Unsichtbare Arbeit

55 Stunden für 3'300 Franken

In einer preisgekrönten Fotoserie zeigt Journalist Klaus Petrus die unsichtbare Arbeit von Erntehelfer*innen. Die «Hauptstadt» hat ihn zum Gespräch getroffen.

Bern, 15. August 2024- Klaus Petrus, Philosoph, Journalist, Fotograf, Redaktor Strassenmagazin Surprise. © Annette Boutellier
Klaus Petrus weiss, was viele Erntehelfer*innen beschäftigt. (Bild: Annette Boutellier)

Jedes Jahr arbeiten rund 30’000 Erntehelfer*innen in der Schweiz. Die meisten von ihnen kommen aus Ländern wie Spanien, Portugal, Polen, Tschechien, Rumänien, Bulgarien und Mazedonien. Um die 55 Stunden arbeiten sie pro Woche und verdienen rund 3’300 Franken pro Monat – wovon ihnen oft noch ein Betrag für Essen und Unterkunft abgezogen wird.

Der Journalist Klaus Petrus hat sich vertieft mit dem Leben von Erntehelfer*innen im Seeland beschäftigt. Daraus resultieren mehrere Artikel sowie eine Fotoarbeit, die 2023 mit einem Swiss Press Photo Award ausgezeichnet worden ist.

«Die Unsichtbaren» nennt Klaus Petrus die Fotoserie. Das passt zum «Hauptstadt»-Schwerpunkt über unsichtbare Arbeit. Die «Hauptstadt» hat Klaus Petrus zum Gespräch getroffen, um zu erfahren, wie die unsichtbare Arbeit in der Landwirtschaft aussieht. Im Artikel sind auch Bilder aus Petrus' Fotoserie zu sehen.

Warum interessieren Sie sich für Erntehelfer*innen?

Ich wusste, dass in der Schweizer Landwirtschaft zehntausende Ernterhelfer*innen tätig sind. Da ich in Biel wohne und öfter im Seeland mit seinen grossen Ackerflächen unterwegs bin, habe ich mich gewundert, wo diese Leute eigentlich sind. Ich fragte in meinem Umfeld, ob jemand Kontakt zu Erntehelfer*innen hat. Das war nicht der Fall. Das spornte mich zur Recherche an.

Wie haben Sie die Betriebe gefunden, auf denen Sie recherchiert haben?

Ich habe mehrere Bauern angefragt und mich dann auf zwei fokussiert. Die Arbeitsbedingungen und die Verträge mit den Detailhändlern gleichen sich bei den meisten Betrieben. Von Anfang an habe ich klar gemacht, dass es mir nicht um ein Bauern-Bashing geht. Sondern um die Strukturen in der Branche. So konnte ich das Vertrauen der Bauern gewinnen.

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In seiner Fotoserie will Klaus Petrus die Unsichtbarkeit sichtbar machen. (Bild: Klaus Petrus)

Was haben Sie in den Interviews mit den Erntehelfer*innen erfahren?

Es waren eher Gespräche als Interviews. Etwa mit zehn Personen hatte ich über längere Zeit Kontakt und habe immer wieder mit ihnen gesprochen. Fast alle haben darüber geredet, wie hart die Arbeit sei. Also lange Arbeitstage und körperlich anstrengend. Einige haben auch geklagt, dass die Bauern unfreundlich seien und sie herumkommandieren würden.

Haben Sie die Bauern mit diesem Vorwurf konfrontiert?

Sie meinten, das sei teilweise ein Missverständnis: Weil die Erntehelfer*innen kein oder wenig Deutsch sprechen, die Bauern aber in Deutsch die Anweisungen geben, könne das ruppig klingen. Sie würden dann eher in einem Befehlston kommunizieren: «Geh hier hin! Mach das!»

Von welchen weiteren Sorgen haben die Erntehelfer*innen in den Gesprächen berichtet?

Viele berichteten von Einsamkeit und Isolation. Nach der Arbeit sind die meisten zu müde, um noch etwas zu unternehmen. Zum Beispiel, um die Dorfbeiz zu besuchen. Wobei dort auch sprachliche Hürden bestehen. Wie auch untereinander: Durch die unterschiedlichen Herkünfte sprechen nicht alle Erntehelfer*innen auf einem Hof die gleiche Sprache.

