«Willst du nicht lieber Volleyball spielen?»

Heute bestreiten die Schweizerinnen ihre erste Partie an der EM. Aber man redet nicht von Fussball, sondern von Frauenfussball. Letzterer wird immer noch von vielen belächelt. Ein Besuch beim fortschrittlichen FC Ostermundigen, wo Frauen mit Fussball auch ein Statement abgeben wollen.

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Den Ball unter Kontrolle: Verteidigerin Laura Aellig (links) und Spielmacherin Noe Eli auf dem Oberfeld in Ostermundigen. (Bild: Danielle Liniger)

Noe Eli und Laura Aellig sitzen auf der Steinterrasse vor dem Clubhaus des FC Ostermundigen (FCO) auf dem Sportplatz Oberfeld. «Ich musste mir viele dumme Sprüche auf dem Pausenplatz anhören, da ich das einzige weiblich gelesene Kind war, das Fussball spielte. Die Jungs stellten beispielsweise mein Geschlecht in Frage», erzählt Eli. «Mich störten weniger die Kommentare, sondern mehr, dass mir das Gefühl vermittelt wurde, ich gehörte nicht dazu», erklärt Aellig. Die beiden spielen im ersten Frauenteam des FCO und sprechen über Erfahrungen mit Sexismus im Fussball.

Sie begannen als Kinder im Club Fussball zu spielen: die heute 25-jährige Eli in einem Mädchenteam im FCO, die drei Jahre jüngere Aellig in einer gemischten Equipe des FC Breitenrain. Während sich Aellig, die im defensiven Mittelfeld oder in der Innenverteidigung spielt, wenig mit Männerfussball auseinandersetzte, schaute sich Eli oft mit ihrer Familie Partien an. Als Kind bewunderte sie David Beckham, heute ist ihr Vorbild Cristiano Ronaldo – beides Männer.

«Heute kennen sie Wälti, Bachmann und Lehmann»

Frauenfussball war während der Kindheit der beiden noch kein Thema: Wenn sie überhaupt Fussball geschaut habe, sei ihr nicht aufgefallen, dass es nur um Männer gegangen sei, erzählt Aellig. «Als ich 16 Jahre alt war, hatte eine Freundin ein Poster der Brasilianerin Marta im Zimmer hängen. Erst da realisierte ich, dass auch Frauen auf hohem Niveau Fussball spielen.» Die 22-Jährige hatte Mühe, sich mit dem kapitalistischen System des Männerfussballs anzufreunden. Mit dem Frauenfussball, in dem es um geringere Geldbeträge gehe, könne sie sich eher identifizieren.

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«Es muss sich noch viel ändern»: Laura Aellig und Noe Eli wollen mit ihrem Engagement dazu beitragen. (Bild: Danielle Liniger)

Eli ist Captain und Spielmacherin des Teams, das heisst, sie spielt im offensiven Mittelfeld. Sie trainiert im FCO nebenbei Juniorinnen. Bei ihrem ersten Training habe sie sich mit den Kindern lange über Vorbilder und Ziele unterhalten. «Heute kennen sie die Schweizer Nationalspielerinnen Lia Wälti, Ramona Bachmann und Alisha Lehmann und wollen unbedingt zu den YB-Frauen.

Ein Fortschritt zur Kindheit der beiden Spielerinnen, doch Aellig sieht noch viel Verbesserungspotenzial: «Mädchen müssen ihre Eltern überzeugen, um ein Fussballtraining zu besuchen. Es heisst: ‹Willst du nicht lieber Volleyball spielen?› Es muss sich viel verändern, bis Eltern auch ihre Töchter von sich aus in ein Training schicken.»

Traditionsadresse im Frauenfussball

Dass es in den letzten Jahren positive Entwicklungen im nationalen Frauenfussball gegeben hat, ist beispielsweise Tatjana Haenni zu verdanken, die als erste Frau im Führungsgremium des Schweizerischen Fussballverbands Einsitz nimmt. Auf kleiner, regionaler Ebene braucht es aber auch Fussballerinnen wie Noe Eli und Laura Aellig, die Bewegung in den Club und die Liga bringen wollen. Oder Sportchefinnen wie Ruth Imhof, die die Frauenabteilung des FCO seit mehr als zehn Jahren leitet, im Vorstand sitzt und die U23-Spielerinnen trainiert.

Imhof ist quasi eine Frau der ersten Stunde im Frauenfussball. Ihre aktive Karriere, in der sie unter anderem für den FC Bern in der Nationalliga A aufgelaufen war, beendete sie in Ostermundigen als Spieler*innentrainerin. Sie kennt die Veränderungen im Frauenfussball aus eigener Erfahrung und freut sich über jeden kleinen Schritt in Richtung Gleichstellung.

