Rot-grünes Duett, rot-grünes Duell
Flavia Wasserfallen (SP) und Bernhard Pulver (Grüne) kämpfen für und um den linken Berner Ständeratssitz. Ein Streitgespräch unter Freund*innen – als Podcast zum Hören oder als Interview zum Lesen.
17 Personen kandidieren am 22. Oktober für die beiden Berner Ständeratssitze. Im Fokus stehen drei Kandidat*innen. Als Bisheriger wird Werner Salzmann (SVP) seinen Sitz wohl problemlos verteidigen. Spannend wird die Auseinandersetzung um die zweite Vertretung: Die Linke versucht den Platz des abtretenden Hans Stöckli (SP) mit dem Stadtberner Duo Flavia Wasserfallen (SP)/Bernhard Pulver (Grüne) zu verteidigen.
Nationalrätin Wasserfallen und der frühere Regierungsrat Pulver, heute Verwaltungsratspräsident der Insel-Gruppe, sind beide profiliert und ambitioniert. Wer die Wahl schafft, ist offen. Das rot-grüne Duett ist deshalb auch ein rot-grünes Duell, das sogar nationale Ausstrahlung hat, weil die Bundesratsambitionen der Grünen den Haussegen zwischen SP und Grünen ein wenig schief hängen lassen.
Wie weit können sich politisch Verbündete auf die Füsse treten? Auf Einladung der «Hauptstadt» waren Pulver und Wasserfallen bereit, auch über ihre Differenzen zu reden.
Sie, Herr Pulver, sagten im Frühjahr, Sie wollen in Bern zwei linke Ständeratssitze erreichen. Dazu bräuchte es aber eine sehr grosse Wahlkampagne. Die ist nicht sichtbar. Haben Sie noch eine Million Franken in der Hinterhand?
Bernhard Pulver: Nein, ich habe ein Budget von rund 100’000 Franken. Dennoch ist mein Ziel, dass Flavia Wasserfallen und ich im ersten Wahlgang zuvorderst liegen und wir klar zeigen, dass im Kanton Bern rot und grün gut verankert sind. Ich empfehle, uns beide zu wählen. Es ist sicher nicht einfach, zwei Sitze zu machen. Aber die SVP darf nicht ohne Widerstand durchmarschieren.
Flavia Wasserfallen: Geld ist nicht alles. Es braucht bei der Majorzwahl zwar mehr finanzielle Mittel, aber wir sind beide auch viel unterwegs. Mir sind die direkten Gespräche mit Wählerinnen und Wählern sehr wichtig und darin sind wir stark. Ich hoffe zudem auf mehr Transparenz bei den Wahlkampfbudgets, bin aber bis jetzt skeptisch, ob all die von bürgerlicher Seite kommunizierten Zahlen stimmen. Ich habe meine finanziellen Angaben auf der Website veröffentlicht.
Von wem erhalten Sie Ihr Geld?
Wasserfallen: Die SP zahlt 100'000 Franken, und ich habe 100'000 Franken bei rund 700 Spender*innen gesammelt. Der durchschnittliche Beitrag liegt bei 150 Franken.
Was war die grösste Spende?
Wasserfallen: 5000 Franken. Die neuen Transparenzregeln verlangen eine Offenlegung ab 15’000 Franken. Ich werde Spenden ab 10’000 Franken offenlegen. Darunter kann ja keine Einflussnahme vermutet werden.
Wer sind Ihre Grossspender, Herr Pulver?
Pulver: Ich habe keine. Mein 100’000-Franken-Budget setzt sich zusammen aus knapp 30'000 Franken von Spender*innen – am Ende werden es wohl 40‘000 Franken sein –, einem Beitrag aus meinem privaten Vermögen und einem Beitrag der Partei. Es gibt mehrere Spender*innen, die mehrere tausend Franken zahlen. Das sind oft Leute aus dem persönlichen Umfeld. Die Grünen werden Spenden ab 5000 Franken veröffentlichen. – Grundsätzlich finde ich es toll, dass SP und Grüne zwei sehr gute Kandidaturen präsentieren. Die stärksten Leute sind am Start.