Erntehelfer Kamil aus Polen, den Sie für das Strassenmagazin Surprise porträtiert haben, erzählt, dass er sich von seiner Familie entfremdet fühlt.

Ja, auch das haben viele erzählt. Sie können zwar mit ihrer Familie telefonieren. Doch zu berichten haben sie wenig. Bei ihm drehe sich alles um Kartoffeln und Karotten, erzählte mir ein Erntehelfer. Darum wisse er gar nicht, worüber er mit seiner Frau und seiner Tochter reden solle.

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Die Schwarz-Weiss-Fotos sind ein Gegenbild zu den farbigen Kampagnen der Grossverteiler. (Bild: Klaus Petrus)

Angenommen, ich bin eine Bäuerin und möchte Erntehelfer*innen einstellen. Wie gehe ich vor?

Der Schweizerische Bauernverband schaltet regelmässig Inserate. Auch auf europäischer Ebene gibt es grosse Jobbörsen. Manchmal reisen Scouts in Länder wie zum Beispiel Polen, um vor Ort Arbeitskräfte zu finden. Naheliegend wäre aber auch, andere Bäuer*innen nach Kontakten zu fragen. Oft läuft die Rekrutierung über familiäre Netzwerke: Erntehelfer*innen bringen dann ihre Söhne, Cousins oder Onkel mit.

Das klingt danach, als ob das Verhältnis zwischen Erntehelfer*innen und Bäuer*innen nicht überall allzu schlecht ist.

Meine Beobachtungen sind nicht repräsentativ, aber ich habe festgestellt, dass viele Erntehelfer*innen über mehrere Jahre auf dem gleichen Betrieb arbeiten. Da scheint, wenn man das so nennen willl, eine gegenseitige Zufriedenheit vorhanden zu sein.

Das zumindest teilweise gute Verhältnis spiegelt sich aber nicht in den Löhnen, die die Bäuer*innen den Erntehelfer*innen bezahlen.

Das ist auch ein strukturelles Problem. Die Bäuer*innen selbst sind oft nicht reich und müssen schauen, wie sie über die Runden kommen. Eine Studie aus Österreich zeigt: 80 Cent kosten Radieschen im Supermarkt, davon gehen 50 Cent an die Grossverteiler, 30 an die Bäuer*innen – und 3 an die Erntehelfer*innen. Nötig wäre, dass die Grossverteiler ihre Marge senken oder die Konsument*innen bereit wären, höhere Preise für die Lebensmittel zu bezahlen – sofern sie es sich überhaupt leisten können.

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Spuren von Menschen sind da, doch die Menschen selbst fehlen. So entstehe ein Vakuum, erklärt Klaus Petrus. (Bild: Klaus Petrus)

Was können Konsument*innen ausrichten, um die Arbeitsbedingungen der Erntehelfer*innen zu verbessern?

Meinen – wie gesagt nicht repräsentativen – Beobachtungen zufolge, gleichen sich die Arbeitsbedingungen auf Höfen, die konventionell oder biologisch produzieren. Und meines Wissens gibt es in der Schweiz auch kein Label, das faire Arbeitsbedingungen für Erntehelfer*innen auszeichnet. Wichtig ist daher schon mal, überhaupt über das Thema zu sprechen und so ein Bewusstsein zu schaffen.

Hauptstadt Fahne beim Xenia fotografiert am Donnerstag, 22. August 2024 in Bern. (hauptstadt.be / Simon Boschi)
Die «Hauptstadt» bei Xenia

Vom 19. bis 23. August hat die «Hauptstadt» ihre Redaktion ins Mattequartier verlegt: Sie war zu Gast bei der Fachstelle für Sexarbeit Xenia, die heuer vierzig Jahre alt wird.

Aus diesem Anlass beschäftigen wir uns mit Formen von unsichtbarer Arbeit: Arbeit, deren gesellschaftlicher Wert grösser ist als ihre Anerkennung in Form von Lohn, Sichtbarkeit oder Ansehen. Mit verschiedenen Beiträgen nehmen wir Sexarbeit, Erntehilfe, freiwillige Betreuung von Angehörigen oder die Arbeit in einer Kita unter die Lupe.