Die Sparte für die Frauen wurde Mitte 80er-Jahre gegründet, damals noch im SC Ostermundigen, der 1995 mit dem FC Rapid Ostermundigen zum FCO fusionierte. Die Frauenabteilung wurde im neuen Club weitergeführt und zu einer bekannten Adresse im Berner Fussball, da sie zu den ältesten und konstantesten der Region gehört.

Makellose Saison

Die Worte «da steckt jahrelange Arbeit dahinter», die die 61-jährige Imhof wählt, als sie die jüngsten Erfolge der Ostermundigerinnen erklärt, sind keine Floskel. Das erste Team gewann im Sommer 2021 den Berner Cup und stand im Oktober desselben Jahres im Sechzehntelfinal des Schweizer Cups, in dem es mit den Yverdon-Frauen auf ein Super-League-Team traf.

Hunderte Zuschauer*innen kamen für das Spiel aufs Oberfeld – einige brachten Fahnen mit, andere druckten FCO-Pullover. Die Spielerinnen genossen es, für einmal im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen und feierten trotz der 1:4-Niederlage. Sie habe sich «wie in einem WM-Final» gefühlt, sagt Laura Aellig.

Auch in der Liga waren die FCO-Spielerinnen äussert erfolgreich: Sie schafften in der abgelaufenen Saison den Aufstieg in die erste Liga, der dritthöchsten Stufe im Schweizer Fussball. 18 Spiele, 18 Siege lautet die Ligabilanz des FCO aus der Saison 2021/22. «Alle im Team hatten in der vergangenen Saison das gleiche Ziel, und wir wussten, wie gross unser Potenzial ist», erzählt Noe Eli. «Dank der Freude und dem Engagement konnten wir die guten Leistungen nach einer makellosen Vorrunde auch in der Rückrunde bestätigen.»

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Kennt den Wert von Vorbildern wie Lia Wälti oder Ramona Bachmann: Captain Noe Eli. (Bild: Danielle Liniger)

Der Grossteil des Teams ist seit mehreren Jahren gleich zusammengesetzt. Viele Spielerinnen standen schon als Kinder im FCO-Dress auf dem Platz; das meint Imhof mit «jahrelanger Arbeit». Einige, darunter Noe Eli, wagten einen Abstecher in die Juniorinnenabteilung des BSC YB und kehrten mit besserem technischem und taktischem Verständnis zurück.

Selber Sponsor*innen gesucht

Dieses wird im nächsten Jahr gefordert sein: Die Ostermundigerinnen treten auf neuen Plätzen an und treffen auf ihnen unbekannte Gegnerinnen. Und vor allem werden die neuen Konkurrentinnen schneller, ballsicherer und robuster sein. Nach einem konkurrenzlosen Jahr in der zweiten Liga kommen grosse Herausforderungen auf die FCO-Frauen zu. Für Imhof ist klar: «Die Spielerinnen werden wieder lernen müssen, mit Niederlagen umzugehen.

Nicht nur auf dem Platz wird es Umstellungen geben: In der ersten Liga spielen die Teams erstmals Wochenende für Wochenende gegen Equipen aus der ganzen Schweiz. Statt nach Steffisburg und Kirchberg wird die nächste Saison die Spielerinnen des FC Ostermundigen in die verschiedensten Regionen der Schweiz führen.

Der Club stellt dem Team für die Auswärtsspiele einen Car zur Verfügung. Zusätzlich haben die Spielerinnen und ihr Trainer Sandro Raso weitere Sponsor*innen gesucht, um sich neues Material zu kaufen und eine Masseurin zu engagieren, die einmal die Woche vorbeikommen wird. Von einem Fitnessstudio erhalten die Spielerinnen Jahresabonnements. Alles für das Ziel, den Ligaerhalt zu schaffen.

«Wir mussten um jeden Franken kämpfen»

Rosig ist die Stellung der Frauen selbst im fortschrittlichen FCO nicht. Auch wenn der Vorstand das Frauenteam kürzlich als «Aushängeschild» des Clubs bezeichnete, kämpft es um mehr Anerkennung. Der Trainer des Frauenteams verdiente in der abgelaufenen Saison weniger als der Coach der zweiten Männer-Mannschaft, die in der vierten Liga spielt. Ab der neuen Saison soll das Gehalt ähnlich hoch sein.

«Früher mussten wir um jeden Franken, für jeden Ball und jede Trainingsgelegenheit kämpfen», erzählt Imhof. Mittlerweile hätten Männer und Frauen im FC Ostermundigen fast die gleichen Voraussetzungen für Trainings und Spiele. Von Lohngleichheit der Trainer der ersten Männer-Mannschaft und des ersten Frauenteams sei man jedoch weit entfernt. Imhof begründet dies mit «dem ganzen System» und der Stellung des Frauenfussballs: «Im Vergleich zwischen der Frauen- und der Männernati gibt es ebenfalls grosse Unterschiede, wobei mit der Prämienangleichung ein grosser Schritt gemacht wurde.