Realistisch ist ein linker Sitz, um den Sie beide sich duellieren. Eine ungewohnte Situation für SP und Grüne. Wie läufts?
Wasserfallen: Wir haben politisch eine grosse Übereinstimmung. Es gibt aber Unterschiede in unseren Prioritäten und im Stil. Wir haben mit den beiden Kandidaturen ein attraktives Angebot für alle, die progressive, soziale und ökologische Kräfte stärken wollen. Vor allem im Ständerat ist das dringend nötig.
Im Parlament stimmen die Parteivertreter*innen von SP und Grünen sehr ähnlich. Warum sind Sie nicht bei den Grünen, Frau Wasserfallen?
Wasserfallen: Es gibt schon Unterschiede. Wir sind uns einig über den Ausstieg aus den fossilen Energien, aber wählen unterschiedliche Wege. Die SP hat im Nationalrat einen raschen Ausbau von Solaranlagen in den Alpen befürwortet, die Grünen haben sich mehrheitlich enthalten. Beim Dilemma zwischen Naturschutz und Ausbau erneuerbarer Energien sehe ich mich auf der pragmatischen Seite. Auch zu indirekten Waffenlieferungen an die Ukraine haben wir uns unterschiedlich positioniert. Ich hatte diese befürwortet.
Flavia Wasserfallen (44) ist seit 2018 SP-Nationalrätin. Zuvor war die Politologin Grossrätin (2002 bis 2012) und arbeitete als Co-Generalsekretärin der SP Schweiz (2012 bis 2018). Wasserfallen ist Verwaltungsrätin des städtischen Energieversorgers ewb.
Bernhard Pulver (58) ist Verwaltungsratspräsident der Insel-Gruppe. Von 2006 bis 2018 war der promovierte Jurist und grüne Politiker der ersten Stunde Berner Regierungsrat. Zuvor war er Grossrat und Stadtrat. Von 1987 bis 1995 arbeitete er als Generalsekretär der Grünen Partei der Schweiz.
Warum sind Sie nicht in die SP, Herr Pulver?
Pulver: Die Parteien haben unterschiedliche Grundsätze. Die Grünen haben das Ökologische im Mittelpunkt, die SP kommt vom Sozialen. Als ich in den 80er-Jahren politisiert wurde, war für mich die Ökologie im Vordergrund, aber ebenso wichtig war für mich eine liberalere Gesellschaft. Die Grünen waren da sehr aktiv. Die SP hat sich zwar später als erste weitere Partei diesen Themen geöffnet, damals in den 80er-Jahren war die SP in diesen Fragen aber noch konservativer. Die beiden Parteien stehen sich heute näher als damals. Ich habe aber in meiner politischen Arbeit als Regierungsrat immer wieder deutliche Unterschiede zwischen den beiden Parteien erlebt.
Welche?
Pulver: Die Grünen stehen für Vielfalt, die SP-Vorschläge erlebte ich sehr oft als Lösungen, die Vereinheitlichung bevorzugen. Vereinheitlichung ist für mich aber nicht das Gleiche wie Gerechtigkeit.
Wasserfallen: Bei mir war der politische Funke der Frauenstreik 1991 und die Nichtwahl von Christiane Brunner. Die SP als Frauenpartei war die richtige Heimat. Und ich habe zuhause mitbekommen, was politisches Engagement konkret bewirken kann, als zum Beispiel die Postautolinie verlängert oder ein Steg über den Wohlensee realisiert wurden.
«Die Kluft zwischen Stadt und Land wird oft grösser gemacht, als sie ist.»
Flavia Wasserfallen
Wie würden Sie Ihr Amt als Ständerät*in des bürgerlichen Kantons Bern interpretieren? Bringen Sie die Perspektive der linken Städte ein oder wollen sie den ganzen Kanton vertreten?
