dort einiges verändert. Der Rhythmus der Frauen ist anders geworden. «Sie sind viel flexibler und mobiler», sagt Tanja Kunz. Als sie bei Xenia angefangen habe, seien die Frauen noch länger an einem Ort geblieben. «Jetzt wechseln viele von ihnen jede Woche.» Manchmal die Stadt, manchmal auch das Land. Auch im Sexgewerbe hat sich die Globalisierung beschleunigt.

Aus der Begleitung wird also nichts. Allerdings wird im Verlauf des zweistündigen Gesprächs mit Kunz auch klar, warum die Idee, ihr bei der aufsuchenden Arbeit über die Schulter zu schauen, von Anfang an nicht so gut gewesen ist.

Sie klopft an viele Türen

Tanja Kunz bereitet ihr Arbeitsmaterial auf dem Tisch im Büro in der Matte aus. Kondome, Visitenkarten, Flyer mit Beratungs- und Testangeboten, ein Ordner mit Bildern von Symptomen von Geschlechtskrankheiten. All die Sachen verstaut sie in ihrem Rucksack, wenn sie mehrmals in der Woche auf Tour geht.

Das muss man sich so vorstellen: Tanja Kunz studiert Sexanzeigen im Internet und in Zeitungen. So findet sie ungefähr heraus, welche Frauen gerade wo arbeiten. Denn viele der Fantasienamen kennt sie, viele der Adressen auch.

Tanja Kunz ist eine Beraterin des vierköpfigen Teams von Xenia, der spezialisierten Fachstelle, welche Sexarbeiter*innen, Behörden und Betreiber*innen berät, Medien und andere in Fragen rund um das Sexgewerbe informiert. Fotografiert fuer die Hauptstadt. Bild: Christine Strub, ©christinestrub.ch
Kondome, Broschüren und Visitenkarten hat sie bei ihren Touren immer im Rucksack dabei. (Bild: Christine Strub)

Dann nimmt sie sich ein Quartier oder eine Region im Kanton Bern vor und fährt an einem Nachmittag dort vorbei. «Der Zeitpunkt ist gut, weil die Frauen nachmittags meistens weniger Kunden haben», sagt sie. Hatte sie schon öfter Kontakt zu einer Frau, schreibt sie ihr vorgängig eine Nachricht. Ansonsten klopft sie einfach an die Tür.

In manchen Gebäuden sind es viele Türen, weil es Häuser im Kanton gibt, in denen auf mehreren Stockwerken Zimmer oder Wohnungen an Sexarbeiterinnen vermietet werden. Manchmal besucht sie auch Bordelle. Die meisten lassen sie ein. «Aber alles ist freiwillig, niemand muss mit uns reden», betont Tanja Kunz mehrmals im Gespräch.

«Kondome!»

Kunz stammt ursprünglich aus der Ukraine, lebt aber schon seit 30 Jahren in der Schweiz. Sie spricht Deutsch, Russisch und Ukrainisch, zudem versteht sie Bulgarisch und Tschechisch. Das ist wichtig in ihrem Job. Gerade die Personen, die aufsuchende Arbeit machen, werden von den Sexarbeiterinnen eher akzeptiert, wenn sie dieselbe Sprache sprechen. Darum gibt es auch andere Mediatorinnen, die Ungarisch, Rumänisch oder kamerunische Dialekte sprechen. Sie sind der niederschwellige Erstkontakt mit der Fachstelle Xenia.

Kunz war lange Zeit nur Mediatorin und besuchte die Frauen. Seit wenigen Jahren ist sie zudem Beraterin und leitet das Gesundheitsangebot von Xenia. Damit werden Frauen sensibilisiert, wie sie sich vor sexuell übertragbaren Krankheiten schützen können. Die Mediatorinnen wiederholen immer wieder, was dabei das Wichtigste ist («Kondome!»), und nennen ihnen Adressen von Stellen, wo sie sich auf diese Krankheiten testen lassen können.

