Das Tram-Dilemma

Die Tramlinie ins Fischermätteli ist ein Luxus. Soll sie bleiben oder zur Buslinie werden? Eine Denkanleitung zu einer undurchsichtigen städtischen Abstimmungsfrage.

Bus und Tramsituation fotografiert im Fischermaetteli am Montag, 2. September 2024 in Bern. (hauptstadt.be / Simon Boschi)
Ikone des Fischermättelitrams: Die Wendeschleife an der Weissensteinstrasse. (Bild: Simon Boschi)

«Gesamtsanierung Strassenraum Brunnhof-Fischermätteli»: Kann eine Abstimmungsvorlage mit diesem schläfrigen Titel die Emotionen hochgehen lassen?

Sie kann. Weil es geht ums Tram.

Die Frage hinter dem vernebelten Abstimmungstitel ist: Soll das Tram ins Fischermätteli (Linie 6) durch einen E-Bus ersetzt werden? Zur Debatte stehen viel öffentliches Geld, der sich zuspitzende Konflikt zwischen ÖV und Velo und die Frage, ob die Behörden transparent argumentieren und man ihnen wirklich trauen kann.

Politischer Mischverkehr

«Gesamtsanierung Strassenraum» bedeutet im Fischermätteli-Fall folgendes: Auf den 1,1 Kilometern zwischen Brunnhof und der Wendeschleife im Fischermätteli werden nicht nur die Gleise ersetzt. Sondern man saniert auch die unterirdischen Leitungen und entsiegelt an mehreren Stellen Böden  – als Klimaanpassungsmassnahme. Insgesamt kostet die Operation 42 Millionen Franken, wobei das die Stadt (auf den ersten Blick) bloss mit 15,7 Millionen Franken trifft.

Regierung und Parlament empfehlen den Stimmberechtigten, den Kredit anzunehmen und damit die Zukunft des Trams zu sichern. Pfeffer in die Sache kommt, weil die Abstimmung am 22. September mitten im städtischen Wahlkampf stattfindet – und die politischen Fronten zum Fischermätteli-Tram quer zu den Wahlbündnissen verlaufen.

Oppositionelle GFL

Im linken Lager sorgt die GFL – immerhin die Partei des Stadtpräsidenten – für Unruhe bei Rot-Grün-Mitte. Sie ist vehement gegen die Tram-Vorlage von Regierung und Parlament und stellt sich damit explizit gegen die SP, die stramm hinter dem Tram steht. Auch das Grüne Bündnis hat – trotz kritischer Stimmen – die Ja-Parole beschlossen.

Auf der bürgerlichen Seite stehen Grünliberale und Mitte, die sonst dem Kostenbewusstsein das Wort reden, für das teurere Tram ein. Mitte-Stadt- und Grossrätin Sibyl Eigenmann engagiert sich sogar im Pro-Komitee. Die FDP hingegen gibt die Nein-Parole aus, die SVP hat laut Präsident Thomas Fuchs Stimmfreigabe beschlossen.

Bus und Tramsituation fotografiert im Fischermaetteli am Montag, 2. September 2024 in Bern. (hauptstadt.be / Simon Boschi)
Welcher ÖV ist der richtige? Der 17er-E-Bus auf der Tramlinie Fischermätteli. (Bild: Simon Boschi)

Der Konflikt, um die sich diese Abstimmung dreht, ist nicht: ÖV oder nicht ÖV. Auf dem Tisch liegt eine andere Grundsatzfrage: Welcher ÖV? Wird das Steuergeld, das anderswo sinnvoller für den öffentlichen Verkehr eingesetzt werden könnte, für das Fischermätteli-Tram verschleudert?

Zwei Abstimmungskomitees haben sich gebildet, eines pro, eines contra. Beide haben gute Argumente. Aber beide blenden Teile des Gesamtbilds aus.

Deshalb hat sich die «Hauptstadt» in diese komplizierte Vorlage vertieft. Sie versucht, hier eine Denkhilfe zu geben in sechs Punkten, die dir den Abstimmungsentscheid erleichtern soll.

1. Die «Sanierung»

Die Gleiserneuerung des Fischermätteli-Trams ist seit 2011 (!) ein Thema der städtischen Politik. Nach zahlreichen Abklärungsrunden kommt sie nun als «Gesamtsanierung Strassenraum» vor die Stimmberechtigten.

