Das Dorf der Zukunft
In Kirchdorf baut eine Gruppe von Städter*innen eigenhändig an ihrer Wohn-Utopie. In einer Scheune soll ein nachhaltiges Dorf entstehen.
Allein dafür lohnt sich alle Anstrengung.
Schier unendliche 42 Meter lang ist der Balkon. Von hier aus hat man freie Sicht auf die Alpen. Die Wintersonne scheint, der Ententeich ist zugefroren und glänzt im Schnee. Die Finger sind klamm. Es ist neun Uhr morgens, ganz kurz Musse, bevor es an die Arbeit geht. Die Freunde Äbu Liniger, Roman Droux und Martin Bichsel nippen am Kaffee, den sie sich direkt nach der Ankunft auf einer Herdplatte im ungeheizten und improvisierten Aufenthaltsraum gebraut haben.
Der Raum ist Teil der riesigen 350-jährigen Scheune am Rande Kirchdorfs, in der sich ein paar Freund*innen, die sonst in der Stadt Bern als Fotograf oder Lehrerin oder Filmemacher arbeiten, jeden Freitag treffen. Sie haben ihre Klappvelos dabei und 120-Liter-Abfallsäcke, gefüllt mit gebrauchten Korkzapfen. In Kiesen steigen sie aus dem Zug, klappen die Velos aus, fahren hoch Richtung Kirchdorf.
Treibende Kräfte sind Roman Droux und Annlis von Steiger. Das Paar überlegt seit sieben Jahren, was es mit einer der grössten Scheunen im Kanton anfangen könnte, die Annlis von Steiger geerbt hat. Ein gedeckter Campingplatz? Oder doch einfach Ställe? Es sind viele Optionen im Gespräch, bis die unterdessen rund zehnköpfige Gruppe entscheidet: Wir bauen ein ganzes Dorf in die Scheune. Eines mit verschiedenen Wohneinheiten, mit Gemeinschaftsräumen, sogar einer Piazza. Mit einem Bed & Breakfast-Angebot, Permakultur und einer eigenen Abwasseranlage. Seit letztem Sommer werden Freitag für Freitag vor Ort die Vorbereitungsarbeiten dafür getroffen.
Und seit wenigen Wochen haben sie es schwarz auf weiss, dass aus der Utopie Realität werden kann: Die Denkmalpflege ist einverstanden, die Scheune darf umgenutzt werden – hier, in diesem dreistöckigen Raum, wo früher mal Kühe und Pferde, aber auch Nasenbären, Lamas und sogar Kängurus gelebt haben, kann ein kleines Dorf entstehen. 30 bis 35 Betten sollen am Ende in verschiedenen Einheiten hier stehen. Das kann man sich gut vorstellen, ja, der Raum scheint so gross, dass auch mehr Schlafplätze denkbar wären. Alles in allem schätzt das Projektteam die Investitionskosten bis dahin auf 5 Millionen Franken. Pro Person sind 20m2 Wohnfläche geplant, dazu kommen viele Gemeinschaftsräume. Es soll bezahlbarer Wohnraum entstehen.
Zwei Betten sind bereits reserviert für Äbu Liniger und seine Partnerin. Er will in spätestens neun Jahren, dann, wenn die Kinder ausgezogen sind, hier in einem Tiny House leben. «Diese Aussicht», sagt er auf dem Balkon, «unbezahlbar».
Kaum angekommen, hat Liniger seine legere Strassenkleidung gegen robuste Arbeitskleidung getauscht. Die Sonne wärmt kaum, in der Nacht ist die Temperatur weit unter null Grad gefallen. Das kümmert ihn nicht. Liniger ist jeden Freitag hier, heute wird er alte Elektroleitungen herausreissen. Er, Mitgründer der Bar Barbière am Breitschplatz, von Haus aus Informatiker, nun jedoch Gastronom und Backoffice-Zuständiger, hat gemeinsam mit Freund*innen auch in der Stadt Bern mehrere Häuser umgebaut. Und weiss deshalb, dass die grösste Hürde der Papierkram ist. Der Kontakt mit den verschiedenen Ämtern und Interessenvertreter*innen, vor allem, wenn eine Liegenschaft denkmalgeschützt ist.
Vorderhand räumt er die Scheune. In diese ist in den letzten 50 Jahren viel hineingebaut worden, Ställe, zusätzliche Raumunterteilungen, nicht alles legal. Martin Bichsel hilft ihm. Die Sonne dringt durch die Fenster und Ritzen, doch richtig hell ist es nicht. «Der Einwand, dass es zu dunkel sei, kommt immer», sagt Liniger, «ich finde das ein bisschen bünzlig.»
Roman Droux winkt von draussen. Also ihm nach. Er stapft rund ums Haus durch den Schnee zum oberen Eingang der Scheune, da, wo früher das Heu eingefahren wurde. Er deutet hoch Richtung Dach. «Da kommen Solarpanels hin, halb durchsichtige», sagt er und unterstreicht das mit ausladenden Handbewegungen. Zudem sollen die grossen Scheunentore Richtung Süden verglast werden. «Da kommt viel Licht rein, vor allem auch im Winter.»
