«Mit dem Finger auf andere zu zeigen, funktioniert in der Klimapolitik nicht»
Bern hat das Klima-Duell gegen Zürich verloren. Adrian Stiefel leitet in der Stadt Bern das Amt für Umweltschutz und erklärt die Gründe der Niederlage. Das Geld ist nur einer davon.
Adrian Stiefel, die «Hauptstadt» und tsüri.ch haben die Klimareglemente der Städte Bern und Zürich verglichen. Bern hat das Duell zwei zu sechs verloren. Was sagen Sie zu dieser Niederlage?
Ich gratuliere Zürich zum Sieg. Der Vergleich zeigt, dass die Stadt Zürich gerade in den Bereichen der grauen Energien und der nachhaltigen Vermögensbewirtschaftung konkretere Ziele hat als die Stadt Bern. Der Vergleich zeigt aber auch, dass beide Städte sich ambitioniertere Ziele gesteckt haben als der Bund mit seiner Energiestrategie 2050.
Als wir am Telefon den Termin für dieses Gespräch vereinbarten, zeigten Sie sich nicht allzu begeistert über die Übungsanlage unseres Vergleiches.
Ein direkter Vergleich zweier Städte ist schwierig, weil die Schweiz föderalistisch organisiert ist und jede Stadt darum andere Rahmenbedingungen hat. Das Energiegesetz des Kantons Zürich erlaubt es zum Beispiel, dass die Stadt Zürich Gas- und Ölheizungen verbieten darf. Im Kanton Bern wurde die Teilrevision des Energiegesetzes vor drei Jahren abgelehnt. Uns fehlt darum die rechtliche Grundlage für ein Verbot von Ölheizungen.
Das neue Klimareglement der Stadt Bern wird im September in Kraft treten. Eigentlich hätte das schon Anfang 2022 geschehen sollen, steht auf der Website der Stadt Bern. Auch ein Inkrafttreten per August wurde lange kommuniziert. Wie kommt es zu dieser Verzögerung?
Das Parlament hat das Reglement am 17. März 2022 verabschiedet. Danach lief während 60 Tagen die Referendumsfrist. Wer sich gegen das Reglement hätte wehren wollen, hätte in dieser Zeit Unterschriften sammeln können – das ist aber nicht geschehen. Dann brauchte es einen Entscheid des Gemeinderates, der mit einer Frist von weiteren 40 Tagen bis zum Inkrafttreten verbunden ist.
August wäre also realistisch gewesen.
Es gab eine kleine Verzögerung aufgrund der Sitzungsplanung des Gemeinderats. Das Reglement hätte frühestens in der ersten Woche im August in Kraft treten können. Aus rechtlichen Gründen können Reglemente aber erst jeweils am ersten Tag eines Monats in Kraft treten.
«Manchmal beisse ich fast in die Tischkante»
Für die Klimaschutzmassnahmen soll keine Spezialfinanzierung eingeführt werden. Jede Direktion ist selbst verantwortlich, dass sie die nötigen Finanzmittel in ihr Budget aufnimmt. Wie soll ein Reglement umgesetzt werden, dessen Finanzierung nicht gesichert ist?
Das Parlament hat sich gegen eine Spezialfinanzierung entschieden. Ich finde diesen Entscheid nachvollziehbar. Es braucht kein eigenes Kässeli für Klimaschutzmassnahmen. Viel sinnvoller ist es, dass die Stadt Bern bei jeden Aufgaben und allen Planungs- und Bauprojekten die Klimaschutz- und Anpassungsmassnahmen von Anfang an einplant und budgetiert. Da haben wir als Stadtverwaltung noch viel Potenzial gegen oben.
Die Stadt muss sparen. Ist es realistisch, dass Mehrausgaben für Klimamassnahmen bewilligt werden?
Mit dem Klimareglement wurde eine Verbindlichkeit geschaffen. Bei Interessenkonflikten haben Klimaschutzmassnahmen Vorrang. Ausserdem müssen die Kosten gerade bei Bauprojekten langfristig betrachtet werden: Die Erstinvestitionen mögen teilweise höher sein mit Klimaschutzmassnahmen, doch über die ganze Lebensdauer gesehen fahren die Stadt, und somit auch die Steuerzahler*innen, günstiger, da zum Beispiel der Betrieb eines Verwaltungsgebäudes weniger Nebenkosten verursacht.
Die Stadt will auch kein zusätzliches Personal für die Umsetzung des Klimareglements anstellen. Dabei dürfte viel Arbeit anfallen: Städtische Vorlagen müssen auf ihre Klimaverträglichkeit geprüft und Berichte über die Zielerreichungen geschrieben werden. Ausserdem wird das städtische Budget nach einer neuen Methode erstellt.
