«Wir wollen mit dem Risiko leben»
In Kandersteg bedroht instabiler Fels Häuser der Einheimischen und Wanderwege für Tourist*innen. Ein Gespräch über Naturgefahren mit Gemeinderatspräsident René Maeder.
René Maeder steht im Foyer der Gemeindeverwaltung von Kandersteg. Er zeigt an einem Relief auf, wo der Berg rutscht. Das Modell stellt den Oeschinensee und das umliegende Gebirge dar, darunter die Gemeinde Kandersteg.
Am «Spitze Stei» südlich oberhalb des beliebten Ausflugsziels Oeschinensee bewegen sich gut 15 Millionen Kubikmeter Fels. Das hat mit dem Tauen des Permafrosts zu tun. Es droht ein verheerender Bergsturz, der Murgänge, Schutt und Schlammlawinen auslösen und so im schlimmsten Fall Teile des Dorfes verschütten könnte.
Das Thema betrifft nicht nur Einheimische. Sondern auch Städter*innen, die in den Bergen ihre Freizeit verbringen. Und weil immer mehr Bergregionen durch Naturgefahren bedroht sind und deren Schutz in Zukunft aufwändiger wird, betrifft der Umgang mit den Gefahren die ganze Gesellschaft.
Der Klimawandel verändert die Berner Alpen. Wie wir damit umgehen sollen, diskutieren wir am Hauptsachen-Talk vom 15. Oktober im Progr ab 20 Uhr auf der kleinen Bühne mit folgenden Expert*innen:
René Maeder, Gemeinderatspräsident von Kandersteg und Grossrat (Mitte)
Nils Hählen, Leiter Abteilung Naturgefahren Kanton Bern
Philippe Wäger, Leiter Hütten und Umwelt beim SAC
Barbara Keller, Projektleiterin der Ausstellung «Wenn Berge rutschen» im Museum Alps.
Wann der Berg beim «Spitze Stei» ins Tal donnern wird und in welchem Umfang, weiss niemand. Das Gebiet wird rund um die Uhr akribisch überwacht. Wöchentlich werden Updates zu den Rutschungen veröffentlicht. Mehrere Wanderwege und Gebiete sind dauerhaft gesperrt, eine Zufahrtsstrasse Richtung See wird aktuell neu gebaut.
Gemeinderatspräsident René Maeder führt in sein Büro und breitet eine tischgrosse Papierkarte aus. Sie unterteilt die Gemeinde in verschiedene Gefahrenzonen. Die (bisher provisorische) Karte hat die Gemeinde bei Naturgefahren-Expert*innen in Auftrag gegeben. Es müssen dabei die Vorgaben des Kantons eingehalten werden. Ein beträchtlicher Teil des Dorfzentrums befindet sich in der «roten Zone». Das Gebiet könnte verschüttet werden.
Die Konsequenz ist ein vom Kanton verordneter Baustopp im Perimeter. Dagegen wehren sich Anwohnende. Aktuell ist ein weiteres Gutachten in Arbeit. Ende Jahr soll die definitive Gefahrenkarte festgelegt werden. Am liebsten wäre es vielen Kandersteger*innen, wenn die «rote Zone» daraus ganz verschwände.
Der 71-jährige René Maeder hat 25 Jahre seines Lebens die Politik seines Heimatdorfes mitgestaltet: Zuerst als Gemeinderat und später ein erstes Mal als Kandersteger Gemeinderatspräsident. 2021 wurde er nach zehn Jahren Unterbruch wieder ins Amt gewählt. Dieses Jahr ist er zusätzlich für die Mitte ins Kantonsparlament nachgerutscht. Das Kandersteger Vier-Sterne-Hotel Doldenhorn, das er 44 Jahre lang geführt hatte, übergab Maeder vor drei Jahren an seinen Sohn.
Herr Maeder, das Haus, in dem wir sitzen, liegt in der «roten Zone». Was bedeutet das?
René Maeder: Im schlimmsten Fall wäre das Erdgeschoss mit Schutt gefüllt. Mir ist wichtig zu betonen: Es werden keine Felsbrocken auf das Dorf fallen, sondern es gibt höchstens Schutt und Murgänge. Dass sie bis hierher gelangen, stufen Experten als wenig wahrscheinlich ein. Und selbst wenn, bestünde kein Risiko für Mensch und Tier. Wir werden es garantiert 48 Stunden im Voraus wissen, wenn der Berg kommt. Wir könnten das Dorf evakuieren. Es gäbe also einen Materialschaden. Na und?
