«Dass Erdoğan so gut abgeschnitten hat, ist rätselhaft»

Der Grüne Berner Grossrat Hasim Sancar hat zum dritten Mal die Wahlen in der Türkei vor Ort beobachtet. Doch so enttäuscht wie am Sonntag war er noch nie.

Hasim Sancar, fuer die Gruenen im Berner Grossen Rat und Mitglied der Geschaeftspruefungskommission, im Interview mit der Hauptstadt nach den Wahlen in der Tuerkei . Bild: Christine Strub, ©christinestrub.ch
Hasim Sancar sitzt seit zehn Jahren für die Grünen im Berner Grossen Rat. An die Wahlen in der Türkei ist er als Beobachter angereist. (Bild: Christine Strub)

Es ist Montagabend, und Hasim Sancar ist seit 30 Minuten zu Hause im Berner Breitenrain. Er kommt direkt vom Flughafen Zürich. Erst vor wenigen Stunden hat er die südosttürkische Stadt Diyarbakır verlassen. Wie die meisten Menschen dort hat er in der vergangenen Nacht kaum geschlafen, als tröpfchenweise die Wahlresultate eingingen.

Es waren richtungsweisende Wahlen in der Türkei. Prognosen hatten erstmals ein mögliches Ende der 20-jährigen Machtzeit von Präsident Recep Tayyip Erdoğan vorhergesagt. Spätestens am Montagabend war jedoch klar: Weder Erdoğan noch sein oppositioneller Konkurrent Kemal Kılıçdaroğlu erreichen das absolute Mehr. Der Entscheid wird in einer Stichwahl gefällt werden. Erdoğan schnitt – entgegen vielen Erwartungen – mit einem Stimmenanteil von 49,5 Prozent deutlich besser ab als sein Widersacher Kılıçdaroğlu mit 44,8 Prozent.

Hasim Sancar ist nach Diyarbakır gereist, um die Wahlen zu beobachten. Der kurdischstämmige Berner Grossrat war Mitglied einer 14-köpfigen Delegation aus Zürich und Bern für die linke, prokurdische Partei HDP.

Herr Sancar, wie geht es Ihnen?

Ich bin müde. Und enttäuscht. Sehr enttäuscht! Ich habe bereits drei Wahlen in der Türkei beobachtet, aber so enttäuscht wie jetzt war ich noch nie.

Recep Tayyip Erdoğan muss sich zum ersten Mal einer Stichwahl stellen. So knapp wie dieses Mal ist es für ihn noch nie gewesen.

Trotzdem. In der Vergangenheit konnte ich jeweils ahnen, wie es ausgeht – mit einem Sieg von Erdoğan. Aber dieses Mal haben alle Prognosen versagt. Man hat einen Sieg für Kılıçdaroğlu im ersten Wahlgang erwartet. Doch sein Resultat ist zehn Prozentpunkte unter den Erwartungen geblieben. Ich kann mir das nicht erklären: Alle beklagen sich über die Teuerung, die Arbeitslosigkeit, fehlende Hilfe in den Erdbebengebieten und Menschenrechtsverletzungen. Dass Erdoğan und seine rechtskonservative Partei AKP trotzdem ein so gutes Resultat erreicht haben, ist rätselhaft. Und dass die Opposition, bestehend aus sechs Parteien und unterstützt von der HDP, nicht besser abgeschnitten hat, ist miserabel.

Hasim Sancar, fuer die Gruenen im Berner Grossen Rat und Mitglied der Geschaeftspruefungskommission, im Interview mit der Hauptstadt nach den Wahlen in der Tuerkei . Bild: Christine Strub, ©christinestrub.ch
30 Minuten vor dem Interviewtermin ist Hasim Sancar aus der Türkei nach Bern zurückgekehrt. (Bild: Christine Strub)

Sie sind in die kurdische Region Diyarbakır gereist. In welcher Funktion waren Sie da?

Eine offizielle Funktion hatten wir nicht. Wir sind als Eingeladene der Partei HDP angereist, um unsere Solidarität auszusprechen und die Wahlvorgänge zu beobachten. Am Sonntag haben wir verschiedene Wahllokale besucht.

Wie haben Sie das Wochenende erlebt?

Am Samstag, als wir gegen Abend in Diyarbakır ankamen, war es verdächtig ruhig. Ich habe noch nie so ruhige Wahlen gesehen. Es galt ein Propagandaverbot ab Samstagabend. Auch sonst waren kaum Menschen auf den Strassen. Die wenigen, mit denen ich sprach, machten alle dieselbe Feststellung: Es ist beunruhigend ruhig.

Weshalb war es so ruhig?

Die Stimmung war sehr angespannt. Niemand wusste, wie die Regierung und die AKP reagieren würden, sollten sie verlieren. Der türkische Innenminister hat im Vorfeld der Wahlen verkündet: Wenn wir verlieren, dann verstehen wir das als Putsch. So eine Ansage macht natürlich Angst. Zu spüren waren aber auch die Folgen des Erdbebens. Viele Menschen sind noch immer in Trauer.

Am Sonntag besuchten Sie verschiedene Wahllokale in der Provinz Diyarbakır. Wie verlief der Tag?

Am Sonntag war es sogar zwangsweise ruhig – Cafés und Geschäfte mussten schliessen, es galt ein Alkoholverbot. Die Menschen fuhren zu den Wahllokalen, meist in Schulhäusern, gaben ihre Stimme ab und verbrachten den Rest des Tages zu Hause. Unsere Delegation wurde mehrmals von der Polizei kontrolliert. Sie nahmen meine Personalien auf. Und im letzten Wahllokal, das wir besuchen wollten, wurde uns der Zutritt verwehrt.