Kürzlich hat die Projektgruppe eine Firma gegründet, die Stalldrang GmbH, um bald auch Fachleute anstellen zu können, die für Lohn an der Vision mitarbeiten. Von Architekt*innen gibt es mehrere Vorstudien. Bei fünf Ämtern wurden Voranfragen eingereicht, alle wurden positiv beantwortet. Ausser die eine vom Amt für Abwasser. Der eigene Abwasserkreislauf stösst auf Ablehnung.
Das sei etwas, womit das Amt wohl keine Erfahrung habe, vermutet Droux. Es ärgert ihn ein bisschen, denn mit dem Projekt für einen geschlossenen Energie- und Stoffkreislauf zeigten sie ja schliesslich auf, wie Bauen in Zukunft gehen könnte. Noch gibt der Filmemacher, der auch schon bei einigen Umbauprojekten führend dabei war, die Hoffnung in dieser Sache nicht auf. «Ich bin überzeugt, dass Umwege die Ortskenntnisse erhöhen», sagt er. Wohl sei das auch sein Antrieb: Nicht den einfachsten Weg zu nehmen, dafür anderen Leuten den künftigen Weg zu ebnen.
Droux geht zurück zum Hauptraum der Scheune. Äbu Liniger trägt gerade ein grosses Kreuz davon, das er abgebaut hat. Solange keine Baubewilligung eingereicht und durchgekommen ist, sind die Vorarbeiten begrenzt. «Das ist nervig», sagt Äbu Liniger, «aber es ist halt so.» Bisher hat die Gruppe über 100’000 Franken aus der eigenen Tasche in das Projekt investiert, das meiste gab sie für Architekt*innen aus, nicht eingerechnet sind die zahllosen Arbeitsstunden, die gerade bei Roman Droux auch mal mehr als diesen einen Tag pro Woche belegen.
Zweifel daran, dass es klappen könnte, haben weder Liniger noch Droux. «Das Dorf wird entstehen – wir wissen einfach noch nicht, wie viele Kompromisse wir dafür eingehen müssen», sagt Droux. «Wir haben schon mehrere Umbauprojekte durchgezogen, darum ist auch den Leuten in unserem Umfeld klar, dass wir das machen werden», sagt Liniger.
Roman Droux schultert jetzt einen der Säcke mit Korkzapfen. Steil den Feldweg hinauf geht es zur alten Hühnerhalle, wo keine Mastpoulets mehr zu finden sind. Sondern ein grosses Gehege für Meerschweinchen, die den Nachbar*innen gehören, einige Baumaschinen und unzählige Säcke voller geschredderter Korkzapfen.
Hier soll das Baumaterial für die Wohneinheiten in der Scheune entstehen. Handgefertigte Steine aus Lehm und Kork, Materialien, die isolieren und als Abfallprodukte gelten. Bei einem eventuellen Rückbau der Wohneinheiten können sie wieder komplett der Natur zugeführt werden. Der Lehm stammt aus einer Belper Baugrube, die Korkzapfen wurden von der Gruppe gesammelt, es sind mittlerweile 6,5 Tonnen. Auf diese Idee hat sie der Berner Musiker Hansruedi Egli gebracht, der in der Vergangenheit schon mehrfach mit diesen Materialien pröbelte.
17’000 Steine benötigen die Wohn-Visionär*innen für den Bau, Dutzende davon sind bereits auf verschiedenen Gestellen in der Hühnerhalle abgelegt. Doch Roman Droux ist noch am Ausprobieren, um die perfekte Mischung hinzubekommen.
Gerade hievt er die neu mitgebrachten Korken in eine Schreddermaschine, es rattert und staubt. Die zu Granulat zerkleinerten Zapfen werden rausgeschüttelt, sie sind ganz warm. Es riecht intensiv nach Wein.
Gemeinsam mit dem pulversierten Lehm und Wasser wird Droux sie anschliessend in eine Form füllen. Der Stein muss nicht gebrannt werden, nur getrocknet, und trotzdem ist er formfest. Er ist jedoch nicht zertifiziert vom Schweizer Brandschutz – ein weiteres Problem, das es zu lösen gilt.
Wenn Droux von seinen Baumaterialien erzählt, kommt er richtig ins Feuer. Ein Teil des Holzes wird dieser Tage im zur Scheune gehörenden Wald geschlagen. Nicht irgendwann, sondern dann, wenn der Mond abnehmend ist. Das sogenannte Mondholz soll widerstandsfähiger und langlebiger sein. «Das haben Zimmerleute früher immer so gemacht», sagt Droux. «Man muss beim Bauen wieder in andere Richtungen gehen, Materialen und Techniken verwenden, die eigentlich auf der Hand liegen.»
Er ist zurückgekehrt in den kleinen Aufenthaltsraum. Kocht Wasser für einen wärmenden Tee. Noch ist viel zu tun. Neben den Bewilligungen sucht er weitere Mitdenker*innen, die freitags anpacken, die Teil des Projekts werden wollen – und das Tiny Dorf in der Scheune schliesslich beleben werden. In frühestens zweieinhalb Jahren könnte es laut Droux soweit sein.
Mehr Infos zum Projekt gibt es hier.