Moral ist nicht relativ
Als Kind erlebte unser Philosophie-Kolumnist die Fussball-WM als kollektiven Lichtblick in Krisenzeiten. Doch dieses Jahr dämpfen moralische Bedenken die Vorfreude.
Meine ersten Erinnerungen an eine Fussball-Weltmeisterschaft stammen aus dem Jahr 1982. Obwohl ich von Fussball noch nicht viel Ahnung hatte, klebte ich damals tagelang aufgeregt an der Mattscheibe. Selbst auf unserem kleinen Schwarz-Weiss-Fernseher kam mir die Welt in Spanien wunderbar exotisch vor. Vor allem bemerkte ich aber, dass sich mit Beginn der WM die Stimmung draussen vor der Tür verändert hatte. Ein halbes Jahr zuvor war in Polen, wo ich aufwuchs, das Kriegsrecht verhängt worden. Das Ende aller politischen Hoffnungen. Internierungen, Lebensmittelkarten, Ausgangssperren. Die Leute liefen irgendwie gebückter durch die Strassen.
Der WM-Sommer war dann wie eine kleine bunte Pause von der kollektiven Depression. Die Mannschaft um Zbigniew Boniek spielte sich völlig unerwartet bis ins Halbfinale und gewann das Spiel um Platz drei. In der Sonne hat man wieder lächelnde Gesichter gesehen.
Vielleicht ist diese frühe Erfahrung verantwortlich dafür, dass die von einer Fussball-WM bewirkte Veränderung des Alltags mir immer mindestens genauso wichtig war wie alles, was auf den Fussballfeldern vor sich gegangen ist. Eine Fussball-WM, das war für mich immer ein wenig, wie in den Ferien zu sein. Die Zeit fliesst in einem anderen Tempo. Die Prioritäten verändern sich. Und es kommt zu ungewöhnlichen Begegnungen. Eine WM kann eine kommunale Angelegenheit sein, die Fremde näher aneinander rücken lässt. Als zugezogene Person fühlt man sich in Bern nicht unbedingt sofort aufgehoben. Die Situation sieht aber völlig anders aus in einer Menschenmenge, die den Verkehr in der Lorraine lahmlegt, weil die Nati im Achtelfinale gegen Argentinien spielt.
Katars moralrelativierender Komplize
Diese magischen Momente sind schwer zu beschwören, wenn die WM wie vor vier Jahren in Russland oder wie in diesem Jahr in Katar stattfindet. Zu deutlich stehen uns die problematischen Zustände in diesen Ländern vor Augen. Vor diesem Hintergrund könnte man Gianni Infantinos Aufforderung, sich bei der anstehenden WM auf den Fussball zu konzentrieren, naiv finden – wenn sie denn nicht so zynisch wäre.
In dem Brief, den Infantino Anfang des Monats zusammen mit der FIFA-Generalsekretärin Fatma Samoura an die teilnehmenden nationalen Verbände geschickt hat, heisst es, dass man bei der FIFA versuche, «alle Ansichten und Meinungen zu respektieren, ohne dem Rest der Welt moralische Lehren zu erteilen». Zudem sei dieses Prinzip «der Grundstein gegenseitigen Respekts und der Nicht-Diskriminierung».
Wollte man der Position, die hier zum Ausdruck kommt, ein philosophisches Etikett anheften, müsste man vom moralischen Relativismus sprechen – der Ansicht also, dass die Wahrheit von moralischen Urteilen wie «es ist falsch, Personen vorzuschreiben, wie sie ihre Sexualität ausleben sollen» davon abhängt, in welcher Kultur sie gefällt werden. In der Schweiz mag dieses Urteil wahr sein, werden Moralrelativist*innen wie Infantino sagen, aber in einem anderen Land könnte es eben falsch sein.