Verschiedene Medien berichteten von Manipulationen wie etwa blockierten Wahlurnen oder vorgedruckten Wahlzetteln. Präsident Erdoğan sprach von einem «Festival der Demokratie». Was ist wahr?

Bei allen türkischen Wahlen sprechen die einen von Pannen und die anderen von Manipulationen. In Diyarbakır hörte ich von kleineren Unstimmigkeiten – etwa, dass Ältere oder Menschen mit Behinderungen keine Transportmittel erhielten, um die Wahllokale zu erreichen. Aber grössere Manipulationen erlebte ich nicht. In den Wahllokalen, die ich besuchte, wurde niemand aktiv am Wählen gehindert. Aber natürlich habe ich keinen Gesamtüberblick.

In kurdischen Regionen wie Diyarbakır erreichte Erdoğan erwartungsgemäss wenige Stimmen.

Ja, aber auch hier war ich erstaunt! Die Anteile blieben im Vergleich zu den letzten Wahlen 2018 unverändert. Dabei dachte man, dass sich Erdoğans Rückhalt spürbar verkleinern würde, gerade in den Regionen, die vom Erdbeben betroffen waren.

Hasim Sancar, fuer die Gruenen im Berner Grossen Rat und Mitglied der Geschaeftspruefungskommission, im Interview mit der Hauptstadt nach den Wahlen in der Tuerkei . Bild: Christine Strub, ©christinestrub.ch
Der Bosporus im Hintergrund: Hasim Sancar in seiner Wohnung im Breitenrain. (Bild: Christine Strub)

Sie selbst haben als Auslandtürke Ihre Stimme bereits vorletzte Woche in Bern abgegeben. Wie haben Sie die Stimmung in der Schweiz im Vorfeld der Wahlen wahrgenommen?

Bei früheren Wahlen war sie angespannter und gehässiger. Diesmal war es eher ruhig in der türkischen Diaspora. Auch das erkläre ich mir mit dem Erdbeben. Viele Schweizer Türk*innen haben Verwandte verloren. Der Trauerprozess ist auch hier noch im Gange. Trotzdem war die Stimmbeteiligung höher als 2018. Die Wahlen wurden mit grosser Spannung erwartet.

Sprechen wir über Stimmbeteiligung: In der Türkei lag sie bei fast 90 Prozent. Bei den türkischen Staatsangehörigen in der Schweiz bei fast 60 Prozent.

Die Beteiligung der Auslandtürk*innen ist tiefer. Einige sind so integriert hier, dass sie finden, türkische Politik gehe sie nichts an. In kurdischen Familien erlebe ich oft, dass vor allem meine Generation stark politisiert ist – die alten Linken. Wir verfolgen seit Jahren jeden politischen Schritt in der Türkei. Vielen jüngeren Menschen ist das eher weniger wichtig.

Ich wollte eigentlich sagen: Die Schweiz könnte von einer derart hohen Stimmbeteiligung nur träumen. Bei den letzten nationalen Wahlen lag sie hier bei rund 45 Prozent.

Ja. Das Interesse an den Wahlen ist beim türkischen Stimmvolk deutlich höher als beim schweizerischen. Das hat einerseits mit der direkten Demokratie zu tun – hier können die Leute selektiver abstimmen. In der Türkei ist die einzige Beteiligungsmöglichkeit alle vier bis fünf Jahre bei den Wahlen. Ich denke, das höhere Interesse hat aber auch weitere Gründe: Einerseits ist es in der Türkei stark verbreitet, seine unpolitischen Verwandten zu mobilisieren. Denn oft wird nicht nur aus politischer Überzeugung gewählt, sondern auch, weil man sich persönliche Vorteile erhofft. Einen Job beim Staat beispielsweise, wenn man sich mit der siegenden Partei solidarisiert. Ausserdem ist der Wahlkampf in der Türkei viel emotionaler, mit mehr Hoffnungen und Erwartungen verbunden als in der Schweiz. Als ich mir anhörte, was die Präsidentschaftskandidaten dem türkischen Volk in letzter Zeit alles versprachen, wurde mir beinahe schwindlig.

Sie sind selbst Politiker in der Schweiz. Welche Bedeutung haben für Sie persönlich die Türkischen verglichen mit den Schweizer Wahlen?

Die kommenden Schweizer Wahlen im Herbst sind für mich das Hauptthema. Ich bin hier Politiker, deshalb habe ich hier auch Perspektiven und Lösungsansätze. Die Beteiligung an den türkischen Wahlen ist für mich eher eine Solidarität.

Am 28. Mai stehen in der Türkei die Stichwahlen an. Dann wird definitiv entschieden, wer in Zukunft das Land regiert. Was geschieht in den zwei Wochen bis dahin noch?

Ganz klar ist das nicht, denn es ist das erste Mal, dass es eine Stichwahl gibt. Die Kandidaten werden wieder öffentlich auftreten. Die Opposition hat angekündigt, nicht aufzugeben. Doch Erdoğan wird Stimmen dazugewinnen, die bis jetzt zwar nicht an ihn, aber an die anderen rechtsbürgerlichen Parteien vergeben wurden. Damit ist für ihn ein Sieg sehr wahrscheinlich. Schade – die Türkei verpasst eine Chance, einen Schritt in Richtung Demokratisierung zu machen.

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