Tatsächlich haben wir zu wenig Ressourcen, was das Personal betrifft. Für mein Amt habe ich mehrmals Anträge für zusätzliche Ressourcen – auch personelle – gestellt, alle wurden abgelehnt. Zum Beispiel forderte ich vor drei Jahren Ressourcen, um die Vermögensbewirtschaftung klimaneutral zu gestalten, leider konnten sie aufgrund der städtischen Sparmassnahmen nicht gesprochen werden. Es ist also nachvollziehbar, dass Bern in diesem Bereich schlechter abschneidet als Zürich im Vergleich der «Hauptstadt». Ich habe aber sehr motivierte und engagierte Mitarbeiter*innen, die sich voll einsetzen, die Ziele des Reglements zu erreichen.
Bestimmt wollen Sie diese nicht verheizen.
Natürlich nicht. Zusätzliche Ressourcen sind notwendig, damit die öffentliche Hand alle notwenigen und wichtigen Aufträge realisieren kann, die durch die Einführung des Klimareglements anfallen. Bei der Umsetzung steht aber nicht allein die Verwaltung in der Pflicht, auch die Bevölkerung muss mitziehen, zum Beispiel bei den Gebäudesanierungen oder beim Konsum. Damit die Klimaziele erreicht werden können, braucht es vor allem auch die Investitionen der Privaten – der Gebäudebesitzer*innen, der Unternehmen und von uns allen. Sowohl auf Bundesebene, wie aber auch auf kantonaler oder städtischer Ebene gibt es viele Förderprogramme, welche die Privaten bei ihren Investitionen unterstützen. Gerade bei den energetischen Sanierungen gibt es aber noch viel Luft nach oben. Da werden von den Liegenschaftsbesitzer*innen trotz Fördermassnahmen immer noch zu oft die falschen Entscheide getroffen.
Ist es nicht zu bequem, die Verantwortung auf die Individuen abzuschieben?
Mit dem Finger auf andere zu zeigen, funktioniert in der Klimapolitik nicht. Wir alle tragen Verantwortung. Wenn wir bewusst konsumieren, hat das einen Einfluss. Meine Jeans zum Beispiel verursacht in ihrer Produktion rund 30 Kilogramm CO2. Fast jeder meiner Kaufentscheide hat also einen Einfluss aufs Klima.
Dass Konsument*innen klimafreundliche Entscheidungen treffen, bedingt ein System, das solche ermöglicht.
Mir geht es darum, dass sich alle die Frage stellen: «Brauche ich das?» und sich bewusst werden, dass ihr Konsum Auswirkungen hat. Als Stadt können und wollen wir jedoch niemandem vorschreiben, wo und was er oder sie einkauft. Wir haben keinen Hebel, um entsprechende Gesetze zu erlassen. Etwa, dass in der Stadt keine eingeflogenen Lebensmittel mehr verkauft werden dürften.
Die Stadt Zürich führte letztes Jahr eine Plakatkampagne durch, um die Stadtbevölkerung für das Ziel «Netto Null» zu sensibilisieren. Durch Bern kann man sich bewegen, ohne mit der Klimakrise konfrontiert zu werden.
In der Energie- und Klimastrategie ist vorgesehen, dass die Stadt eine Klimakampagne durchführt. Die musste aber wegen den Sparmassnahmen sistiert werden. In Sachen Sensibilisierung ist Zürich weiter, wir haben diesbezüglich Nachholbedarf.
Wie muss ich mir als Laiin die Entstehung des Klimareglements vorstellen? Haben Sie als Leiter des Amts für Umweltschutz die Rohfassung geschrieben?
Die Stadt Bern hat eine Energie- und Klimastrategie und einen Energierichtplan. Ein Überbau aber hat bisher gefehlt, ebenso ein konkreter und verbindlicher Absenkpfad für die Emissionen, beides ist wichtig für die Planungs- und Investitionssicherheit. Die Direktion für Sicherheit, Umwelt und Energie arbeitete im Sommer 2020 zusammen mit Wissenschaftler*innen einen Rohentwurf aus, den der Gemeinderat im Oktober 2020 verabschiedet und in die Vernehmlassung geschickt hat.
Dann war das Parlament an der Reihe.
Zuerst überarbeitete unsere Direktion den Entwurf aufgrund der Antworten aus der Vernehmlassung. Viele sinnvolle Vorschläge kamen da zusammen, leider konnten einige nicht aufgenommen werden, weil sie nicht gesetzeskonform sind. Zum Beispiel ein Verbot von Ölheizungen oder ausschliesslich vegetarisches Essen in öffentlichen Restaurants. Die überarbeitete Fassung kam dann in die Kommission und ins Parlament. Am 17. März 2022 hat sie der Stadtrat deutlich angenommen – zwei Jahre nach der Lancierung des Prozesses. Das ist sehr schnell gegangen.