Von den Gesamtkosten von 42 Millionen Franken fallen vermeintlich nur 15,7 Millionen zu Lasten der Stadt. Aber: Den Rest übernehmen einerseits die mit öffentlichen Geldern subventionierte städtische Unternehmung Bernmobil sowie Energie Wasser Bern (ewb). Und andererseits der Kanton, der dafür ebenfalls Steuergeld einsetzt.

Zudem wirkt das Wort Sanierung im Titel der Abstimmungsvorlage irreführend. Es ist nicht so, dass die Gleise einfach herausgerissen und neu eingesetzt werden. De facto entsteht eine neue Gleisanlage. Wegen strengerer Vorschriften des Bundesamts für Verkehr (BAV) muss unter der Strasse ein massiver Trog für die Gleise eingebaut werden. Man müsste eher von einem Neubau als einer Sanierung reden.

Ziemlich versteckt in der Abstimmungsbotschaft steht, dass die vorgesehene Bauzeit zweieinhalb Jahre beträgt. Mindestens so lange wird das Fischermätteli so oder so ohne Tram sein. 

2. Das «Geistertram»

Das Tram ist komfortabel. Es läuft ruhiger als ein Bus, verfügt über mehr Platz, für Menschen mit Behinderung ein entscheidender Vorteil. Auch beim Personal von Bernmobil sei das Tram im Vergleich zum Bus als Arbeitsort beliebter, wie Hanspeter Anderegg, selber bei Bernmobil und Gewerkschafter beim VPOD, festhält. «Es ist eine Errungenschaft, dass ein Tram ins Fischermätteli fährt. Ein Rückbau wäre ein Verlust für die Bevölkerung», fügt Meret Schindler, Co-Präsidentin der SP Stadt Bern, an.

Auf der anderen Seite sagen selbst Befürworter*innen, dass das Tram ins Fischermätteli heute kaum mehr gebaut würde. Grund: Die Nachfrage von Fahrgäst*innen ist zu gering. Gegner*innen sprechen vom «Geistertram».

Das geräumige Tram ist geeignet, um bevölkerungsreiche Stadtteile wie Bümpliz oder Ostermundigen zu erschliessen mit über 10’000 Fahrgäst*innen pro Tag. Im Fischermätteli ist das bei weitem nicht der Fall. Heute belegen in Spitzenzeiten im Schnitt 50 Personen das Fischermätteli-Tram. Die neue Komposition für die Linie 6 fasst aber bis zu 260 Personen.

Auch in Zukunft ändert sich dieses Missverhältnis kaum: Gemäss kantonalen Prognosen werden auch 2040 nur gut 4000 Personen täglich die Tramlinie 6 ab Brunnhof benutzen.

Bus und Tramsituation fotografiert im Fischermaetteli am Montag, 2. September 2024 in Bern. (hauptstadt.be / Simon Boschi)
Könnte zum Wohnstandort werden: Tramwendeschleife Fischermätteli. (Bild: Simon Boschi)

Trotz schwacher Frequenzen und tiefer Prognosen stützt der Kanton als massgebende Behörde das Tram. Christian Aebi, Vorsteher des kantonalen Amts für öffentlichen Verkehr, bestätigt der «Hauptstadt» auf ungläubige Nachfrage zweimal einen überraschenden Befund: Der Tramast Fischermätteli «erfüllt die kantonalen Vorgaben bezüglich Kostendeckungsgrad». Und was die Auslastung angehe, erreiche Tram 6 die Mindestanforderungen zwar «derzeit vorübergehend knapp nicht». Die Wohnüberbauung des Meinenareals im Mattenhof werde aber «voraussichtlich zusätzliche Nachfrage bringen».

3. Die Bus-Alternative

«Eine ausreichende Erschliessung des Fischermätteli-Quartiers könnte grundsätzlich auch mit einem Bus gewährleistet werden.» Das steht in einem Fachbericht, den der Gemeinderat erstellen liess. Ein E-Bus brächte nicht einmal zusätzliche CO2-Belastung. Weil bei einer Buslösung die aufwändige Gleiserneuerung wegfällt, würde ein Grossteil des Investitionskredits, über den abgestimmt wird, hinfällig. Zudem könnte der Verzicht aufs Tram städtebaulich genutzt werden, indem die nicht mehr gebrauchte Wendeschleife im Fischermätteli mit Wohnungen überbaut würde.