Hier geht es zum thematischen Schwerpunkt.

Auf politischer Ebene hat das Kollektiv «Widerstand am Tellerrand» vor drei Jahren in einer Petition gefordert, die Arbeitszeit auf 45 Stunden pro Woche zu begrenzen und einen Mindestlohn von 4’000 Franken einzuführen. In seiner Antwort darauf lehnt der Berner Regierungsrat Massnahmen zugunsten der Erntehelfer*innen ab. Und auch die Betroffenen selbst scheinen nicht gänzlich hinter der Petitionsforderung zu stehen: Wie Sie in einem Artikel schreiben, fürchten sie um ihre Jobs, wenn die Löhne steigen würden.

Genau, sie haben die Befürchtung, dass dann Schweizer*innen ihnen die Jobs wegnehmen würden. Das habe ich immer wieder von Erntehelfer*innen gehört. Ich weiss allerdings nicht, ob Schweizer*innen für 4’000 Franken 45 Stunden arbeiten würden. Als während der Corona-Pandemie Grenzen geschlossen waren, konnten die Erntehelfer*innen nicht einreisen. Schweizer*innen übernahmen ihre Jobs. Doch die meisten blieben nicht lange, weil die Arbeit so hart ist – und eben schlecht bezahlt.

Die Bilder Ihrer Fotoserie zeigen Felder und Kulturen, aber keine Menschen. Warum bleiben die Erntehelfer*innen unsichtbar?

Es wäre naheliegend gewesen, Unsichtbares sichtbar zu machen. Ich wollte aber gerade die Unsichtbarkeit darstellen. Und ein Gegenbild entwerfen zu den Kampagnen der Grossverteiler: Deren Plakate zeigen strahlende Bäuer*innen und sind farbig und sonnendurchflutet. Sie zielen darauf ab, eine Nähe zwischen Produzent*innen und Konsument*innen herzustellen. Doch zwischen den Erntehelfer*innen und den Konsument*innen liegt ein weiter Weg. Auf meinen schwarz-weissen, bewusst unscharfen Bildern, sieht man zwar, dass Arbeit verrichtet worden ist. Weil man aber nicht sieht, wer sie erledigt hat, entsteht ein Vakuum.

Bern, 15. August 2024- Klaus Petrus, Philosoph, Journalist, Fotograf, Redaktor Strassenmagazin Surprise. © Annette Boutellier
Klaus Petrus interessiert sich für die Mechanismen, wie bestimmte Lebenswelten unsichtbar gemacht werden. (Bild: Annette Boutellier)

Viele Ihrer Texte beschäftigen sich mit Migration, Armut, Obdachlosigkeit oder Sucht. Was reizt Sie an diesen unsichtbaren Lebenswelten?

Mich interessiert: Warum macht man etwas unsichtbar und wie geht man dabei vor? Die Mechanismen dahinter zu verstehen, finde ich spannend, denn meist wird etwas unsichtbar gemacht, weil es unbequem ist, stört oder Probleme macht. Die Drogensüchtigen und Obdachlosen an unseren Bahnhöfen zum Beispiel stören. Doch man kann sie nicht einfach einsammeln und wegverfrachten, das wäre inzwischen zum Glück politisch wie gesellschaftlich undenkbar. Also muss es subtiler passieren. Indem man zum Beispiel Bänke so umgestaltet, dass man nicht mehr darauf liegen oder übernachten kann.

Welchen Unsichtbarkeits-Mechanismus haben Sie in der Landwirtschaft beobachtet?

Zum einen die Werbung der Grossverteiler: Wie bereits erwähnt, sind darauf Bäuer*innen in einer anscheinend heilen Welt abgebildet. Den Konsument*innen wird nach wie vor ein Heidiland vorgegaukelt. Auf meinen Besuchen auf Betrieben ist mir auch die Architektur aufgefallen: Von aussen ist selten sichtbar, dass dort Erntehelfer*innen wohnen. Ihre Container stehen meist hinter dem schmucken Bauernhaus, das von der Strasse aus zu sehen ist. Wer ihnen begegnen will, muss dahinter schauen.

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