«Die Alpen werden unattraktiver»
Die Bergführerin Ariane Stäubli erzählt beim Wandern, wie die Klimaerwärmung ihre Arbeit verändert. Und warum sie ihrer Tochter trotzdem noch das Skifahren beibringen will.
In die Bächlitalhütte wandert man vom Grimselpass in zwei Stunden.
Auf dem Pass schufen Energiefirmen in der hochalpinen Umgebung eine Industrielandschaft mit Stauseen, Kraftwerkanlagen, Hochspannungsleitungen, einer stark befahrenen Strasse.
Vor der Hütte zerrt der Wind an einer Flagge des Schweizer Alpen-Clubs SAC. Von der Industrielandschaft ist nichts mehr zu sehen. Deshalb kommen die Leute. Wo noch niemand eingegriffen hat, dorthin wollen Bergsteiger*innen.
Nur gibt es das genau genommen nicht mehr: Orte, wo noch niemand eingegriffen hat.
Der Mensch hinterlässt immer mehr Spuren, auch da, wo er keine Staumauern baut. Und in den Bergen ist fast alles extremer als anderswo. Auch die Folgen des Klimawandels.
Geröll
Ariane Stäubli kommt am späten Nachmittag in der Hütte an. Die Bergführerin hat zwei Kundinnen von einem benachbarten Tal über eine Lücke, einen Gletscher hinunter und über ein Geröllfeld geführt. «Da war mehr Geröll, als ich es in Erinnerung hatte», sagt Stäubli. Eine Passage ist mit einer Leiter ausgerüstet. Die Leiter werde immer länger. «Vor nicht langer Zeit war dort noch Gletscher.»
Die beiden Frauen, die die Tour gebucht haben, übernachten hier. Ariane Stäubli steigt mit mir ab in Richtung Grimselpass.
«Tschau, ich muss gehen, noch über den Klimawandel sprechen!», ruft sie einer anderen Bergführerin zu, als wir die Hütte verlassen. Beide lachen. Ein paar Berufskolleg*innen dächten sicher, sie sei «eine grüne Tante», sagt Ariane Stäubli später.
Unter Bergführer*innen spreche man ungern über Politisches. Worte wie «Klimakrise» würden beim Nachtessen in Berghütten nicht fallen.
Aber wie sich die Alpen verändern, darüber spreche man die ganze Zeit – notgedrungen. Denn mit den Bergen wandelt sich auch der Bergsport.
Gletscher schmelzen, Permafrost taut. Nach dem letztjährigen wird auch dieser Sommer laut Gletscherforscher*innen mit seinem massiven Eisverlust in die Geschichte eingehen.
Das ist nicht nur ein ökologisches Problem, es ist auch gefährlich: Wo man früher problemlos auf Schnee und Eis gehen konnte, muss man sich heute den Weg durch lose Geröllfelder suchen. Der Fels wird brüchiger, es gibt mehr Steinschlag, mehr Blankeis, die verbliebenen Gletscher apern stärker aus und dort, wo sie sich zurückgezogen haben, erscheinen glatte, haltlose Gletscherschliffplatten. Alles Dinge, die Unfälle begünstigen.
Vor allem aber beschäftige sie, wie rapide sich das Gelände verändere, sagt Ariane Stäubli.
Das begleitet sie in ihrem Alltag. Zum Beispiel, als sie mit einer Freundin eine Überschreitung im Bergell unternahm, die nicht besonders anspruchsvoll sein sollte. Die Tour sei haarsträubend gewesen, sagt sie. Sie mussten sich abseilen an Orten, wo sie es nicht erwartet hätten, liessen Schlingen und Reepschnüre im Gelände zurück, um heil wieder herunterzukommen. Später sagte ihnen ein Hüttenwart: «Di Tour macht me hüt dänk nümm.»
Früher habe man sich auf viele Tourenbeschreibungen jahrelang verlassen können, sagt Ariane Stäubli. «Heute ist alles viel kurzlebiger.» Man müsse sich ständig über die aktuellen Verhältnisse informieren. Manche Routen verändern sich innerhalb eines Sommers so stark, dass sie plötzlich brandgefährlich sein können. Sie zu begehen, ohne vorher bei Kolleg*innen, in Hütten, im Internet möglichst genaue Auskünfte einzuholen, wäre als Bergführerin fahrlässig, sagt sie.
«Es sind nicht neue Begebenheiten, die wir uns einmal merken können, und die dann so bleiben», sagt Stäubli. Die Verhältnisse in den Bergen seien unberechenbarer geworden.
Wenn Ariane Stäubli von «früher» spricht, dann meint sie höchstens 20 Jahre Vergangenheit. Sie ist 37 Jahre alt.
«Für den Bergsport werden die Alpen unattraktiver», sagt sie. Und ihr Beruf wird anspruchsvoller.
Schwemmebene
Der Bächlisboden ist atemberaubend. Weil sich ein Gletscher vor langer Zeit aus dem Tal zurückgezogen hat, entstand eine Schwemmebene. Zaghafte Vegetation hat sich zwischen einem Geflecht aus Gletscherbächen angesiedelt. Im stehenden Wasser schwänzeln Kaulquappen. Ein paar Wanderer*innen legen Sonnencreme nach. Wir überqueren das Naturspektakel.
«So etwas Schönes kann mit der Zeit auch entstehen, wenn sich die Bergwelt verändert», sagt Ariane Stäubli. «Sofern man keinen Stausee baut.»
