Zollikofen Spezial

Die grosse Unbekannte

Ostermundigen hat das Hochhaus, Köniz die Finanzsorgen, Ittigen bald die tiefsten Steuern. Aber Zollikofen? Die «Hauptstadt» ist eine Woche zu Gast in einer Gemeinde, die unablässig ihre Identität sucht. Und in der weit in die Zukunft gedacht wird.

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Gelandet: Die «Hauptstadt»-Redaktion arbeitet diese Woche im «Quadrat» in Zollikofen. (Bild: Simon Boschi)

Was macht Zollikofen aus?

Ich bin in Zollikofen aufgewachsen, und ich erinnere mich an einen Frühling, es muss das Jahr 1973 gewesen sein. Ich kam in die 3. Klasse, und wir waren der erste Jahrgang, der das Tomaten-Schulhaus bezog – so nannte man in Zollikofen die neue, in auffälligem Rot gehaltene Schulanlage Geisshubel.

Was noch auffälliger war als die Farbe: Das Schulhaus stand mitten auf der grünen Wiese. Auf meinem neuen Schulweg gab es nun plötzlich verbotene Abkürzungen quer übers Feld, und nach Schulschluss am Samstag um 11 Uhr fuhr unser freakiger Lehrer uns manchmal mit seinem Döschwo in aufregender Schräglage zurück ins Dorf.

Am Meer

Das Tomaten-Schulhaus ist mein persönlicher Zollikofen-Gradmesser: Es steht zwar noch am Siedlungsrand, aber der Zwischenraum zum eigentlichen Dorf ist komplett zugebaut. Ich fände heute keine Abkürzungen mehr auf dem Schulweg, und der Döschwo-Lehrer würde sich nie im Leben mehr trauen, sich so in die Kurve zu legen.

Manchmal kommt mir Zollikofen vor, als läge es am Meer. Die Siedlung dehnt sich aus wie die See bei Flut. Der Pegel steigt. Nicht dramatisch. Aber ständig. 

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Steigt wie die See bei Flut: Das Siedlungsmeer von Zollikofen. (Bild: Simon Boschi)

Was macht Zollikofen aus?

In einer umfassenden Befragung namens Gemeinderadar gab die Bevölkerung 2020 ziemlich klar Auskunft, was sie von der Gemeinde hält, in der sie lebt. Pointiert zusammengefasst: Zollikofen gefällt, weil man hier gut wohnen kann und schnell in Bern ist. Der ÖV-Anschluss ist kaum zu toppen – vom Bahnhof Bern ist man schneller in Zollikofen als am Burgernziel. Gleichzeitig stört die Befragten der Verkehr auf der zentralen Bernstrasse, zudem fehlen ein Ortszentrum und Begegnungsmöglichkeiten. 

Man könnte sagen: Für den Kopf ist Zollikofen ganz praktisch, aber für das Herz ist es zu wenig.

Im Sturm

Vielleicht hängt das damit zusammen, dass Zollikofen bis heute den Hang hat, sich von stürmischen Entwicklungen mitreissen zu lassen. Einst war Zollikofen eine ziemlich verträumte Ansammlung von Einzelhöfen und Weilern, mit ruralen Namen wie Büelikofen oder Landgarben, ehe der Bau der Tiefenaubrücke (bei Worblaufen) vor 170 Jahren Zollikofen an die urbane Entwicklung Berns anschloss.

Via Tiefenaubrücke und Bernstasse ergoss sich ab den 1960er-Jahren ein erster grosser Wachstumsschub über Zollikofen. Es entstand Wohnsiedlung um Wohnsiedlung, vor allem für Familien, die der damals stark verkehrsbelasteten Stadt den Rücken kehrten. Bereits 1971 hatte Zollikofen eine Bevölkerungszahl von 9250 Einwohner*innen, wie der beschlagene Dorfchronist Bernhard Junger festhält. Allerdings dauerte es dann 39 Jahre, bis  Zollikofen die 10’000er-Marke überschritt.

Im Wachstum

Der steigende Wohlstand prägte auch Zollikofen und machte preisgünstigen Wohnraum rar. Zwar wurde stets weiter gebaut, aber die durchschnittlich pro Person beanspruchte Wohnfläche wuchs (und wächst) ohne Unterbruch, weshalb sich die Bevölkerungszunahme verlangsamte. Aber bloss vorübergehend. 