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Die «Hauptstadt» bei Xenia

Vom 19. bis 23. August verlegt die «Hauptstadt» ihre Redaktion ins Mattequartier: Sie ist zu Gast bei der Fachstelle für Sexarbeit Xenia, die heuer vierzig Jahre alt wird.

Aus diesem Anlass beschäftigen wir uns mit Formen von unsichtbarer Arbeit: Arbeit, deren gesellschaftlicher Wert grösser ist als ihre Anerkennung in Form von Lohn, Sichtbarkeit oder Ansehen. Mit verschiedenen Beiträgen nehmen wir Sexarbeit, Erntehilfe, freiwillige Betreuung von Angehörigen oder die Arbeit in einer Kita unter die Lupe.

Hier geht es zum thematischen Schwerpunkt.

Bei vielen von Tanja Kunz’ Besuchen werden aber auch andere Themen angesprochen. Probleme mit der Steuererklärung oder der Arbeitsbewilligung, falsch einbezahlte AHV-Gelder, Zusatzversicherungen von Krankenkassen, die den Sexarbeiter*innen, die oft die hiesige Sprache nicht gut können und das System nicht kennen, aufgeschwatzt worden sind.

Für diese Fälle macht Tanja Kunz mit den Frauen einen Beratungstermin im Büro ab. Sie ist froh, wenn sie Probleme lösen kann. Gerade auch, weil sie die Überforderung mit Formularen und Behörden kennt. «Als ich vor 30 Jahren in die Schweiz kam, war es für mich nicht anders. Aber ich hatte meinen Mann und sein Umfeld, die mir helfen konnten.»

Nun unterstützt Tanja Kunz die Frauen. Obwohl sie die Reduktion der Sexarbeiter*innen auf Hilfesuchende nicht mag. «Ich bewundere Sexarbeiterinnen auch. Sie können Menschen sehr gut einschätzen», sagt sie. Letztlich seien es einfach Menschen wie du und ich. «Sie haben einen Beruf, arbeiten, bezahlen Steuern und AHV, sie sind nicht anders.»

Was sie nicht erzählt, aber mitschwingt: Es sind Menschen, die vielleicht ein bisschen länger haben, bis sie auch wirklich vertrauen. Manche, sagt Tanja Kunz, erzählten ihr erst nach Jahren von einer Gewalterfahrung, die sie gemacht hätten. Je länger sie schon mit einer Frau in Kontakt sei, desto eher öffne sich diese auch.

Tanja Kunz ist eine Beraterin des vierköpfigen Teams von Xenia, der spezialisierten Fachstelle, welche Sexarbeiter*innen, Behörden und Betreiber*innen berät, Medien und andere in Fragen rund um das Sexgewerbe informiert. Fotografiert fuer die Hauptstadt. Bild: Christine Strub, ©christinestrub.ch
«Ich bewundere Sexarbeiterinnen. Sie können Menschen gut einschätzen», sagt Tanja Kunz. (Bild: Christine Strub)

Manchmal erfährt Tanja Kunz dann erschütternde Geschichten, hört von Schicksalen, die ihr nahegehen. Sodass sie die Gedanken daran zuhause mit lauter Musik vertreiben muss. Oder die Situation im Büro mit einer Supervision aufarbeitet. Wenn es bei ihren Besuchen um Gewalt oder Menschenhandel geht, muss sie aber auch oft an andere Stellen verweisen: die Polizei, eine Rechtsberatung, die Fachstelle für Menschenhandel (FIZ), die Opferhilfe. Xenia versteht sich als erste Anlaufstelle, von wo die Anfragenden gegebenenfalls auch weitergeleitet werden.

Spontane Küchengespräche

Seit Jahren betreibt Tanja Kunz diese Aufbauarbeit, zu der sie nur zufällig kam, weil sie vor 20 Jahren und mit kleinem Kind einen Teilzeitjob gesucht hatte. Am Anfang besuchte sie russischsprachige Frauen, die in Cabarets tanzten. Damals gab es noch das Cabaret-Tänzerinnen-Statut, das mittlerweile abgeschafft wurde. Sexarbeiter*innen besuchte sie erst später.