Sie findet, dass die Infrastruktur nicht noch mehr in die Berge vordringen soll. In den Siedlungsgebieten sei noch nicht genug für die Energiewende getan, es fehlten Solarzellen auf Dächern und über Autobahnen, wir sollten Heizungen verbessern und unseren Energiekonsum verringern. Hauptberuflich arbeitet Ariane Stäubli als Umweltingenieurin. Sie beschäftigt sich mit der Verwertung von Abfall. Den Beruf findet sie sinnvoll, aber ihre Herzensangelegenheit ist das Bergführen.
Einfach Gletscher
Es ist die scheinbar unberührte Natur, die Bergsteiger*innen fasziniert. Und in die sie mit der eigenen Präsenz selbst eingreifen: Auch der Bergsport treibt den Klimawandel an.
Ariane Stäubli reist mit dem öffentlichen Verkehr in die Berge. Sie erzählt, wie sie ihre Kundschaft überzeugt, das auch zu tun. Von Pässen hinunter ins Tal gelangt sie oft per Autostopp. Sie bucht für ihre Gruppen ungefragt vegetarische Menus – wer Fleisch will, muss sich melden. Sie benützt ihre Daunenjacken so lange, bis sie mit Flicken übersät sind. Einmal hat sie eine Expedition auf den Kilimandscharo geleitet, in zwei Wochen nach Tansania und zurück. Das würde sie heute nicht mehr tun, sagt sie. Und in den SAC-Hütten, findet sie, würde auch eine Sorte Wein im Angebot reichen, «und der Rest trinkt halt Tee».
Aber eine «frustrierte Aktivistin», das will Ariane Stäubli nicht sein.
Da würde sie irgendwann durchdrehen, sagt sie, und damit wäre auch niemandem geholfen. Das Wort «positiv» braucht sie ständig, wenn sie über ihre Werte spricht: Einen positiven Zugang, eine positive Klimabewegung, eine positive Art, die die Leute hoffentlich mitnimmt.
«Ich finde, wir sollen auch Spass haben dürfen», sagt Stäubli, die einmal bei einem Unfall in den Bergen fast ums Leben gekommen wäre. Sie war mit den Ski abgerutscht, 500 Meter durch ein Couloir, bevor sie schwer verletzt liegen blieb.
Sie ist überzeugt, dass es die Menschen verändert, wenn sie ihnen die Gletscher zeigt. Wer die Natur zu lieben lernt, glaubt Stäubli, will sie auch schützen. Deshalb führt sie für die Nichtregierungsorganisation «Protect our Winters» auch mal eine Gruppe Parlamentarier*innen auf eine Skitour aus, zeigt ihnen, wie sich die Alpen verändern und spricht dabei über Klimapolitik. Eine Kehrtwende könne nur auf politischem Weg erreicht werden, sagt sie.
«Meinen gewöhnlichen Gäst*innen sage ich, sie sollen abstimmen gehen, wenn es um Klimafragen geht», sagt Stäubli. Denn die Gletscher seien für die Kundschaft ein Magnet. Wenn die Bergführerin fragt, was sie sich für eine Hochtour wünschen, sagen die meisten: «Egal welcher Gipfel, einfach Gletscher.»
Und wenn Ariane Stäubli ihnen mitteilen muss, dieser und jener Gletscher sei heute nicht mehr begehbar, lasse das niemanden kalt. Viele, erzählt Stäubli, antworteten dann: «Wie schade. Aber was wollen wir als kleine Schweiz schon dagegen tun?»
Klettern im Winter
Ariane Stäubli kennt einen Bergführer, der seinen Beruf an den Nagel gehängt hat. Er findet, das Bergsteigen sei zu gefährlich geworden. Er ist aber eine grosse Ausnahme.
Die meisten, sagt Stäubli, seien lieber nostalgisch als verbittert: Früher konnten wir die Ski schon hier anziehen. Sinerziit sind wir da noch hochgeklettert.
Und sie selbst?
«Ich finde, wir müssen positiv bleiben.»
Man könne in den Bergen nach wie vor «einen Haufen tolle Touren» unternehmen. Ihrer kleinen Tochter will Stäubli, die an der Lenk aufgewachsen ist, das Skifahren auf jeden Fall beibringen. Dafür würde sie sogar den Skilift benutzen, den sie sonst meidet, weil sie lieber mit den Tourenski den Berg hochsteigt.
Sie sagt dazu: «Manchmal kann man auch probieren, ein bisschen im Moment zu leben. Und wenn es irgendwann fertig ist, machen wir halt etwas anderes. Klettern im Winter zum Beispiel.»
Heidelbeeren
Wir steigen eine steile Treppe hinab. Die Passstrasse ist wieder sicht- und hörbar. Eine Baustelle wummert: Die Grimsel-Staumauer wird erneuert.
«Zu erleben, wie sich die Alpen verändern, zeigt mir auch auf, wie klein der Mensch ist», sagt Ariane Stäubli. «Wenn wir in dieser wahnsinnigen Wildnis unterwegs sind, dann sind wir sehr verletzlich. Obwohl wir auch selbst die Veränderungen herbeiführen.»
Wir pflücken wilde Heidelbeeren. Die würden vielleicht aromatischer, wenn es wärmer wird in den Alpen, mutmasst Ariane Stäubli. Irgendetwas ist immer positiv.