Pulver: Es ist beides. Im Ständerat ist insgesamt die rot-grüne Seite zu schwach. Wo, wenn nicht in den grossen Kantonen wie Bern oder Genf, kann linksgrün punkten und diese Sicht einbringen. Wir sind aber auch Kandidat*innen, die für den ganzen Kanton denken. Als Regierungsrat habe ich immer den ganzen Kanton im Blick gehabt. Ich will Lösungen finden, die für alle tragbar sind und nicht nur Forderungen stellen.
Wen vertreten Sie im Ständerat, Frau Wasserfallen?
Wasserfallen: Die Kluft zwischen Stadt und Land wird oft grösser gemacht, als sie ist, und häufig geht die Agglomeration vergessen. Die Bezahlbarkeit von Prämien, Service Public und bezahlbare Kitaplätze sind auf dem Land genauso ein Thema wie in der Stadt. Der Ständerat ist derzeit nicht divers genug und deckt die Bevölkerung nicht gut ab. Hier kann ich eine zusätzliche Perspektive einbringen und mit meiner politischen Erfahrung zu guten Lösungen für die Menschen beitragen.
Der Ständerat ist für eine linke Politikerin ein schwieriges Gremium. Würden Sie sich wohl fühlen?
Wasserfallen: Ich kann gut mit Meschen zusammenarbeiten, die eine andere Meinung haben.
Würden Sie sich freuen auf den Ständerat, Herr Pulver?
Pulver: Ich musste lange in einem bürgerlichen Grossen Rat Mehrheiten erreichen. Das habe ich als Regierungsrat sehr oft geschafft und deshalb bin ich optimistisch, in einem Ständerat etwas bewegen zu können. Es liegt mir, auf Leute mit anderer Meinung zuzugehen.
Die Zürcher Gesundheitsdirektion Natalie Rickli (SVP) stellte kürzlich das Krankenkassen-Obligatorium in Frage, zeigte sich aber ratlos, was die Alternative wäre. Was finden Sie: Können wir so weiterfahren mit den stetig steigenden Prämien?
Wasserfallen: Der libertäre Vorschlag der Gesundheitsdirektorin des grössten Kantons schockiert mich. Mit einer Abschaffung des Obligatoriums würden die Gesundheitskosten teurer für alle und viele Bevölkerungsschichten würden aus dem Gesundheitssystem ausgeschlossen. Ich will echte Lösungen für die Bezahlbarkeit und den Zugang zum Gesundheitswesen. Wir beraten im Parlament über einen Gegenvorschlag zur Prämieninitiative, welche den Mittelstand sofort entlasten würde. Und wir müssen auch das Kostenwachstum bremsen. Aber wir müssen uns im Klaren sein: Unser Gesundheitssystem ist sehr gut und hat seinen Preis. Sinken werden die Kosten nicht.
Warum ist das nicht möglich?
Wasserfallen: Wir werden älter, der technologische Fortschritt kostet ebenfalls. Doch wir zahlen zu viel für Medikamente, insbesondere für Generika. Wir haben in Ballungszentren mit viel Spitzenmedizin zu viele unnötige Eingriffe. Ein Fehlanreiz im System ist, dass die Menge und nicht die Qualität bezahlt wird. Profitorientierte Privatspitäler boomen, Notfälle und Hausartzpraxen gehen zu. Das ist aus Patientensicht unerwünscht. Diese Entwicklung müssen wir umdrehen.
«Diese Probleme rauben mir den Schlaf.»
Bernhard Pulver
Sie, Herr Pulver, sind Verwaltungsratspräsident der Insel-Gruppe. Nehmen städtische Hochleistungsspitäler zu viele Eingriffe vor?