Naja, immerhin könnten grosse Teile des Dorfes, inklusive mehrere Hotels, ein Altersheim, ein Schulhaus und die Gemeindeverwaltung zerstört werden.
Wir wollen mit dem Risiko leben. Und das können wir auch. Solange niemand ums Leben kommt, muss ich sagen: Wir können wegen der kleinen Wahrscheinlichkeit, dass so etwas eintrifft, nicht das ganze Dorf lahmlegen. Sonst müssten jegliche Bergdörfer aufgegeben werden. Aber schauen Sie jetzt nach Blatten: Was macht die Bevölkerung? Sie baut das Dorf wieder auf!
Wie beschäftigt Sie denn der «Spitze Stei» im Alltag?
Indem ich in diesem Jahr schon 56 Interviews dazu gegeben habe. Die Medienarbeit braucht mich am meisten. Um das Fachliche kümmert sich die Gemeinderätin Sarah Loretan. Zusätzlich bin ich auch dafür zuständig, die Bevölkerung zu informieren. Das macht die Gemeinde Kandersteg sehr transparent, deshalb bekomme ich auch nur selten besorgte Anrufe aus dem Dorf.
Was bewegt die Leute im Dorf mehr: Die Gefahr des Bergsturzes oder der vom Kanton verhängte Baustopp?
Eindeutig der Baustopp. Stellen Sie sich vor, Sie möchten ein Hotel verkaufen, das in die Jahre gekommen ist. Weil der Baustopp gilt, darf man daran nichts mehr machen. So finden Sie nie einen Investor. Oder ein anderes Beispiel: Ein Vater vermacht der Tochter ein Haus und dem Sohn eine Parzelle Bauland. Plötzlich sind beide in der roten Zone – das Bauland wird wertlos. Wenn die Geschwister nicht gut miteinander auskommen, wird es sehr schwierig. Solche Konflikte gibt es im Dorf. Und ich sage es noch einmal: Mit dem Risiko können und wollen wir leben.
Ihrer Meinung nach müsste die Gemeinde autonomer über die Präventionsmassnahmen entscheiden können.
Ich bin der grösste Verfechter der Gemeindeautonomie. Die Gemeinden müssen immer mehr Aufgaben vom Kanton übernehmen. Wir müssen sie bezahlen und ausführen, aber bestimmen kann sie der Kanton. Zum Beispiel wollte er vorschreiben, wir müssten einen Plan machen, der aufzeigt, wo das Geschiebe im Fall des Bergsturzes deponiert werden könnte. Der Plan allein hätte 300'000 Franken gekostet, wovon die Gemeinde die Hälfte bezahlen sollte. Da weigerte ich mich.
Warum weigerten Sie sich?
Ich sagte: Wenn das Geschiebe irgendeinmal kommt, schauen wir, wo wir es hinbringen können. Das ist eine Notmassnahme. Ich plane doch jetzt nicht für so viel Geld etwas, was nur mit kleiner Wahrscheinlichkeit eintritt.
Die Überwachung des «Spitze Stei» kostet Bund und Kanton Bern jährlich insgesamt über eine Million Franken. Die Gemeinde Kandersteg bezahlt rund 100'000 Franken. Nur durch die ständige Überwachung kann auch die Sicherheit für Mensch und Tier garantiert werden. Das ist doch viel Geld, das Kanton und Bund hier für die Gemeindebevölkerung aufbringen?
Ja. Ich sage nicht, es sei zu wenig. Es kostet einfach viel, auch die Gemeinde, die zusätzliche Kosten wie Hochwasserschutz ausserdem selbst trägt. Trotzdem haben wir für 350'000 Franken einen neuen Gemeindehausplatz gebaut. Da sagten auch gewisse Personen aus dem Dorf: Warum soll man das im Gefahrengebiet noch machen? Ich finde es aber wichtig, ein Zeichen zu setzen, dass Kandersteg eine Zukunft hat. Es gibt junge Leute, die hier ein Geschäft gestartet haben. Wir müssen auch Optimismus vermitteln.
Hat der drohende Bergsturz eigentlich Auswirkungen auf den Tourismus?
Überhaupt keine. Das sagt auch Kandersteg Tourismus. Nach dem Bergsturz von Blatten gab es ein paar Anrufe, das ist alles.