Sie erinnert sich an Zeiten, als vor allem das HI-Virus thematisiert wurde. Heute sind Syphilis und andere Geschlechtskrankheiten das grosse Thema. Wieder und wieder macht Kunz ihre Touren, bei denen sie pro Tag zwischen fünf und 40 Frauen sieht. Sie informiert – und sie hört zu. Ihr Ziel ist es, einmal im Monat an allen Orten, die sie betreut, vorbeizuschauen.

Am liebsten mag sie die spontanen Gespräche, die sich manchmal in den Küchen der Etablissements ergeben. Da wird auch mal gelacht, da geben die Sexarbeiter*innen einander Tipps, zum Beispiel, wie man mit einem Freier umgeht, der auf ungeschützten Sex besteht. Und da ist Tanja Kunz Teil der Runde, weil sie schon so lange dabei ist.

«Viele Frauen kennen einander, tauschen sich aus», erzählt die 56-Jährige. Da sei auch eine gewisse Solidarität spürbar. Obwohl sie nicht für alle sprechen möchte. Das sei einfach, was sie beobachtet habe, sie wisse nicht, ob das für andere Orte und Frauen auch gelte.

Tanja Kunz ist eine Beraterin des vierköpfigen Teams von Xenia, der spezialisierten Fachstelle, welche Sexarbeiter*innen, Behörden und Betreiber*innen berät, Medien und andere in Fragen rund um das Sexgewerbe informiert. Fotografiert fuer die Hauptstadt. Bild: Christine Strub, ©christinestrub.ch
In ihrem Beruf ist Tanja Kunz sehr viel unterwegs. (Bild: Christine Strub)

Was sie aber weiss, ist, dass die Arbeit von Xenia auch durch Mund-zu-Mund-Propaganda bekannt gemacht wird. Zum Beispiel, wenn es um den Krankenkassenwechsel im Herbst geht, bei dem viele Frauen überfordert sind.

Es ist ein Thema, das in den kommenden Wochen wieder anstehen wird. Bis dahin wird Tanja Kunz noch oft ihren Rucksack packen, zu Fuss den Nydeggstalden hochgehen und von dort mit dem Bus in alle Teile der Stadt und des Kantons fahren. Und an Türen klopfen. Wieder und wieder.

40 Jahre Xenia

Die Beratungsstelle für Sexarbeiter*innen Xenia wurde vor 40 Jahren gegründet. Sie bietet einerseits in ihren Büros in Bern, Biel und Thun vertrauliche Beratungen durch ausgebildetes Personal an. Andererseits macht sie aufsuchende Arbeit durch Mediatorinnen, die als niederschwelliger Erstkontakt fungieren und Gesundheitsprävention und -beratung machen. Alle Mediatorinnen haben Migrationshintergrund und sprechen verschiedene Sprachen. Haben Sexarbeiter*innen nach den Besuchen weitere Anliegen, können sie eine Beratung in der Fachstelle in Anspruch nehmen.

Zum 40-Jahr-Jubliäum möchte Xenia die Rechte von Sexarbeiter*innen wieder vermehrt in den Fokus rücken. In der Schweiz sei die Sexarbeit zwar reguliert, aber das bringe auch Nachteile mit sich, sagt Christa Ammann, Leiterin von Xenia. «Statt, dass man aufgrund der effektiven Arbeitsbedingungen in einem Betrieb beurteilt, ob es sich um ein selbstständiges oder unselbstständiges Arbeitsverhältnis handelt, macht jede Behörde eine eigene Lösung, die mit einer anderen Behörde in Widerspruch stehen kann.» Ihr sei kein anderes Gewerbe bekannt, wo das so gelöst werde. Zumal sich die Lösungen zwischen den Kantonen wiederum unterscheiden würden. «Das ist eine Ungleichbehandlung und schafft Abhängigkeitsverhältnisse.»

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