ESC – Stadtrat-Brief #34
Sitzung vom 4. Juli 2024 – die Themen: Eurovision Song Contest; vegetarisch essen; Mehrweggeschirr; Rücktritte; Sommerpause.
Nemos Sieg am diesjährigen Eurovision Song Contest (ESC) treibt nun auch die Politik in den Schweizer Städten um. Denn nach dem ESC ist vor dem ESC, und Nemo hat mit dem Sieg dafür gesorgt, dass der grösste Musikwettbewerb der Welt im Mai 2025 in der Schweiz stattfinden wird. Aber in welcher Stadt?
Das wird die SRG als Veranstalterin bis Ende August entscheiden. Das Rennen um den Mega-Anlass ist lanciert. Neben Genf, Zürich und Basel bewerben sich Bern und Biel gemeinsam um die Austragung. Das haben die Regierungen der beiden Städte Ende Juni bekanntgegeben. Die Kantonsregierung will die Kandidatur mit knapp 30 Millionen Franken unterstützen. Der Berner Gemeinderat will sich mit 7 Millionen Franken beteiligen, sollten Bern und Biel das Rennen gewinnen.
Über diesen Kredit musste gestern Abend der Stadtrat entscheiden. Die Debatte war emotional. Begeisterung für den ESC in Bern bringen von rechts bis links längst nicht alle Parlamentarier*innen auf. Vorbehalte kamen aus fast allen politischen Lagern, mit unterschiedlichen Begründungen.
Die SVP sowie Simone Machado (GaP) beantragten, auf die Vorlage sei nicht einzutreten. Die Kandidatur sei zu teuer, ohnehin chancenlos und Bern könne den Anlass nicht stemmen, so ihre Einwände. Sie kündigten bereits ein Referendum gegen den Kredit an. Gleiches tat auf kantonaler Ebene die SVP gemeinsam mit der EDU.
Ähnliche Zweifel äusserten Mitglieder von GFL und GLP: Der ESC sei einfach eine «zu grosse Kiste» für Bern, sagte Yasmin Abdullahi (JGLP). Man befürchtete Kinderkrankheiten und Verzögerungen beim Bau der neuen Festhalle im Wankdorf, die als Austragungsort erst kurz vor dem Event fertiggestellt würde. Auch Sicherheitsbedenken und Sorgen über zu wenige Hotelzimmer wurden laut. Michael Ruefer (GFL) sah bei der Kandidatur den «Grössenwahnsinn» ausgebrochen.
Juso und JA befürchteten zudem «Rainbow Washing» beim vorgeblich LGBTQ-freundlichen Anlass. Sinnvoller seien tatsächliche Massnahmen für eine queer-freundliche Stadt. Ausserdem sei das Event aus «Nachhaltigkeitsperspektive für die links-grüne Stadt nicht vertretbar», sagte Anna Jegher (JA). Auch die AL/PdA-Fraktion lehnte den «hyperkommerziellen» Anlass ab, bei dem alle mit dem Flugzeug anreisten und viel Abfall generierten.
Diese kritischen Voten provozierten flammende Befürworter*innen der ESC-Kandidatur. «Ich bitte euch als Stadträte der Hauptstadt der Schweiz: Traut unserer Stadt mehr zu!», plädierte Florence Pärli Schmid (FDP). «Wir können das.» Auch Claudio Righetti (Mitte) sagte: «Mir tut es weh, diese Debatte zu hören.» Es fehle an Mut und Vertrauen in die eigene Stadt. Die SP äusserte ebenfalls Begeisterung für die Kandidatur: Der ESC sei ein «Fest der kulturellen Vielfalt», sagte Barbara Keller. Man sollte Nemo den Wunsch erfüllen, den Anlass in Nemos Heimatstadt Biel durchzuführen.
Gemeinderat Reto Nause (Mitte) streckte sichtlich erzürnt das über 100-seitige Bewerbungsdossier der beiden Städte in die Luft. «Hier drin wird alles beschrieben!», rief er ins Mikrofon. «Wir sind Nemos Hometown! Wir können das!» All die Einwände hätten einen «defätistischen Touch».
Der Gemeinderat trage die Kandidatur «mit vollem Herzen mit», sagte schliesslich auch Stapi Alec von Graffenried (GFL).
Am Ende reichte es trotz der zahlreichen Einwände für ein Ja zum Bern-Bieler ESC: Mit 34 Ja- zu 22 Nein-Stimmen und 14 Enthaltungen nahm das Parlament den Kredit von 7 Millionen an. Alles weitere liegt in den Händen der SRG. Bereits Ende Juli wählt sie zwei der kandidierenden Städte in die engere Vorauswahl.