Bereits 2009 hat Natalie Imboden, damals Stadträtin, heute Nationalrätin, in einer Motion gefordert, dass die Verringerung des Energieverbrauches gesetzlich festgeschrieben wird. Man könnte also auch sagen: Das hat sehr lange gedauert.
2006 wurde die erste Energiestrategie verabschiedet, 2014 der Energierichtplan. Diese Vorarbeit war nötig, damit wir im Klimareglement die verbindlichen Absenkpfade festlegen konnten.
Die Absenkpfade sind abgestimmt auf die bereits bestehenden Reduktionsziele des Energierichtplans. Warum ist man nicht ambitionierter geworden?
Wichtig sind die Zwischenschritte, die neu eingeführt wurden. Sie sorgen dafür, dass die Stadt schnell handeln muss. Im Energierichtplan ist nur das Ziel bis 2035 festgeschrieben. Im Klimareglement aber gibt es verbindliche und konkrete Emissionswerte pro Kopf, die im Abstand von vier und sechs Jahren schrittweise erreicht werden müssen, das erste bereits 2025. Mit dem Klimareglement sind wir, wie bereits erwähnt, ambitionierter unterwegs als der Bund mit der Energiestrategie 2050.
Auch diese Werte hätte man tiefer ansetzen können.
Zieldiskussionen sind bequem, aber ineffizient. Man signalisiert zwar, dass sich etwas tut, verschwendet aber viel Zeit und Ressourcen, ohne dass man sich um die konkreten Massnahmen zur Umsetzung der Ziele kümmert. Würden zum Beispiel die Absenkpfade im Bereich Energie weiter verschärft, müsste der Gemeinderat eine neue Eignerstrategie für Energie Wasser Bern (EWB) verabschieden und EWB wiederum die Unternehmensstrategie anpassen. Da würden wieder Ressourcen und Zeit beansprucht, ohne dass eine Massnahme mehr umgesetzt würde. Mir ist es ein grosses Anliegen, dass die öffentliche Hand ambitionierte Ziele verfolgt. Die haben wir. Wir müssen diese aber auch erreichen und uns voll auf die Umsetzung von Massnahmen konzentrieren.
Trotzdem haben viele Leute das Gefühl, dass alles viel zu langsam geht. Gerade in diesen Tagen, wenn die Temperaturen weit über 30 Grad liegen.
Die lange Dauer von Prozessen ist in unserem System angelegt, zum Beispiel die Referendumsfrist von 60 Tagen. Das ist wichtig für die demokratische Legitimation.
Wie gehen Sie mit diesem langsamen Tempo um? Sie haben Ökologie studiert, sind Natur- und Umweltfachmann und haben früher für den WWF gearbeitet. Der Erhalt einer intakten Umwelt ist Ihnen offenbar ein grosses Anliegen.
Klar, manchmal beisse auch ich fast in die Tischkante. Aber ich habe wirklich Freude, wenn ich eine Baustelle sehe, bei der eine Fernwärmeleitung verlegt wird. Oder wenn ein Unternehmen schaut, wie es effizienter arbeiten kann. Ich kann mich gut motivieren, weil ich weiss, dass meine Arbeit nötig ist, damit die Stadt Bern ihre Klimaziele erreicht.
Ihr Amt ist Teil der Direktion von Reto Nause (die Mitte). Werden Sie vom einzigen Bürgerlichen in der rot-grünen Stadtregierung gebremst?
Ich arbeite nicht nur für Reto Nause, sondern bin von der Stadt angestellt und habe einen Auftrag vom Parlament. Die Diskussionen mit Reto Nause sind spannend und zielführend. Als Energie- und Umweltdirektor beschäftigt er sich per Definition intensiv mit dem Klimathema. Wer das tut, erkennt automatisch, dass es nicht darum geht, die Existenz der Klimakrise zu bestreiten, sondern Lösungen zu suchen.
Würden die Klimaziele ambitionierter ausfallen und die Massnahmen schneller umgesetzt werden, wenn die Direktion in der Hand der Grünen oder der SP wäre?
Das ist eine hypothetische Frage. Gerade die bürgerliche Direktionsleitung führt dazu, dass der Klimaschutz in der Stadt Bern weniger ein links/rechts-Thema ist. Bei uns reicht die Akzeptanz bis in die Mitte und ins bürgerliche Lager. Auf den Ebenen von Kanton und Bund ist das etwas anders. Generell finde ich, dass wir vermehrt als ganze Stadt denken müssen, weniger in den Kategorien von Parteien und Direktionen. Das macht unnötig träge – und verlangsamt das System noch mehr.