Gerade geht es wieder steil aufwärts: Im laufenden Jahr dürfte Zollikofen das eigentlich für 2040 fixierte Wachstumsziel (11’100 Einwohner*innen bei rund 10’000 Arbeitsplätzen) erreichen. In den nächsten Jahren sollen weitere 500 Wohnungen entstehen. 

Was man angesichts dieser Zahlen mit Sicherheit voraussagen kann: Der Verkehr in Zollikofen wird nicht abnehmen.

Im Aufbruch 

Ist Zollikofen Stadt oder Dorf? Es ist kein Zufall, dass diese Frage nie abschliessend beantwortet wird. «Zollikofen darf sich selbstbewusst und stolz eine Agglomerationsgemeinde nennen, die weder Stadt noch Dorf ist, dafür attraktiv zum Wohnen und Arbeiten, mit schönen Grünräumen zwischen den Siedlungsgebieten», hielt der Gemeinderat vor wenigen Monaten in einer Stellungnahme auf einen politischen Vorstoss fest.

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Redaktion in der Möbelausstellung: Die «Hauptstadt» im «Quadrat». (Bild: Simon Boschi)

Man kann diese Aussage als nichtssagenden Lokalpolitiker*innen-Slang abtun. Oder daraus herauslesen, dass in Zollikofen vieles möglich ist, was man nicht erwarten würde. Mag sein, dass Zollikofens Identität nicht greifbar ist, unspektakulär, langweilig. Das ist gleichzeitig eine gute Basis für positive Überraschungen. Im unscheinbaren Zollikofen entstehen vielleicht Dinge, für die in gehypten Stadtquartieren kein Platz ist.

Genau das sucht die «Hauptstadt» in Zollikofen.

Im «Quadrat»

Seit gestern Montag und bis Freitag haben wir unsere Redaktion ins «Quadrat» gezügelt, diesen Ort, durch den aus unserer Sicht ein unkonventioneller Geist weht. Das eigenwillige Unternehmen an der Bernstrasse, das Dan Hodler 1993 in der Länggasse gegründet hatte, ist Architekturbüro, Second-Hand-Möbelladen für Designklassiker, Eventlokalität, Reparaturwerkstätte und Co-Working-Space in einem. Wir arbeiten mit unseren Laptops mitten in der Möbelausstellung, und wir versuchen, Zollikofen auf den Grund zu gehen. Und unsere Art Lokaljournalismus zu betreiben: Indem wir vor Ort sind, Menschen begegnen und selber für ein paar Tage ins Leben von Zollikofen eintauchen.

Was geht an der verrückten Bernstrasse wirklich ab? Warum wird gerade in Zollikofen so viel über nachhaltiges Bauen und die Zukunft des Wohnens nachgedacht? Wie nahe kommen sich Stadt und Land(wirtschaft)? Ist Besamer wirklich ein Traumberuf? Wie tickt Zollikofens Gemeindepräsident Daniel Bichsel (SVP)? Das sind Fragen, denen wir nachgehen.

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Morgengymnastik: «Quadrat»-Gründer Dan Hodler beim Montieren der «Hauptstadt»-Fahne. (Bild: Simon Boschi)

Und etwas lassen wir uns auf keinen Fall entgehen: Den legendären Brunch, den eine Gruppe von Senior*innen jeden Samstag im Quadrat organisiert. Die «Hauptstadt» wird am kommenden Samstag anwesend sein. Und wir freuen uns schon auf die Tübeli aus Zopfteig, die auch die «Bärner Meitschi» restlos überzeugten. Falls du mit uns beim Brunch dabeisein willst – hier geht es zur Reservation

Zollikofen wird für die «Hauptstadt» nach dieser Woche nicht mehr die grosse Unbekannte sein. 

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Multitasking: «Hauptstadt»-Journalist Mathias Streit an der «Quadrat»-Bar. (Bild: Simon Boschi)
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Diskussion

Unsere Etikette
Christian Cappis
13. September 2022 um 09:28

Tomaten gibt es sowohl in der Stadt wie auch im Dorf. Vielleicht hilft der Schulunterricht in einem Tomatenschulhaus um zur Erkenntnis zu gelangen, dass Tomaten im Quadrat überraschendes zu bieten haben und mehr sind als einfach städtische oder ländliche Gewächse.

Freue mich wie eine Tomate 🍅 auf die nächsten Folgen!

Tom