Geflüchtet, aber vergessen
Geflüchtete aus der Ukraine, die keinen ukrainischen Pass haben, erhalten in der Schweiz nicht automatisch den Schutzstatus S – selbst wenn sie lange dort gelebt und einen legalen Aufenthaltsstatus haben. Die Bernerin Nadra Mao kämpft mit der «Society Moko» für die «vergessenen Geflüchteten».
Sie habe einen Moment gebraucht, sagt Nadra Mao. Dann erst habe sie realisiert, wie sich die Schweiz verhalte. Und was das für Menschen wie sie bedeute. Nadra Mao ist empört – und nun nicht mehr zu bremsen: «Das darf nicht sein. Wir sind unglaublich enttäuscht.»
Mit wir meint die Berner Kommunikationsspezialistin Mao Schweizer Secondos: Menschen, die seit Jahrzehnten in der Schweiz leben oder sogar hier geboren sind, mit einem legalen Aufenthaltsstatus aber teilweise ohne Schweizer Pass. Müssten sie aus der Schweiz fliehen, würden sie für die Migrationsbehörden in einem anderen Land als «Schutzsuchende aus Drittstaaten» gelten.
Nun treffen genau solche «Schutzsuchende aus Drittstaaten» aus dem Kriegsgebiet der Ukraine in der Schweiz ein – Menschen, oft aus afrikanischen Ländern wie Nigeria oder Ghana, die in der Ukraine studiert oder gearbeitet haben, mitunter jahrzehntelang. Viele von ihnen, sagt Nadra Mao, hätten sich sprachlich, kulturell und intellektuell in der Ukraine integriert. Und auch sie hätten Familienmitglieder, Verwandte oder Freund*innen, die sich noch in der Ukraine befinden. Als Heimat empfänden sie eher die Ukraine als ihr Herkunftsland.
Trotzdem haben Geflüchtete aus der Ukraine, die ursprünglich aus Drittstaaten stammen, geringe Chancen auf den Schutzstatus S, den Ukrainer*innen automatisch erhalten.
Verklausulierte Behördensprache
Wer verstehen will, wie die schweizerischen Behörden in der aktuellen Ukraine-Krise mit Geflüchteten aus Drittstaaten umgehen, ist gezwungen, komplizierte Behördensprache zu entschlüsseln. Auf Anfrage erläutert ein Mediensprecher des Staatssekretariats für Migration (SEM) die Bedingungen.
Im O-Ton liest sich das so: «Schutzsuchende aus Drittstaaten wie Nigeria oder Ghana sowie ihre Familienangehörigen müssen mit einer gültigen Kurzaufenthalts- oder Aufenthaltsbewilligung belegen können, dass sie über eine gültige Aufenthaltsberechtigung in der Ukraine verfügen. Sofern sie zudem nicht in Sicherheit und dauerhaft in ihre Heimatländer zurückkehren können, erhalten sie den Schutzstatus S.»
Aus der administrativen Schreibe übersetzt heisst das: Ukraine-Flüchtlinge aus Drittstaaten, die legal in der Ukraine gelebt haben, aber als in ihrem Herkunftsland nicht gefährdet eingestuft werden, erhalten in der Schweiz den Schutzstatus S nicht. Ihnen bleibt nur die Option, anstatt in die Schweiz zu flüchten in ihr ursprüngliches Land zurückzukehren, in dem sie jedoch möglicherweise kaum mehr Anknüpfungspunkte haben.
Das SEM ergänzt zum Umgang mit Geflüchteten aus Drittstaaten: Gesuchsteller*innen, die den Status S nicht erhalten, könnten diesen Behörden-Entscheid anfechten. «Jeder Fall wird einzeln geprüft, und es ist durchaus möglich, dass in einem Fall alle Voraussetzungen erfüllt sind und in einem anderen nicht», hält der SEM-Sprecher fest.
Zudem: Wer die Voraussetzungen für den Status S nicht erfülle, «kann ein Asylgesuch stellen und erhält den Schutz der Schweiz, falls er oder sie als Flüchtling anerkannt wird oder eine Rückführung in die Heimat nicht möglich, zulässig oder zumutbar ist».
«Alle flüchten vor dem gleichen Krieg.»
Nadra Mao, Aktivistin «Society Moko»
Die verklausulierten Formulierungen helfen Geflüchteten aus Drittstaaten nicht, zu verstehen, ob sie in der Schweiz erwünscht sind oder nicht. Auf jeden Fall dürfte die Chance auf einen positiven Asylentscheid gering sein, wenn zuvor der Schutzstatus S abgelehnt wurde.
Brief an Karin Keller-Sutter
Nadra Mao zeigt den vor wenigen Tagen gefällten Abweisungsentscheid eines Aserbaidschaners, der 24 Jahre in der Ukraine lebte und in dieser Zeit gemäss eigenen Angaben nur zweimal in Aserbaidschan war. Die Schweiz verweigert ihm den vorübergehenden Schutz, er wird weggewiesen.
