Hühner in der Hauptstadt
Unseren Philosophie-Kolumnisten Christian Budnik befällt ein gewisses Unwohlsein, wenn er in der Stadt Bern auf Hühner stösst. Sind sie Vorboten einer posturbanen Einöde?
Bern ist die fünftgrösste Stadt der Schweiz. Und doch leben hier Hühner. Vor einem Wohnhaus in einem der belebteren Quartiere stochern und picken sie in der Erde und strafen die Passanten durch den Maschendrahtzaun hindurch mit hühnertypischer Gleichgültigkeit. Am anderen Ende des Quartiers hört man einen Hahn krähen. Nicht nur morgens. Und nicht selten stösst man in den Hinterhöfen dieses oder anderer Quartiere auf Kaninchenställe.
Mich verwirren diese Kleintiersichtungen immer ein wenig. Meine Verwirrung hat ihrerseits etwas Befremdliches, habe ich doch eigentlich kein Problem mit Hühnern. Sie erinnern mich an meine Kindheit und die Besuche auf dem Bauernhof meiner Urgrossmutter. Es scheint ihnen auch ganz gut zu gehen in Berns Vorgärten, besser immerhin, als man es wohl von den meisten ihrer Artgenossen behaupten kann. Und dass unsere Kinder mit Tieren aufwachsen, ist ja auch ganz schön.
Lagerfeuer und Kartoffelpflanzen ...
Allerdings sind es nicht die Tiere als solche, deren Anblick mich verwirrt, sondern die Tatsache, dass sich diese Art der Kleintierhaltung in etwas einfügt, das man mit einem hässlichen Neologismus als die Zerdorfung des städtischen Raums bezeichnen könnte.
Zerdorfung ist keine Berner Spezialität. Ich beobachte das Phänomen auch in anderen Städten wie Zürich oder Berlin. Hier wie da scheint es sich um eine Facette der Gentrifizierung zu handeln, die sich nicht auf die Haltung von Tieren beschränkt, sondern Einstellungen und Verhaltensweisen umfasst, die ansonsten eher im ländlichen Raum anzutreffen sind. Wie mit den Hühnern ergeht es mir etwa, wenn ich mit dem Velo Quartiersstrassen zu durchqueren versuche, die von Anwohner*innen eigenmächtig verkehrsberuhigt wurden; wenn ich in Hinterhöfen an regelrechten Lagerfeuern vorbeilaufe; auf Spielplätzen Kartoffelpflanzen in Hochbeeten bestaune oder Eltern sehe, die ihre Kinder in einem einem Holzleiterwägeli in den Kindergarten bringen.
... oder Freude an Lärm und Gedränge
Man mag sich fragen, was daran verwirrend sein sollte. An dieser Stelle ist eine in der philosophischen Forschung geläufige Unterscheidung erhellend – die Unterscheidung zwischen dem instrumentellem Wert einer Sache und einer Sache, die um ihrer selbst willen wertvoll ist. Für Personen, die an Prozessen der Zerdorfung beteiligt sind, scheint das Leben in der Stadt lediglich auf instrumentelle Weise wichtig zu sein. Man wohnt in der Stadt, weil es hier die Arbeitsstelle gibt, die einem zusagt oder die Universität, an der man studieren möchte. Vielleicht freut man sich über die vielen Einkaufsmöglichkeiten. Vielleicht schätzt man die medizinische Versorgung in einem Universitätsspital. Die Stadt ist aus dieser Sicht etwas, das man zu akzeptieren bereit ist, weil man nur hier bestimmte Sachen machen kann; könnte man diese Sachen auf dem Lande machen, würde man das vielleicht viel lieber tun.
Umgekehrt kann man die Stadt aber auch um ihrer selbst willen wertschätzen. Das bedeutet, dass man sie eben nicht nur in Kauf zu nehmen bereit ist, weil es nicht anders geht, sondern dass man das urbane Leben als Gesamtpaket wertvoll findet – sowohl seine schönen als auch seine anstrengenden Aspekte. So geht es mir in der Regel. Mein Herz geht auf, wenn aufgrund der vielen Baumassnahmen im Breitsch immer wieder Busse durch ansonsten stille Quartierstrassen fahren. Ich mag das Geräusch einer Tram und wie der Boden zittert, wenn sie vorbeifährt. Ich mag das Menschengedränge am Bahnhof und fühle mich unwohl an Wintersonntagen, an denen Bern wie ausgestorben wirkt. Es gibt Menschen, die das Laute und Dreckige an Städten mögen. Vielleicht kommt einem Zerdorfung also seltsam vor, wenn man zu denjenigen gehört, die die Stadt auf diese Weise um ihrer selbst willen wertschätzen?