Dieser Auffassung zufolge täuschen wir uns, wann immer wir denken, dass es universell gültige moralische Wahrheiten gibt: Es gibt eben nur unterschiedliche Kulturen mit unterschiedlichen Moralvorstellungen. Die Moralvorstellungen einer anderen Kultur zu kritisieren, ist dieser Ansicht zufolge ähnlich absurd, wie wenn man bemängeln würde, dass Menschen in anderen Erdteilen die falsche Kleidung tragen oder ihr Essen falsch zubereiten.
Auf welcher Kultur basiert meine Moral?
Es ist sehr viel sehr problematisch an einer solchen Position. Zum einen setzt sie voraus, dass es überhaupt ein einheitliches Verständnis der Kulturen gibt, aus denen sich Moralansichten speisen sollen. Wenn ich richtig handeln möchte, muss ich mich gemäss den Relativist*innen am Moralkodex meiner Kultur orientieren.
Was sollte das aber für eine Kultur sein? Die polnische Kultur? Die deutsche Kultur? Oder doch diejenige der Schweiz? Welche wäre das aber? Die Deutschschweizer Kultur? Oder doch konkreter die Berner Kultur? Die protestantische Kultur oder doch lieber die katholische? Vielleicht die demokratische Kultur? Die Reitschul-Kultur? Oder doch eher die Schwingfest-Kultur?
Im Hinblick auf moralische Fragen sind in der Regel sehr viele unterschiedliche Kulturen relevant, und wir können uns mit verschiedenen davon identifizieren, durchaus auch mit mehreren auf einmal. Wir können von der einen in die andere Kultur wechseln – am deutlichsten ausgeprägt in der Situation, in der man in ein neues Land einwandert –, und wir können sogar bewusst den Versuch unternehmen, uns mit keiner der etablierten Kulturen gemein zu machen. Es gibt eben nicht die eine Kultur, die wir als ein gemeinsames Reservoir von Moralauffassungen betrachten könnten. Angesichts dieses Problems ist der Versuch, moralische Urteile aus bestimmten Kulturen abzuleiten, von Anfang an zum Scheitern verurteilt.
Infantinos universelle Neutralität
Aus der relativistischen Position ergeben sich aber noch andere problematische Konsequenzen: Nicht nur, dass wir aus der Warte des Relativismus die moralische Praxis anderer Kulturen nicht kritisieren können – wir können auch moralisch bedenkliche historische Zustände nicht als solche auszeichnen. In der Schweiz sind zwischen dem 15. und dem 17. Jahrhundert 6000 Frauen als Hexen auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden. Man kann sich darüber streiten, wie viel Verantwortung für diese Morde einzelnen Bewohner*innen der damaligen Schweiz zukommt, und ob wir sie alle gleichermassen für diese Verbrechen kritisieren sollten. Eine Theorie, die es uns unmöglich macht, diese Geschehnisse als unmoralisch zu betrachten, «weil es in der damaligen Kultur OK war», solche Dinge zu tun, ist aber nur sehr schwer ernst zu nehmen.
Hinter dem Deckmantel von Toleranz und Neutralität lassen sich bekanntlich die hässlichsten Dinge verstecken.
Die Krux mit der Position des Moralrelativismus ist, dass sie stumm macht: Es gibt keine Diskussion mehr darüber, was richtig oder falsch ist, keinen Raum für Dissens und Auseinandersetzungen, fürs Argumentieren und Überzeugen. Schaut man sich Infantinos Äusserungen noch einmal genauer an, so ist leicht zu erkennen, dass sein Relativismus zudem einen Widerspruch enthält: Moral sei relativ, wird da behauptet, auf der anderen Seite seien wir aber auch zum Respekt gegenüber unterschiedlichen Moralauffassungen verpflichtet. Diese Toleranzpflicht scheint nun gerade nicht kulturrelativ zu gelten. Offenbar gibt es also doch etwas, das für Infantino universell gilt, nämlich die Pflicht, sich nicht einzumischen und neutral zu bleiben.