Pulver: Wenn die Überversorgung das Problem ist: Die Insel hat gerade zwei Spitäler in der Region Bern geschlossen. Alle sagen immer, es gäbe in der Region zu viele Spitäler. Applaus haben wir aber dafür nicht erhalten. Zum Vorschlag von Frau Rickli: Der ist absurd. Bei den Krankenkassenprämien müssen wir zuerst erreichen, dass alle Prämienverbilligungen ausgeschüttet werden. Die Initiative der SP finde ich richtig. Wir sollten zudem von der Kopfprämie auf einkommensabhängige Prämien umsteigen, denn die Kopfprämien sind das Problem. Die Prämien stiegen in den letzten 25 Jahren um 145 Prozent, die Kosten des Gesundheitswesens lediglich um 80 Prozent. Wir zahlen immer mehr über die Prämien. Es ist falsch, daraus abzuleiten, das Gesundheitswesen sei zu teuer.
Warum soll das falsch sein?
Pulver: Wir haben ein hervorragendes Gesundheitswesen, das ein wichtiger Wirtschaftsfaktor ist und einen tollen Service Public bietet. Es kostet etwa 11,9 Prozent des Bruttoinlandprodukts, was vergleichbar ist mit Nachbarländern. Das können und wollen wir uns leisten. Das Problem ist wie gesagt die unsoziale Finanzierung mit Kopfprämien. Der andauernde Kostendruck auf Spitäler führt nun aber dazu, dass wir ungedeckte Tarife im stationären wie im ambulanten Bereich haben. Spitäler versuchen, immer effizienter zu werden. Das heisst: Entweder Personal abbauen oder mehr Eingriffe machen. Beides wollen wir nicht. Das gleiche gilt für Hausärzte und Psychiater.
Wasserfallen: Da bin ich nicht einverstanden. Konsequenz deiner Forderung wäre eine Erhöhung der Tarife, was das Ganze noch teurer macht. Zuerst müssen wir unnötige Diagnosen, Medikationen und Eingriffe verhindern und Verbesserungen mit einem elektronischen Patientendossier erreichen. Der Umsatz der Spezialärzte hat sich in zehn Jahren verdoppelt, jener der Ärzte in der Grundversorgung blieb gleich. Wir haben also Fehlanreize. Da können wir nicht zuschauen. Es geht nicht, dass Pflegekräfte und Hausärzte leiden und die hochspezialisierte Medizin in diesem System gut lebt.
Pulver: Es stimmt nicht, dass die hochspezialisierte Medizin wie das Inselspital im System gut lebt. Wir schreiben Verluste, unter anderem deshalb, weil die Tarife nicht kostendeckend sind. Auch die Pflegekräfte leiden darunter, dass wir unterfinanziert sind. Das ist das Problem – für uns wie für Haus- und Kinderärzte oder die Psychiatrie. Diese Probleme rauben mir den Schlaf.
Warum genau?
Pulver: Die viel zitierte Überversorgung sehe ich nicht. Bei den Fehlanreizen hingegen bin ich einverstanden: Im ambulanten Bereich decken die Tarife unsere Kosten nur zu 80 Prozent, wir verlieren im ambulanten Bereich rund 40 Millionen Franken pro Jahr. Für die Insel müsste das eigentlich heissen: Hände weg vom ambulanten Geschäft. Das wäre aber völlig falsch – wer soll denn die fast eine Million ambulante Konsultationen in unserem Kanton sonst leisten? Man müsste den Mut haben, die Tarife zu erhöhen, damit eine Umlagerung stattfindet.
Wasserfallen: Ich bin Präsidentin der Patientenstellen Schweiz. Da erhalten wir viele Fragen zu Rechnungen und können mit unseren Beratungen Kosten einsparen, weil oft zu viel berechnet wurde.
Pulver: Sicher gibt es auch mal Fehler bei Spitalrechnungen. Aber es wird auch nicht selten vergessen, eine erbrachte Teilleistung aufzuführen – da reklamiert dann niemand.
Die Insel-Gruppe schloss kürzlich die Spitäler Münsingen und Tiefenau. War das ein guter Entscheid, Frau Wasserfallen?
Wasserfallen: Das wird Verwaltungsratspräsident Bernhard Pulver sicher gut begründen können. Es war wohl ein ökonomischer Entscheid. Er zeigt einfach, dass die Grundversorgung im aktuellen System unter die Räder kommt. Wir wollen nun im Parlament erreichen, dass in der Grundversorgung – wie einer Notfallstation eines Spitals – gewisse Leistungen aus der öffentlichen Hand besser finanziert werden. So hätte vielleicht Münsingen nicht schliessen müssen.