In Blatten hat sich dieses Jahr gezeigt, wie der «worst case» aussehen könnte. In Kandersteg ist es sogar noch deutlich mehr Fels, der in die Tiefe stürzen könnte. Hat das Ereignis Ihre Sicht auf die Präventionsmassnahmen verändert? Machen Sie sich mehr Sorgen?
Kandersteg ist nicht direkt vergleichbar mit Blatten, weil das Dorf hier einen Kilometer weiter weg vom Felssturz liegt und auch kein Gletscher darunter liegt. Meine Sicht hat sich nicht verändert. Einzig habe ich mir vorgenommen, in Kandersteg einmal eine Eins-zu-eins-Evakuationsübung durchzuführen. In Blatten gab es Berichte von Leuten, die es bedauerten, dass sie ihr Fotoalbum vergessen hatten und Ähnliches. Solche Dinge kann man eher bedenken, wenn man das Szenario schon einmal geübt hat.
Dass der Berg beim «Spitze Stei» rutscht, hängt mit der Klimaerwärmung zusammen. Hat das Ihre Sicht auf den Klimawandel beeinflusst?
Das war nicht nötig. Mir ist schon lange bewusst, dass wir die Natur innerhalb einer Generation kaputtmachen. Das müssen wir gegenüber unseren Kindern verantworten. Aber mir ist das Thema bewusster geworden.
Sind Sie als Politiker grüner geworden?
Sie fragen mich Sachen. Wo fängt grün an? In der Gemeinde wurde teilweise schon länger grüne Politik betrieben, ohne sie so zu benennen. Zum Beispiel hat man die Kunsteisbahn und das Freibad auf dem Dach mit Solarzellen ausgestattet, aber vor allem, um Stromkosten zu sparen. Auch E-Autos werden in der Gemeinde gefördert. Wichtig ist, dass die Massnahmen für den Klimaschutz von allen getragen werden, und nicht stärker von der Landbevölkerung. Deshalb wurde in Kandersteg 2017 das nationale Energiegesetz abgelehnt: Weil die Benzinkosten erhöht werden sollten. Wir haben hier Leute, die ihre Kinder von der Alp zehn Kilometer in die Schule fahren müssen.
Wie wollen Sie als Grossrat die Bergregionen im Kantonsparlament vertreten?
Ich möchte die Rolle der Gebäudeversicherung (GVB) diskutieren, die dem Kanton Bern gehört. Man kann sich im Kanton Bern nicht privat versichern lassen, wenn die GVB eine Baumassnahme nicht mehr unterstützt. Im Wallis ist das möglich. Ausserdem muss die GVB ihre Solidarität wirklich ernst nehmen: Es ist nun mal so, dass jemand, der an einem ungefährdeten Ort im Mittelland lebt, mit seinen Prämien auch für die gefährdeten Bergregionen aufkommen muss.
Es wird mit zunehmender Klimaerwärmung immer mehr gefährdete Bergregionen geben. Wird deren Schutz schlicht immer teurer – oder was müsste man aus Ihrer Sicht tun?
Wir müssen damit leben. Dort, wo die Gefahr erkennbar ist, müssen wir Schutzmassnahmen ergreifen. Und wenn man weiss, dort kommt etwas runter, sollte man da sicher keinen Neubau hinstellen. Aber ich finde, Prävention darf auch ihre Grenzen haben. Ein gewisses Risiko können wir eingehen. Der «Spitze Stei» ist tatsächlich auch ein Legoland für die Wissenschaft. Es ist unglaublich, was hier alles gemacht wird. Diesen Umfang können wir uns sicher nicht in der ganzen Schweiz leisten.
Sie sind schon ihr ganzes Leben in Kandersteg. Diskutiert man im Dorf heute anders als früher über Naturgefahren?
Bundesrat Albert Rösti ist ja auch Kandersteger. Seine Mutter hat mir einmal erzählt, man habe schon über Rutsche am «Spitze Stei» gesprochen, als sie als junge Frau frisch in Kandersteg war. Aber jetzt ist die Diskussion natürlich eine andere – wie gesagt, habe ich dieses Jahr schon 56 Interviews dazu gegeben. Abgesehen davon hat sich nichts verändert. Naturgefahren waren schon immer ein Thema: Ich erinnere mich an eine Lawine, die an Silvester ein halbes Hotel fortgerissen hat. Und einmal fuhren wir wegen Hochwasser mit dem Boot durchs Dorf.
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