Justitia mit der Schere

Geraldine Scherler ist Coiffeurin und Anwältin. In der Berner Altstadt kombiniert sie ihre beiden Berufe, die mehr verbindet als erwartet.

Portraits von Geraldine Scherler, Anwältin und Coiffeurin bei JULO für das Online-Medium Hauptstadt, in Bern am 16.04.2024
Frisur und Rechtsklarheit nennt Geraldine Scherler ihr Angebot. (Bild: Daniel Bürgin)

«Das habe ich noch nie jemandem erzählt.»

Diesen Satz hört Geraldine Scherler oft, wenn sie Kund*innen die Haare schneidet. «Als Coiffeurin bin ich für viele Menschen eine wichtige Ansprechperson. Es ist verrückt, was ich alles über sie weiss.» In knapp zwei Stunden entstehe ein Vertrauensverhältnis, wie es unter anderen Umständen kaum zustande komme, erzählt Scherler.

Lange bedauerte sie, dass es bei diesen Gesprächen blieb. Dass sie den Leuten ausserhalb des Coiffeurbesuches nicht weiterhelfen konnte bei ihren Problemen.

Geraldine Scherler, 34-jährig, hat noch einen zweiten Beruf. Sie ist Anwältin. «Dort vermisse ich die praktische Arbeit mit den Händen.»

Letzten Sommer machte Scherler Urlaub in Finnland, zwei Monate lang arbeitete sie in Gärten, in der Natur. Da erinnerte sie sich an eine Idee, die sie früher als Witz erzählt hatte: Warum nicht ihre beiden Berufe kombinieren? Rechtsberatung während des Haareschneidens. Zurück in Bern erfuhr sie von einem passenden Raum, der gerade frei wurde. Rund ein halbes Jahr nach Schlüsselübergabe, im März 2024, eröffnete sie ihren Salon in der Berner Altstadt.

Portraits von Geraldine Scherler, Anwältin und Coiffeurin bei JULO für das Online-Medium Hauptstadt, in Bern am 16.04.2024
Neben dem Spiegel liegen Rechtszeitschriften statt Klatschheftli. (Bild: Daniel Bürgin)

Der grosse goldgerahmte Spiegel, das Waschbecken und der markante Coiffeurstuhl zeigen an, wozu dieser Raum dient. Doch ein Blick durch die Detailbrille eröffnet eine zweite Ebene: Auf dem Wandregal stehen Gesetzesbücher und Rechtsratgeber; neben dem Spiegel liegen Rechtszeitschriften und Broschüren von Beratungsstellen. Und weit oben an der Wand hängt – fast etwas versteckt – Geraldine Scherlers Anwältinnen-Diplom.

Neben ihrer Selbständigkeit arbeitet Scherler zu 70 Prozent bei der Kantonsverwaltung. «Das gibt mir Stabilität.» So könne sie es sich erlauben, Erfahrungen zu sammeln mit ihrem Geschäftsmodell und es auf Basis von Rückmeldungen der Kund*innen anzupassen.

Der lange Weg zum Jus-Studium

Als Jugendliche wollte Geraldine Scherler etwas Kreatives machen und mit Menschen zu tun haben. «Coiffeurin war mein Traumberuf.» Coiffeurin, lieber nicht Coiffeuse. Das -euse klinge abwertend. Schnell merkte sie aber, dass sie noch was anderes brauchte und schnupperte in der Sozialen Arbeit. Dort gefielen ihr die Aufgaben am besten, die Jurist*innen erledigten. Also ein Jus-Studium. Zuerst Berufsmatura, dann Passerelle. «Eine sehr strenge Zeit», erinnert sie sich. Innerhalb eines Jahres musste sie sich den Maturstoff aneignen und am Prüfungstag abliefern – neben einem 50 Prozent-Pensum als Coiffeurin.

Auch während des Studiums arbeitete sie als Coiffeurin. Sie entdeckt die Gemeinsamkeit ihrer beiden Leidenschaften: «Es geht immer um Menschen und ihre Geschichten.»

Besonders stark interessieren sie die Geschichten, die im Familienrecht und im Arbeitsrecht spielen. Dort geht es um Beziehungen, um Scheidungen, Trennungen. Sollen wir heiraten? Wie können wir uns im Todesfall absichern? Was muss ich beachten, wenn ich mich selbständig mache? Zu solchen Fragen berät Geraldine Scherler ihre Kund*innen während des Haareschneidens.