Hinter dem Deckmantel von Toleranz und Neutralität lassen sich bekanntlich die hässlichsten Dinge verstecken. Infantino geriert sich an dieser Stelle wie ein Anhänger eines globalen Liberalismus, frei nach dem Motto, dass jeder Staat nach seiner eigenen Fasson selig werden soll.
Dabei hat ja niemand gefordert, dass die Vereinten Nationen Blauhelme nach Katar entsenden. WM-Kritiker*innen monieren nicht grundsätzlich, dass in Katar moralisch problematische Dinge passieren, sondern dass diese Dinge passieren und dennoch eine WM in dem Land veranstaltet wird. Und auch, dass diese Dinge passieren, weil eine WM in dem Land stattfindet. Dadurch geraten wir aus der Rolle unbeteiligter Beobachter*innen, von denen man vielleicht noch Neutralität und Toleranz hätte fordern können, zu Akteur*innen, die in einem moralisch heiklen Verhältnis zu den Vorgängen in Katar stehen.
Zuschauen macht uns mitverantwortlich
Sind wir also verantwortlich für die zu Tode geschundenen Arbeitsmigrant*innen, die in der Wüste Stadien bauen mussten? Nur weil wir am Sonntag das Eröffnungsspiel schauen werden?
In dem klassischen Sinne, in dem der Urheber einer Handlung für sie verantwortlich ist, sind wir es selbstverständlich nicht. Aber man kann in diesem Zusammenhang von sekundärer Verantwortlichkeit oder Komplizenschaft reden. Wer die WM-Spiele mit reinem Gewissen anschauen möchte, wird hier vielleicht Folgendes einwenden: Kann man denn überhaupt durch etwas, das man erst zu tun beabsichtigt, zum Komplizen oder zur Komplizin eines in der Vergangenheit vollzogenen Verbrechensakts werden? Man kann doch nicht zum Mittäter oder zur Mittäterin einer Handlung werden, die man selbst nicht ausgeführt hat!
Es lassen sich hier aber zwei Dinge entgegnen: Zum einen passieren in Katar immer noch moralisch problematische Dinge – man denke nur an die Diskriminierung von LGBTQIA+-Personen oder die Unterdrückung von freiem Journalismus. Zum anderen ist die Ausbeutung der Arbeitsmigrant*innen Bestandteil eines grösseren Plans gewesen, dem wir nun zu einem krönenden Abschluss verhelfen sollen, indem wir als Zuschauer*innen die WM zu einer gelungenen Imagekampagne fürs Gastgeberland machen. In diesem Zusammenhang können wir sehr leicht zu Kompliz*innen der Verbrechen in Katar werden.
Sich gemeinsam zu freuen verbindet. Sich gemeinsam zu schämen ist unangenehmer.
Schon bei der letzten WM hatte ich mir vorgenommen, die Spiele nicht zu verfolgen und bin dann doch bei zwei, drei Partien schwach geworden. Dieses Jahr werde ich nicht mal in den Live-Ticker reinschauen. Und ich werde eben auch das gemeinschaftliche Erlebnis missen müssen, das in meinen Erinnerungen an die Spanien-WM und an das Public Viewing in Bern so präsent ist.
Sich gemeinsam zu freuen verbindet. Sich gemeinsam zu schämen ist unangenehmer. Das müssten wir aber, wenn wir Infantinos pseudotolerantem Appell folgen wollten. Auf so ein gemeinschaftliches Erlebnis kann ich für meinen Teil sehr gut verzichten. Und ganz ähnlich sieht es bei vielen meiner Freund*innen und Bekannten aus. Es gibt ja schon genug Dinge, bei denen wir uns auf die eine oder andere Weise zu Kompliz*innen von Ungerechtigkeiten machen.
Christian Budnik ist Philosoph. Er verbrachte seine ersten Lebensjahre in Polen, emigrierte dann mit seiner Familie nach Deutschland und lebt nun seit 15 Jahren in Bern.