Andererseits kann man auch Aspekte des ländlichen Lebens um ihrer selbst Willen wertschätzen. Es ist toll, dass man auf dem Lande näher an der Natur ist und abends nur die Hunde bellen hört, auch wenn dies nicht dabei hilft, andere Ziele zu erreichen. Auch Landleben kann Selbstzweck sein.
Wie vereinbar sind die nicht-instrumentellen Werte des Landlebens und des Lebens in der Stadt?
Wenn sich aber beides um seiner selbst willen wertschätzen lässt – das Leben auf dem Lande und das Leben in der Stadt –, spricht auf den ersten Blick nichts dagegen, dass wir versuchen sollten, beide dieser nicht-instrumentellen Werte zu realisieren. Und genau das machen offenbar diejenigen, die sich in der Stadt Hühner halten oder einen Leiterwagen durch die Gegend fahren. So gesehen ist nichts wirklich Verwirrendes an meinen Quartierbeobachtungen. An dieser Stelle taucht aber unmittelbar die Frage auf, ob das Beste aus diesen zwei Welten auch wirklich zu erreichen ist. Wie vereinbar sind die nicht-instrumentellen Werte des Landlebens und des Lebens in der Stadt?
Sehnsuchtsgeste Hühnerstall
Auch wenn man den Stadt-Land-Gegensatz weniger drastisch verstehen kann, als ich es hier tue, läuft die Realisierung beider Werte oft auf Konflikte hinaus, die sich nicht leicht auflösen lassen. Zerdorfung findet auch dann statt, wenn die Öffnungszeiten von Bars verkürzt oder Clubs ganz geschlossen werden, weil einige Anwohner*innen es in der Stadt lieber leiser hätten. Tragisch sind solche Entwicklungen mitunter deswegen, weil an die Stelle der lärmigen Stadt keinesfalls dörfliche Gemütlichkeit tritt, sondern allzu oft eine Art posturbane Einöde, ein endloser Wintersonntag.
Und selbst da, wo es um harmlose Kleinigkeiten wie Hühner oder Leiterwagen geht, gegen die man nicht ernsthaft etwas haben kann, bleibt ein Rest von Unbehagen. Ähnlich wie die nostalgische Sehnsucht nach einer anderen Zeit hat die diesen Praktiken innewohnende Sehnsucht nach einem anderen Ort nämlich nicht selten etwas Kitschiges. Man würde dann doch nicht ganz aufs Land ziehen wollen. Für viele wäre schon die Agglomerationsgürtel eine Herausforderung. Die Sehnsuchtsgeste verharrt dann irgendwo zwischen Naivität und Unaufrichtigkeit.
Authentische Stadtlandwirtschaft muss weichen
Dass es auch authentisch geht mit dem Landleben in der Stadt, sieht man an Orten, an denen tatsächlich Landwirtschaft betrieben wird, etwa dem Aare-Bauernhof zwischen dem Lorrainebad und dem ehemaligen Brauereigelände im Altenberg. Immer wenn ich an der schönen alten Wiese vorbeilaufe, wird selbst mir als eingefleischtem Stadtmenschen unmittelbar deutlich, worin der nicht-instrumentelle Wert des Ländlichen besteht.
Ironischerweise wird der Pächter zum Jahresende aus verschiedenen Gründen den Betrieb des Bauernhofs einstellen müssen. Auf der Wiese könnten statt Apfelbäumen bald zweigeschossige Wohngebäude stehen. Noch ist nichts beschlossene Sache. Aber mir graut jetzt schon davor, denn ich kann mir nunmal keine Welt vorstellen, in der solche Wohnbauprojekte nicht sofort jede Menge solvente Interessent*innen finden. Optional auch mit integriertem Hühnerstall.
Christian Budnik ist Philosoph. Er verbrachte seine ersten Lebensjahre in Polen, emigrierte dann mit seiner Familie nach Deutschland und lebt nun seit 15 Jahren in Bern.