Im Betrieb ist der Bus laut Fachbericht allerdings teurer als das Tram. Jedoch nur dann, wenn er das Tram ins Fischermätteli eins zu eins als neue Buslinie ersetzt. Es gibt aber eine wirklich günstige Alternative: Wenn Bernmobil die existierende Buslinie 17, die vom Bahnhof nach Köniz-Weiermatt fährt, nicht mehr wie heute über den Loryplatz führt. Sondern entlang der überflüssig gewordenen Tramlinie 6 ins Fischermätteli und dann weiter nach Köniz.

Das ist die Alternative, die den Tram-Gegner*innen vorschwebt. Sie funktioniert in der Praxis – denn im Moment fährt Bus 17 exakt so, weil das Fischermätteli-Tram wegen der Gleissanierung an der Effingerstrasse vorübergehend nicht verkehrt. Trotzdem gefällt dem Kanton diese Variante nicht: Weil der Loryplatz nicht mehr bedient würde, befürchtet er eine ungenügende Erschliessung des Insel-Areals von Köniz her.

4. Der Tram-Knoten

Im Zentrum der Stadt Bern zwischen Hirschengraben und Zytglogge ist es eng für die vielen Tramlinien. Zu eng. Es bräuchte dringend eine zweite Tramachse durch die Innenstadt. Sie ist zwar angedacht, aber noch sehr weit von einer Realisierung entfernt.

Aufgrund des Platzmangels umso wichtiger wäre es, dass von Westen und Osten gleich viele Linien Richtung Zentrum kommen, damit die Trams «durchgebunden» werden können. Aktuell ist das nicht der Fall: Das Weissenbühl-Tram muss mit viel Platzbedarf am Bubenbergplatz wenden. Würde die Tramlinie Fischermätteli rückgebaut, wäre das Problem gelöst – aber nur vorübergehend. Zwar kämen von Ost und West je nur noch vier Linien im Zentrum an – jedoch eben nur bis ungefähr ins Jahr 2032. Dann sollte mit dem neu gebauten Ostermundigen-Tram eine fünfte Linie von Osten ins Zentrum führen.

An sie knüpft das wichtigste Argument der Fischermätteli-Tram-Befürworter*innen an: Dessen Erhalt garantiert, dass bei Inbetriebnahme der Ostermundigen-Linie kein Tram mehr im Stadtzentrum wenden muss. Die Gegnerschaft hingegen propagiert dafür eine andere Lösung: Sie würde in ein paar Jahren auch das Tram in den Ostring durch einen Bus ersetzen, um Wendemanöver des künftigen Ostermundigen-Trams zu vermeiden.

5. Der Velo-Knorz

Es ist auch unter Expert*innen unbestritten: Die 42 Millionen Franken teure «Sanierung» der Tramgleise ins Fischermätteli verschlechtert die Situation für Velofahrer*innen. Mit dem Einbau des Gleistrogs werden die Schienenstränge so verlegt, dass zwischen Randstein und Gleis noch weniger Abstand bleibt.

Bus und Tramsituation fotografiert im Fischermaetteli am Montag, 2. September 2024 in Bern. (hauptstadt.be / Simon Boschi)
Eng – und mit dem Tram wird es noch enger: Velostreifen auf der Fischermätteli-Linie. (Bild: Simon Boschi)

Die neuralgische Stelle ist der «Stutz» von der Brunnmatt hoch zum Cäcilienplatz. Bei der Schussfahrt hinunter entlang der Gleise ist die Sturzgefahr gross, beim Anstieg kann das breite Tram nicht überholen. Zudem wird auf der Weissensteinstrasse die Tramhaltestelle berechtigterweise behindertengerecht umgebaut, für Velofahrende wird sie jedoch zum Hindernis.