Lassen sich Geflüchtete aus Drittstaaten auf ein Asylverfahren ein, riskieren sie die Ablehnung – und damit eine Einreisesperre in den Schengenraum für drei Jahre. Das würde nach dem Krieg die Rückkehr in die Ukraine erschweren, obschon Geflüchtete aus Drittstaaten dort teilweise Wohnungen oder Firmen besitzen.
«Alle flüchten vor dem gleichen Krieg», sagt Nadra Mao, «ich verstehe nicht, warum sie in der Schweiz nicht gleich behandelt werden.» Die Attestierung des Zugehörigkeitsgefühls und das Bedürfnis der Wiedervereinigung mit Freund*innen und Familie in der Ukraine auf das Vorhandensein eines Passes zu beschränken, könne nicht im humanitären Sinn unseres Landes sein. Nadra Mao fordert in einem Schreiben an Bundesrätin Karin Keller-Sutter (FDP) und an das Staatssekretariat für Migration, auch allen Drittstaatenflüchtlingen aus der Ukraine den vorübergehenden Schutz zu gewähren, damit sie sich in Ruhe neu orientieren könnten.
Kritik an der Schweiz
Mao tut das nicht allein, sondern als Mitglied der schweizweiten Freiwilligenorganisation «Society Moko», die sie mit Meriam Mastour, Jean Noël Sese, Chancel Soki und Dony G. Tutonda vor wenigen Wochen gegründet hat. «Society Moko» – übersetzt bedeutet es: eine Gesellschaft — ist Teil des internationalen Netzwerks «Global Black Coalition», das die kanadische Aktivistin Gwen Madiba initiiert hat.
Die schwarze Community will ihren vulnerablen Mitgliedern in der Ukraine gegen Diskriminierung beistehen. Madiba selber war eben einen Monat in Europa unterwegs, um aus der Ukraine geflüchtete schwarze Studierende dabei zu unterstützen, einen Ersatzstudienplatz an einer europäischen Uni zu finden.
Für die Schweiz und ihren Umgang mit Drittstaatenflüchtlingen fand Madiba kritische Worte. Sie habe in der Schweiz auch eine Rassismus-Episode erlebt. Als sie einen Studierenden aus der Ukraine am Bahnhof einer Gastfamilie übergeben wollte, habe diese kurzerhand abgelehnt, als sie sah, dass der Gast Schwarz war.
Madibas Kritik deckt sich teilweise mit Erfahrungen der «Society Moko», die von verschiedenen Fällen behördlicher Willkür berichtet. So seien etwa einigen Ukraine-Flüchtlingen aus Ghana bei der Anmeldung für den Status S die Pässe abgenommen worden, anderen nicht.
Vor vielen Ausschaffungen?
Der «Society Moko» haben sich bis jetzt über 70 Freiwillige angeschlossen, sie kümmern sich laut Mao um derzeit rund 40 Geflüchtete aus Drittstaaten in der ganzen Schweiz. Sie stellen ihnen Verpflegung und Wohnraum zur Verfügung, unterstützen sie mit juristischer und psychologischer Beratung.
Dank Nadra Maos Initiative und der entsprechenden Anregung von Nationalrätin Sibel Arslan (Grüne) in der Fragestunde des Nationalrats willigte der Bund immerhin ein, Geflüchtete aus Drittstaaten für 90 Tage ab Kriegsbeginn (24. Februar) visumfrei zu akzeptieren. Sofern sie ein Gesuch um Erteilung des Status S einreichen.
Diese Frist läuft am 24. Mai ab. Wenn sich bis dann an der Bewilligungspraxis nichts ändert, «werden wir sehr viele Ausschaffungen erleben», sagt Nadra Mao. Studierende aus Afrika oder Asien ohne abgeschlossene Ausbildung, Arbeiter*innen, die ihre Familien nicht mehr ernähren können, sowie Menschen, die ohnehin entwurzelt seien, fänden sich in Ländern wieder, die ihnen weder Alternativen noch Hilfe bieten könnten.
Nadra Mao macht nun den Vergleich, der sie aufwühlt. In der Schweiz leben über zwei Millionen Menschen ohne Schweizer Pass. Würde die aktuelle Drittstaatenregelung auf Schweizer*innen angewandt, hiesse das, dass einem Viertel der Schweizer*innen, wenn sie flüchten müssten, nicht der gleiche Schutz gewährt würde wie der Mehrheit. Sind diese zwei Millionen Schweizer*innen im Fall eines Kriegs als «nicht schutzbedürftig» zu betrachten?
Diese Frage wirft die «Society Moko» auf. Für Nadra Mao ist die Antwort klar. Und deshalb kämpft sie mit ihren Verbündeten weiter.