Pulver: Hätten wir die beiden Spitäler nicht geschlossen, würden im Wahlkampf wohl alle sagen, wir hätten zu viele Spitäler in der Schweiz. Nun sagt das niemand mehr – denn für solche Entscheide erhält man keinen Applaus. Wieso mussten wir das machen, auch wenn uns dieser Entscheid sehr schwer gefallen ist: Wir haben zu wenig Fachkräfte. Daher müssen wir die Mitarbeitenden konzentriert und effizient an weniger Standorten einsetzen. Das war das Hauptargument für die Schliessungen. Zudem hätte man im Tiefenau neu bauen müssen. Auch das Spital Münsingen ist nicht zwingend nötig. Die Schliessung tat mir wirklich leid. Aber man kann ein Spital mit 35 Betten so nicht kostendeckend betreiben.
Wollen Sie die Armee abschaffen?
Wasserfallen: Nein / Pulver: Ja
Wollen Sie der EU beitreten?
Wasserfallen: Ja / Pulver: Ja
Soll die Einkommensteuer erhöht werden?
Wasserfallen: Nein / Pulver: Nein
Soll der Bund in offiziellen Dokumenten gendern?
Wasserfallen: Ja / Pulver: Ja
Soll die Regierung zu 9 Bundesrät*innen reformiert werden?
Wasserfallen: Ja / Pulver: Ja
Soll das Ausländerwahlrecht auf kommunaler Ebene eingeführt werden?
Wasserfallen: Ja / Pulver: Ja
Soll der Konsum von Kokain legalisiert werden?
Wasserfallen: Nein / Pulver: eher Nein
Sollen neue Atomkraftwerke ermöglicht werden?
Wasserfallen: Nein / Pulver: Nein
Sind Sie für ein Verbot von Einwegplastik?
Wasserfallen: Ja / Pulver: Ja
Soll automatische Gesichtserkennung im öffentlichen Raum verboten werden?
Wasserfallen: Ja / Pulver: Ja
Wechseln wir zum Thema Klima. Sind Sie für eine Flugticketabgabe? Oder für ein Verbot von Kurzstreckenflügen?
Wasserfallen: Wir waren schon immer für eine Flugticketabgabe. Das bin ich auch noch heute. Wir nehmen im Parlament einen neuen Anlauf dafür, wo die Mehrheiten dafür gut aussehen.
Ein Verbot von Kurzstreckenflügen finden Sie nicht angebracht?
Wasserfallen: Ich würde eher die Alternativen verbessern als Flüge verbieten. Zum Beispiel die Nachtzüge ausbauen. Es ist absurd zu sehen, wie spottbillig Europaflüge in viele Städte sind im Vergleich zur Fahrt mit dem Zug.
Herr Pulver, wie stehen Sie zu Flugticketabgabe und Kurzstreckenflugverbot?
Pulver: Ich reise oft mit dem Zug nach Barcelona. Vor 40 Jahren stieg ich einmal um bei elfeinhalb Stunden Reisezeit. Inzwischen hat man Milliardenbeträge in Hochgeschwindigkeitstrassen investiert, nun dauert die gleiche Verbindung zwar zehneinhalb Stunden, aber man steigt drei- oder viermal um. Fernreisen mit dem Zug müssen einfach attraktiver werden.
Und Fliegen unattraktiver?
Pulver: Der erste Versuch des CO2-Gesetzes enthielt eine Flugticketabgabe, es wurde wohl unter anderem deswegen abgelehnt. Ich war immer für eine Steuerung über die Preise und war ein Mitautor der Initiative «Energie statt Arbeit besteuern». Die Bevölkerung ist aber kritisch zu Lenkungsabgaben. Ich habe dafür ein gewisses Verständnis: Die Reichen mit dem ohnehin grösseren ökologischen Fussabdruck können sich dann Flüge immer noch leisten, aber Menschen mit wenig Geld, die sich mal einen Flug nach Mallorca gönnen oder nach Bilbao, nicht mehr. Da kann sich ein Ungerechtigkeitsgefühl breit machen. Mit Lenkungsabgaben allein schaffen wir den Green Change wohl nicht mehr. Es braucht wohl auch klare Regeln, und das heisst auch Verbote.
