Fake News, die nachwirken
Eine grosse Leistung: Das Effinger-Theater bringt mit «Der vergessene Prozess» eine Berner Heldengeschichte auf die Bühne. Leider ist das Stück etwas lang geraten.
Eins vorweg: Schon nur, dass das Theater an der Effingerstrasse dieses Stück auf die Bühne bringt, verdient Wertschätzung. Es ist eine Heldengeschichte, die in Bern geschrieben worden ist – und von der heute kaum jemand etwas weiss. Hoffentlich ändert sich das mit der Uraufführung des Theaterstücks «Der vergessene Prozess».
Darin geht es um einen einzigartigen Prozess, der 1933 bis 1935 vor dem Berner Regionalgericht stattfand: Die jüdische Gemeinde Bern, vertreten durch den jüdischen Berner Anwalt Georges Brunschvig, klagte die antisemitische Schrift «Die Protokolle der Weisen von Zion» als Schundliteratur an und zerrte deren Berner Verbreiter vor Gericht. Brunschvig gewann diesen Prozess, was in einer Zeit, da die Nazis in Deutschland ihre Macht ausbauten, in ganz Europa Beachtung fand.
Das historische Thema ist komplex – und es ist das Verdienst von Autorin Gornaya, dass die Geschichte auf der Bühne auch für Zuschauer*innen funktioniert, die wenig oder nichts von diesem Prozess wissen. Die belegbaren Fakten werden nicht brav wiedererzählt, sondern in eine spannende Geschichte gebettet. Ab und zu begeben sich die Schauspieler*innen auf eine Metaebene, und diskutieren Themen der Gegenwart: Bräuchten einige Passagen vielleicht eine «Trigger-Warnung»? Was ist eigentlich mit Fake News?
Diese Ausbrüche aus der Geschichte mögen im ersten Moment verwirren, ergeben aber im zweiten Moment eine angenehme Dynamik, die für Abwechslung sorgt und dem historischen Thema etwas von der Schwere nehmen kann.
Lustvolles Schauspiel-Ensemble
Einerseits wird der Prozess nacherzählt, andererseits ist es auch die Geschichte von Odette, der Frau von Georges Brunschvig. Sie wird authentisch verkörpert von Heidi Maria Glössner. Sie steht ihrem Mann (Jeroen Engelsman) immer wieder bei – und bringt eine emotionale Aussenperspektive ein.
Unterstützt werden die beiden von den Schauspieler*innen Tobias Krüger, Kornelia Lüdorff und Wowo Habdank, die sehr gekonnt und lustvoll in immer wieder neue Rollen schlüpfen. Dafür reichen ein Gehstock oder ein Apfel, in den gebissen wird, ein aufgeklebter Schnauz oder eine Pfeife im Mund. Eigentlich billige Tricks, die aber für Leichtigkeit sorgen.
Überhaupt ist die Leistung des ganzen Ensembles hervorzuheben. Wie auch das reduzierte Bühnenbild (Angela Loewen), das lediglich mit einigen langen Holzleitern und einer Hebebühne, die die Schauspieler*innen immer wieder in die Versenkung transportieren kann, ausgerüstet ist.
Regisseur Jochen Strodthoff hat ein feines Gespür für die Gratlinie zwischen Ernst und Humor. Und so geht das Publikum nach einer Stunde beschwingt in die Pause.
Zähe zweite Hälfte
Leider wird es in der zweiten Hälfte etwas zäher, wenn es nun zum eigentlichen Prozess kommt, der in Realität ganz sicher auch zäh gewesen sein muss. Wer hat nun die «Protokolle» überhaupt geschrieben? Wie und warum wurden sie verbreitet? All diese Fragen wurden damals vor Gericht auch geklärt. Und sie werden auf der Effinger-Bühne nacherzählt. Historisch sicher korrekt, aber für die Verständlichkeit und die verdaubare Dauer des Stücks hätte es gut getan, die eine oder andere Schleife wegzulassen. So etwa die komplizierte Geschichte, wie und durch welche Personen die «Protokolle» von Paris nach Russland gelangt sind.
Nach zweieinhalb Stunden (inkl. Pause) wird das Publikum schliesslich in die Berner Nacht entlassen. Erschöpft von dieser Geschichte, die vor der eigenen Haustüre stattfand und noch lange nachwirken wird. Und erstaunt, dass niemand schon früher darauf gekommen ist, diesem bühnenreifen Stoff auch wirklich eine Bühne zu geben.
«Der vergessene Prozess» bis 20. April, Theater an der Effingerstrasse.