Katharina Gallizzi politisiert seit 2015 für das Grüne Bündnis im Stadtrat. Die Biologin arbeitet als Bereichsleiterin beim Bundesamt für Statistik.
Warum sind Sie im Stadtrat?
Für mich ist es ein grosses Privileg, in diesem Rat die Stadt mitgestalten zu dürfen. Leider ist dies vielen Menschen verwehrt, weil sie keinen Schweizer Pass haben oder weil es für sie unmöglich wäre, die Ratstätigkeit mit beruflichen oder familiären Verpflichtungen zu vereinbaren. Ich versuche auch diesen Menschen eine Stimme zu geben.
Wofür kennt man Sie im Rat – auch ausserhalb Ihrer Partei?
Mir wurde mal gesagt, dass man mich immer an meiner Stimme erkennt. Allerdings hoffe ich, dass ich auch auf sachlicher Ebene wahrgenommen werde. Zum Beispiel wenn es um konsequente Klimapolitik, um den Schutz von Biodiversität oder um ressourcenschonende Verkehrs- und Energiepolitik geht.
Welches ist Ihr grösster Misserfolg im Rat?
Ich glaube nicht, dass man von einem grossen Misserfolg sprechen kann. Ich bin jedoch immer mal wieder frustriert, wenn es in Umweltthemen oder in der Sozialpolitik nicht richtig vorwärts geht, weil entweder die Ratsmehrheit andere Prioritäten setzt oder weil beschlossene Massnahmen nicht umgesetzt werden.
Worauf sind Sie stolz bei Ihrer Ratsarbeit?
Ich freue mich meist über kleine Verbesserungen, die wir bei einem Geschäft erreicht haben. Sei es, dass die Biodiversitätsfläche bei einem Schulhaus vergrössert wurde oder dass auf einem Dach doch noch eine Solaranlage geplant wurde. Wenn ich dann sehe, wie diese Dinge auch wirklich umgesetzt werden, ist das ein schönes Gefühl.
Welches ist Ihr liebster Stadtteil und warum?
Bümpliz-Bethlehem. Dieser Stadtteil ist lebendig, divers, sehr grün und wird geprägt von all den unterschiedlichen Menschen, die hier wohnen. Deshalb fühle ich mich hier sehr wohl.
Diese Themen waren ebenfalls wichtig:
- Vegetarismus: Anlässe des Stadtrats sollen künftig, zum grossen Unmut der SVP-Fraktion, ohne Fleisch und Fisch vonstatten gehen. Der Rat hat ein Postulat der AL/PdA-Fraktion in einem Punkt gutgeheissen. Der Vorstoss wäre noch weiter gegangen und hätte vegane Kost an allen städtischen und parlamentarischen Anlässen gefordert. Gemeinderat Reto Nause schwante Böses: Der Zibelemärit sei der grösste städtische Anlass. «Chäschueche und Zibelechueche adé!», warnte er. Diese Forderung fand jedoch keine Mehrheit.
- Mehrweggeschirr: Der Gemeinderat soll bei Grossveranstaltungen und in Gastrobetrieben auf städtischem Boden, zum Beispiel bei McDonalds, den Umstieg auf Mehrweggeschirr vorantreiben. Das verlangt der Stadtrat mit der Annahme einer Motion von SP/Juso.
- Rücktritte: Ratspräsidentin Valentina Achermann (SP) hatte zu Beginn der Sitzung gleich drei Rücktrittsschreiben zu verlesen. SP-Stadträtin Nicole Silvestri verlässt das Parlament nach eineinhalb Jahren, weil sie zurück in ihre alte Heimat Schaffhausen zieht. Lionel Gaudy will sich stärker auf seine Rolle als Vater konzentrieren. Er verabschiedet sich nach fast zehn Jahren aus dem Rat. Und «Ikone» Alex Feuz (SVP), wie ihn Achermann in ihrer Dankesrede bezeichnete, tritt nach 12 Jahren zurück. Der umtriebige Politiker wird aber bereits bei den Stadtratswahlen im November wieder für die SVP antreten. Mit dem Rücktritt umgeht er die Amtszeitbeschränkung.
PS: Der Stadtrat geht in die Sommerpause. Nächstes Mal tagt er am 15. August. Bis dahin wünschen wir gute Erholung, wie sie die Parlamentarier*innen bereits am Stadtrat-Ausflug im Juni genossen – sehenswert dokumentiert von Journal-B-Fotograf David Fürst.