Können wir alle weiterfliegen und konsumieren wie bisher?
Wasserfallen: Wer ist wir? In einer Studie ist kürzlich gezeigt worden, dass ein Superreicher den gleichen ökologischen Fussabdruck hat wie eine Million Menschen. Wir müssen aufpassen, wen wir treffen mit welcher Massnahme. Die Klimawende, die wir jetzt umsetzen, muss sozialverträglich sein. Ich halte nichts davon, den Leuten ein schlechtes Gewissen zu machen und Verbote aufzuzwingen, wenn wir sehen, dass wir ungenutzte wirksame Hebel hätten.
Welches ist der wirksamste Hebel?
Wasserfallen: Sicher der Finanzplatz, den wir klimaneutral ausrichten müssen. Individuelle Verhaltensänderungen sind gut und nötig. Aber es ist zwingend, dass die Schweiz etwa die heutigen Milliardeninvestitionen in fossile Energien unterbindet. Wirksam ist auch die Klimafondsinitiative, die wir zusammen mit den Grünen lanciert haben. Sie verlangt eine ökologische Investitionsoffensive der öffentlichen Hand. Da gibt es vielleicht eine Differenz zur Solarinitiative der Grünen. Ich finde es nicht sinnvoll, eine Solarpflicht für jedes Dach einzuführen. Das geht zu lange und ist zu teuer. Man muss die wirksamen Anlagen bauen, dazu gehören auch Freiflächenanlagen.
Pulver: Die grüne Solarinitiative will Photovoltaik auf geeigneten Flächen, nicht auf allen. Kürzlich fragte mich an einer Veranstaltung jemand: Braucht es nicht einfach Verzicht? Ich finde Verzicht ein schwieriges Wort. Wenn man von einer alleinerziehenden Person mit drei Kindern und wenig Geld verlangt, du musst verzichten, ist das nicht nur ungerecht, sondern diese Person hat ohnehin einen kleinen ökologischen Fussabdruck. Bei Reichen mit grossem Fussabdruck ist ein Verzicht viel eher zu verlangen.
Der Bund will die Autobahn im Grauholz auf acht Spuren ausbauen. Die Stadt Bern ist dagegen, der Kanton ist dafür. Was wollen Sie, Herr Pulver?
Pulver: Bei mir liegt die Priorität klar bei Klima und Umwelt. Es kann nicht sein, dass wir die Autobahnen jetzt noch ausbauen.
Wasserfallen: Das ist keine zukunftsgerichtete Planung. Wir müssen bei Grossvorhaben mehr Gewicht darauf legen, wie sich das Mobilitätsverhalten verändert und wie wir es steuern können. Und da macht ein Ausbau der Autobahnen überhaupt keinen Sinn, auch ökonomisch nicht.
«Ich persönlich versuche, mich so zu verhalten, wie ich es politisch einfordere.»
Flavia Wasserfallen
Kürzlich gab es eine heftige ethische Diskussion, weil ein «Klimakleber» auf einem Langstreckenflug in die Ferien nach Lateinamerika gesichtet wurde. Ist das verwerflich?
Wasserfallen: Ich zeige nicht moralisierend auf andere Menschen. Wenn man Leute stört, die zur Arbeit fahren oder mal in ein verdientes Wochenende, bringt das Ärger, der für die Sache nicht positiv ist. Ich persönlich versuche, mich so zu verhalten, wie ich es politisch einfordere. Aber wir alle leben mit Widersprüchen. Das gehört zum Leben.