Die Buslösung würde die Nachteile für die Velofahrenden weitgehend eliminieren, hält der Fachbericht fest. Trotzdem hat Pro Velo Bern Stimmfreigabe beschlossen. Aus folgender Überlegung, wie Präsident Michael Sutter auf Anfrage ausführt: Man wolle ÖV und Velo nicht gegeneinander ausspielen. Denn grundsätzlich wären bei Tram und Bus velofreundliche Lösungen möglich – sofern die Behörden die Anliegen von Velofahrer*innen genügend priorisierten. 

6. Die Zukunft

Salopp zusammengefasst: Ja zu dieser Vorlage stimmt wohl, wer gerne Steuern zahlt und dem Fischermätteli den Komfort des Trams gönnt. Ein Nein legt eher ein, wer die knappen öffentlichen Mittel im Auge hat, dafür bereit ist, etwas Verzicht zu üben und der Velofreundlichkeit den Vorzug gibt.

Geduld gefragt ist sowieso. Befürwortet die Mehrheit der Stimmberechtigten am 22. September die Vorlage, könnte frühestens 2026 mit der Erneuerung der Gleisanlage begonnen werden. Dieser Zeitplan ist allerdings illusorisch: Angesichts der engagierten Gegnerschaft ist es praktisch sicher, dass während dem Baubewilligungsverfahren Einsprachen gemacht werden. Die Folge: erhebliche Zeitverzögerungen.

Wird der Kredit abgelehnt, heisst das umgekehrt nicht automatisch, dass dann eine Buslösung realisiert wird. Wie Christian Aebi, Vorsteher des Amts für öffentlichen Verkehr, auf Anfrage ausführt, müsste in diesem Fall das Kantonsparlament über die Erschliessung des Fischermättelis neu entscheiden. Der Kanton ist Besteller des öffentlichen Verkehrs. Voraussichtlich würde sich der Grosse Rat laut Aebi in der Frühjahrssession 2026 mit diesem Thema befassen. Wann der Bus das Tram ersetzen würde: ungewiss.

Was hingegen gewiss ist: Das Dilemma um das Fischermätteli-Tram bleibt noch lange ungelöst. 

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Diskussion

Unsere Etikette
Peter Buri
19. September 2024 um 09:03

Ja zum Fischermätteli-Tram für eine barrierefreie, inklusive, durchdachte und nachhaltige Mobilität

Das Fischermätteli-Tram zu unterstützen ist ein wichtiger Schritt in Richtung einer inklusiven und barrierefreien Stadt. Dieses Projekt ist wichtig für die Umsetzung des BehiG, für Menschen mit Behinderungen wie mich.

Es ermöglicht, den öV für alle autonom zugänglich zu machen – für Rollstuhlfahrer, Menschen mit Körper- oder Sinnesbehinderungen, Familien mit Kinderwagen, ältere Menschen, usw. Ein Bus bietet diese Autonomie nicht! Der öV ist für viele Behinderte noch stark eingeschränkt und auf fremde Hilfe angewiesen zu sein, widerspricht dem Prinzip der selbstbestimmten Teilhabe.

Im Osten entsteht ein neuer Tramast und im Westen soll ein Tramast durch einen Bus ersetzt werden?! Eine ausgewogene Anzahl von Tramast in beide Richtungen ist wichtig für einen reibungslosen Betrieb.

Danke für Ihr „Ja“!

Freundliche Grüsse

Pesche Buri, GGR-Mitglied Ostermundigen, Kandidat für den Gemeinderat

Toni Menninger
16. September 2024 um 18:53

Danke für die gute Detailrecherche. Mir drängt sich folgende Frage auf: angenommen wir verzichten aufs Tram und es werden dereinst vier statt fünf Tramrouten durch die Innenstadt fahren. Würde das die Problematik der zweiten Tramachse entschärfen?

Leandro Spillmann
14. September 2024 um 09:54

Danke für diesen erhellende Überblick zu diesem verworrenen Thema.

Raymond Känel
14. September 2024 um 07:02

Was im Beitrag fehlt: Der stete Ausbau des Tramnetz wird es für Bernmobil immer mehr eine Herausforderung machen, das gesuchte Fahrpersonal zu finden. Die Motivation des neuen Fahrpersonal ist der Bus und nicht das Tram, auch wenn sie sich später auch für das Tram ausbilden lassen.

Markus Troxler
14. September 2024 um 06:19

Dieser wertvolle Beitrag kommt leider etwas spät. Viele haben bereits brieflich abgestimmt.