Die Lohnfrage gibt einen kleinen Einblick in den Teufelskreis, in dem sich der Frauenfussball bewegt: Die Strukturen für Mädchen und Frauen fehlen, dadurch gibts keinen plötzlichen Qualitätsschub, das Interesse und die Medienpräsenz bleiben tief, die Sponsor*innen investieren lieber ins Big Business – den Männerfussball –, wodurch eben das Geld für mehr Trainings, höhere Löhne, aber auch bessere Strukturen im Nachwuchs fehlt. Und so weiter.

Dass der Club die Frauenabteilung nicht ernst genommen habe, würde Captain Eli nicht unterschreiben. Unter anderem, weil sich Sportchefin Imhof immer wieder für die Abteilung eingesetzt habe, und es immer noch tue. Der Vorsprung des FCO auf andere Clubs sei zwar gross, nur gebe es immer noch Unterschiede zwischen dem Männer- und dem Frauenteam. 

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Kritisch gegenüber Kommerzialisierung: Laura Aellig. (Bild: Danielle Liniger)

Um aus diesem Muster auszubrechen, muss sich viel verändern. Aber: Wo anfangen? Noe Eli und Laura Aellig wissen die positiven Ansätze genau wie Ruth Imhof zu schätzen. Doch während die Sportchefin vor allem sieht, was heute im Vergleich zu früher besser ist, schauen die Spielerinnen in die Zukunft. Sie wollen mehr. Für die beiden ist das Fussballspielen nicht nur ein Hobby, sondern auch ein politisches Engagement: gegen Vorurteile, für Anerkennung und Chancengleichheit.

Sie sehen ihre Aufgabe darin, im regionalen Fussball zu helfen, und dafür mit ihrem FC Ostermundigen voranzugehen. Und fordern dieselben Rahmenbedingungen für alle. «Die Clubs müssen Juniorinnenabteilungen aufbauen wie in Ostermundigen. Und dort, wo sie bereits existieren, haben sie noch nicht den gleichen Stellenwert wie die Teams der Jungs. Das muss sich ändern», sagt Eli.

Die Ruhe vor dem Ansturm?

Ein Blick in die fernere Zukunft bereitet ihrer Teamkollegin Aellig jedoch auch Sorgen: Mit steigendem Interesse und mehr Zuschauer*innen dürften die Konzerne und der Weltfussballverband Fifa vom grösseren Marktpotenzial profitieren wollen, und der Frauenfussball könnte sich in den Bereichen Geld und Macht dem der Männer annähern. «Ich kann mir gut vorstellen, dass es irgendwann so weit kommen wird. Ich sehe da einen Clinch», sagt Aellig, die manchmal bereits mit der Annahme von Sponsor*innengelder für ihr Team Mühe hat.

Sie hege jedoch Hoffnung, dass der Frauenfussball auch bei grösserer Aufmerksamkeit seinen Werten treu bleiben würde, meint Aellig. Zuversichtlich stimme sie, dass sich Spielerinnen wie Ramona Bachmann kritisch zur Kommerzialisierung geäussert hätten, ergänzt Eli. Und Fussballerinnen wie Bachmann sind heute Vorbilder vieler Mädchen.

In naher Zukunft werden sich Noe Eli, Laura Aellig und Ruth Imhof nicht nur für die Rahmenbedingungen, sondern auch weiter für eine stärkere Zugänglichkeit einsetzen. Ihre Devise ist klar: Der FCO soll Platz bieten für Menschen aller Herkünfte und sexueller Identitäten. Zur Integrationsmaschine, als welche der Männerfussball bekannt ist, fehlt jedoch noch ein Stück.

Immerhin spielen in den Nachwuchsteams des FCO immer mehr Mädchen mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen. Die Euro in diesem Sommer dürfte das weiter verbessern. In Ostermundigen hofft man, dass sie einen Boom auslösen wird. «Im August und im Herbst werden viele Mädchen, deren Interesse durch das Turnier geweckt wurde, in Fussballtrainings gehen», ist sich Imhof sicher. Und gerade der Erfolg des ersten Teams, aber auch die passenden Bedingungen dürften sie nach Ostermundigen locken.

Die Schweizerinnen spielen ihr erstes EM-Spiel heute Samstag Abend um 18 Uhr gegen Portugal. SRF überträgt alle EM-Spiele live, wo du den Match in Bern im Public Viewing sehen kannst, erfährst du auf dem Instagram-Account em22_grossmachen.

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Diskussion

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Yannick Suter
09. Juli 2022 um 11:00

Danke für den meiner Meinung nach wichtigen Beitrag!