Pulver: Für mich gehört zu nachhaltigen Lösungen, dass man die Leute einbezieht. Es kann nicht sein, dass man Lösungen erzwingt ausserhalb eines demokratisches Prozesses. So gesehen nützen uns die Klimakleber-Aktionen, wenn sie die Leute vor allem ärgern, nichts. Ich verlange nicht von jedem oder jeder Grünen, dass sie oder er nicht fliegt oder kein Fleisch ist. Aber wer Aktionen macht wie die Klimakleber, muss zulassen, dass hohe moralische Ansprüche an sie gestellt werden.
Hier geht es zu den bisher publizierten Artikeln zu den nationalen Wahlen am 22. Oktober 2023.
Dieses Jahr wird die Inflation höher sein als die Lohnerhöhungen, was zu einem Reallohnverlust führt. Die Ungleichheit nimmt zu. Was läuft schief?
Wasserfallen: Vieles. Ich bin besorgt, dass sich das Parlament nicht prioritär um die kaufkraftsteigernde Politik kümmert. Die Reform der AHV mündete in eine Rentenkürzung. Die Zuschläge, die man als so grosszügig anpries für die Frauen, werden nicht einmal der Teuerung angepasst. Wir haben den vollen Teuerungsausgleich bei der AHV nicht hingekriegt. Die Reform der zweiten Säule bedeutet, dass wir mehr einzahlen für weniger oder höchstens gleich viel Rente. Der Ständerat bremst bei der Verbilligung der Krankenkassenprämien. Bei den Mieten sind wir auf Abwehrkampf und versuchen an allen Fronten, die Aufweichung des Mieter*innenschutzes zu verhindern. Genau darum braucht es die Stärkung der ökologischen und sozialen Kräfte.
Pulver: In den letzten Jahrzehnten haben nicht alle Menschen in gleichem Mass profitiert von der wirtschaftlichen Entwicklung. Es gibt Menschen, die auf der Verlierer*innenseite stehen der ökonomischen Entwicklung. Es braucht jetzt, wo es mit der Inflation schwieriger wird, Schritte, die zeigen, wir vergessen euch nicht. Denn der ökonomische Druck auf die privaten Haushalte verhindert auch, die wirklichen Probleme anzupacken. Weil die Leute bei Klimaschutzmassnahmen Angst haben, es gehe wieder auf ihr Portemonnaie.
Redet man im bürgerlichen Ständerat an eine Wand bei diesen Themen?
Pulver: Das weiss ich nicht. Die Grünen Ständerät*innen sagen klar, dass man etwas verändern kann. Ich habe es persönlich als Regierungsrat erlebt, als ich gegen den anfänglichen Widerstand der Bürgerlichen eine Lohnentwicklung beim Staatspersonal durchgebracht habe. Ich bin auf die Gegner*innen und ihre Argumente zugegangen. So kann man schon etwas erreichen.
Halten Sie die Einführung einer Erbschaftssteuer für sinnvoll?
Wasserfallen: Ich habe erlebt, wie wir sie im Kanton Bern abgeschafft haben. Es hiess, wir sind in einem Steuerwettbewerb, deshalb sei die Abschaffung ganz wichtig. Heute sieht man, dass dem Staat dadurch Mittel entgehen für sinnvolle Dienstleistungen. Für die Standortstärkung des Kantons Bern hat sie überhaupt nichts gebracht. Ich bin klar für die Einführung der Erbschaftssteuer, es braucht wohl wieder einmal eine Volksinitiative.
Pulver: Es ist eine gerechte Steuer. Ich habe jüngst auch wieder bürgerliche Stimmen gehört, die das auch so sehen. Eine Erbschaftssteuer schwächt ja die Wirtschaft praktisch gar nicht. Ich habe schon den Eindruck, das bringt man wieder mal hin.
Beschäftigt Sie künstliche Intelligenz?
Pulver: Ich war kritisch, weil ich befürchtete, dass sie die Kreativität ausbremst. Gleichzeitig muss man sich des Fachkräftemangels bewusst sein, wir werden Effizienzsteigerungen brauchen. Wenn wir KI auch bei qualifizierten Arbeiten einsetzen können, kann uns das helfen, auch wieder mehr Menschen für die Bereiche zu gewinnen, wo wir Mangel an Arbeitskräften haben. Mehr als noch vor einem Jahr glaube ich, dass wir KI als Chance sehen müssen.