Portraits von Geraldine Scherler, Anwältin und Coiffeurin bei JULO für das Online-Medium Hauptstadt, in Bern am 16.04.2024
Geraldine Scherler schneidet die Haare trocken und mit einer Technik, die Locken mehr Sprungkraft verleihen soll. (Bild: Daniel Bürgin)

Genauer: Nach dem Haareschneiden. «Während des Schneidens erzählen mir die Kund*innen ihr Problem. Ich höre zu und mache mir nötigenfalls Notizen.» Das dauert zirka eine halbe Stunde. Dann wäscht und föhnt Scherler die Haare, beide können sich entspannen oder nachdenken. Am Schluss setzen sie sich an den Tisch, wo die eigentliche Beratung erfolgt.

Für manche Kund*innen ist die Sache nach einer Sitzung geklärt, andere kommen mehrmals, manchmal auch nur für die Rechtsberatung. Alle Dienstleistungen sind einzeln oder als Paket buchbar. Zum Beispiel kosten 90 Minuten Waschen-Schneiden-Föhnen-Rechtsberatung zwischen 210 und 380 Franken. Ohne die Rechtsberatung sind es 90 bis 140 Franken.

Fokus statt Vielfalt

Vor Gericht geht Scherler nicht. Dazu verweist sie ihre Klient*innen an spezialisierte Anwält*innen. «Der Kampf vor Gericht entspricht mir nicht. Lieber suche ich nach Lösungen, die für alle Beteiligten stimmig sind.» Mit einer Beratung könnten viele Konflikte vermieden werden, ist Scherler überzeugt. Ausserdem fokussiere sie lieber auf eine Sache, mache diese dafür sehr gut.

Auch beim Haareschneiden hat sie ihr Angebot genau eingegrenzt. Sie schneidet die Haare trocken und mit einer Technik, die Locken mehr Sprungkraft verleihen soll. Die Liste der Inhaltsstoffe der Pflegeprodukte ist kurz und Extensions bietet sie nicht an.

Geraldine Scherler beobachtet, dass Leute anders reagieren, wenn sie sich als Coiffeurin oder als Anwältin vorstellt. Bei der Variante «Anwältin» kommen mehr Fragen. «Die gesellschaftliche Wertung beider Berufe ist wohl unterschiedlich», mutmasst sie. Sie will aber niemandem unterstellen, den Coiffeurinnenberuf abzuwerten. «Vielleicht liegt es auch daran, dass die meisten sich durch eigene Erfahrungen vorstellen können, was eine Coiffeurin macht.»

Wenn sie dann erzählt, dass sie beides zusammen macht, meinen viele Leute, es sei ein Witz. Dann zückt sie jeweils eine Visitenkarte, auf der steht: Frisur und Rechtsklarheit. Darauf abgebildet ist eine Justitia, die römische Göttin der Gerechtigkeit und ein Symbol, das oft verwendet wird, wenn es um das Recht geht.

Wer genau hinblickt, entdeckt aber Abweichungen zum mythologischen Vorbild. Geraldine Scherlers Justitia trägt keine Augenbinde, «weil ich keine Richterin bin und die Menschen als Individuen sehe». Und das Schwert ist ersetzt durch eine Schere – Scherler schneidet Haare, sie prozessiert nicht. Einzig die Waage ist originalgetreu, «denn auch in meinen Beratungen geht es darum abzuwägen und möglichst gerechte Lösungen zu finden.» Bald soll eine Messing-Version der modifizierten Justitia im Salon stehen. «Sie ist gerade noch in der Giesserei.»

Portraits von Geraldine Scherler, Anwältin und Coiffeurin bei JULO für das Online-Medium Hauptstadt, in Bern am 16.04.2024
Geraldine Scherler träumt davon, in ihrem Salon noch mehr Disziplinen zu vereinen. (Bild: Daniel Bürgin / hauptstadt.be)

Geraldine Scherler kennt keine andere Person, die wie sie Rechtsberatung und Haarschnitt anbietet. «Ich würde mich aber sehr gerne mit jemandem austauschen, der oder die das gleiche macht wie ich.» Auch bei den Kund*innen müsse sich ihr Angebot noch rumsprechen. Im Moment würden viele allein zum Haareschneiden kommen, doch die Rechtsberatung laufe langsam an.

Langfristig fände sie es schön, wenn sie in ihrem Rechtssalon noch mehr Disziplinen «rund um den Menschen» unter einem Dach vereinen könnte. Körpertherapien etwa. «Durchs Zusammenarbeiten könnten wir alle voneinander profitieren.»

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