Wasserfallen: Ich muss zugeben, manchmal überfordert es mich, welche Herausforderungen KI an die Politik stellt. Selbst die, die sie entwickeln, warnen vor allfälligen Risiken. Und wir sind alle damit überfordert, schnell genug reagieren zu können, um Schutzbarrieren hochzuziehen, damit es nicht wieder zur Machtkonzentration und Proftimaximierung einzelner Medienkonzerne kommt.
Frau Wasserfallen, Sie würden im Ständerat die Stimme der Frauen verstärken, Sie Herr Pulver diejenige der LGBTQ-Community. Welche Stimme fehlt im Ständerat?
Wasserfallen: Beide. Der Ständerat hat, was Diversität betrifft, sehr viel Luft nach oben.
Pulver: Ich wäre die einzige Stimme der LGBTQ-Community. Es ist klar, es hat von beiden zu wenig.
Die Grünen lassen es im Moment offen, ob sie bei den Bundesratswahlen unter Umständen auch den Sitz der SP angreifen. Ärgert Sie das, Frau Wasserfallen?
Wasserfallen: Ja. Wir reden in diesem Gespräch darüber, was sich ändern muss, damit unser Land gerechter, sozialer und ökologischer wird. Das schaffen wir nur, wenn Rot-Grün stärker wird. Ich bin für einen grünen Sitz im Bundesrat, aber nicht auf Kosten der SP. Deshalb ärgert es mich, dass die strategische Option, die SP anzugreifen, von grünen Politikerinnen und Politikern vorangetrieben wird.
Sie waren in einer Regierung, Herr Pulver. Sollen die Grünen in den Bundesrat?
Pulver: Ja. Diese Stimme bringt Dynamik in die Regierung. Für mich müsste einer der beiden FDP-Sitze ersetzt werden, und da müsste man halt gemeinsam mit der SP auch mal einen Bisherigen angreifen. Aber ich bin einverstanden: Der grüne Sitz müsste die rot-grüne Seite verstärken.
Traditionell ist die Beteiligung bei eidgenössischen Wahlen tief. Vielleicht, weil Wahlen gar nicht so wichtig sind im Vergleich zu den Sachabstimmungen?
Pulver: Die Wahlen sind sehr wichtig. Es gibt so viele kleine Entscheidungen, die gar nicht zur Abstimmung kommen. Ich habe das als Regierungsrat erlebt. Ich fällte Hunderte von Entscheiden, die nicht einmal in die Regierung kamen. Deshalb kann die Wahl die ganze Stimmung und Ausrichtung einer Politik prägen.
«Am wichtigsten ist mir, dass die SVP nicht noch mehr Stimmen macht.»
Bernhard Pulver
Fast sicher wird es für die Besetzung der Berner Ständeratssitze zu einem zweiten Wahlgang kommen. Haben Sie dafür schon eine Strategie? Wer von Ihnen sich allenfalls zurückzieht?
Pulver: Nein. Es gibt zu viele Möglichkeiten und macht keinen Sinn, jetzt schon eine Strategie festzulegen. Wir treffen uns am Morgen nach der Wahl zur Lagebesprechung.
Wasserfallen: Und wir wählen auf jeden Fall keine Strategie, mit der der Kanton Bern Gefahr läuft, wieder eine ungeteilte bürgerliche Standesstimme zu haben.
Unter welchen Bedingungen werden Sie am Abend des 22. Oktober zufrieden sein?
Wasserfallen: Wenn Bernhard Pulver und ich beide vorne liegen. Und ich auch meine Wiederwahl in den Nationalrat geschafft habe.
Pulver: Am wichtigsten ist mir, dass die SVP nicht noch mehr Stimmen macht. Unabhängig von meinem persönlichen Resultat geht das Leben weiter, auch nach dem 22. Oktober.