«Die Informationsflut ist etwas, das wir kontrollieren können»

Die heutigen Jugendlichen sind belasteter als frühere Generationen, sagt die Berner Jugendpsychologie-Professorin Stefanie Schmidt. Viel Einfluss darauf habe Social Media. Aber gerade deshalb ist sie auch zuversichtlich, dass es Wege aus der Krise gibt.

Switzerland, Bern, 18.01.2024. Stefanie Schmidt. Leiterin der Abteilung Klinische Psychologie des Kindes- und Jugendalters der Universität Bern. Fotografiert in ihrem Büro. © 2024 Jonathan Liechti
Viele Jugendliche nennen Social Media als Grund, warum es ihnen nicht gut geht, sagt Jugendpsychologie-Professorin Stefanie Schmidt. (Bild: Jonathan Liechti)

Frau Schmidt, wie geht es den Berner Jugendlichen?

Stefanie Schmidt: Es gibt nicht die Jugendlichen. Was man aber feststellen kann: Den älteren Jugendlichen ab etwa 14 Jahren geht es oft deutlich schlechter als den jüngeren.

Warum?

In diesem Alter werden Freundschaften und romantische Beziehungen wichtiger, die Eltern treten mehr in den Hintergrund. Gleichzeitig wird man anfälliger für das Feedback von Gleichaltrigen, das heutzutage auch oft auf Social Media stattfindet. Ausserdem befindet man sich in einer wichtigen Transitionsphase, weil man mit der Entscheidung für eine Lehre oder das Gymnasium Weichen für die Zukunft stellt.

Das war ja schon immer so.

Aber in unserer Zeit sind die Jugendlichen zusätzlich mit mehreren globalen Krisen konfrontiert. Und darüber bekommen sie ständig Informationen. Sie müssen auch lernen einzuschätzen, ob sie diesen Informationen trauen können.

Sie sprechen von Fake News.

Ja, das Problem hat sich seit Corona noch verschärft. Die meisten Jugendlichen holen sich ihre Nachrichten auf Social Media. Dort herrscht ein permanenter Informationsflow. Dauernd müssen sie entscheiden, was ist wahr, was nicht? Wie gehe ich damit um? Worauf reagiere ich?

Heisst das, Sie erachten Social Media als das grösste Problem der Jugendlichen?

In diesem Alter wird es normal, dass man sehr viel via Handy kommuniziert. Es gehört zum Lebensalltag junger Leute einfach dazu. Und damit einher gehen einerseits die Informationsflut, andererseits der soziale Vergleich. Wie leben andere? Wie beliebt sind sie? Wie viele Likes bekommen sie? Wie toll sehen sie aus?

Geht es den Jugendlichen deswegen schlecht?

Viele Jugendliche nennen das als einen Grund. Wegen diesem Druck, immer präsent und erreichbar sein zu müssen, wegen sozialen Vergleichen, wegen den vielen Infos und der schnellen Reaktion von Aussenstehenden.

Wie meinen Sie das?

Nehmen wir die Klimakrise. Die ist so präsent, ich bekomme permanent Videos, Infos, Animationen. Ich kann mich nicht gut herausnehmen aus der Situation, sondern muss mich damit auseinandersetzen. Und die Klimakrise ist ein akutes Szenario für junge Leute, das auch vor allem sie betreffen wird.

Switzerland, Bern, 18.01.2024. Stefanie Schmidt. Leiterin der Abteilung Klinische Psychologie des Kindes- und Jugendalters der Universität Bern. Fotografiert in ihrem Büro. © 2024 Jonathan Liechti
Zur Person

Stefanie Schmidt ist Professorin für Kinder- und Jugendpsychologie an der Universität Bern. Die Abteilung Klinische Psychologie des Kindes- und Jugendalters wurde 2018 neu geschaffen, Schmidt leitet sie seitdem. Seit letztem Sommer hat die Abteilung zusätzlich eine Praxisstelle mit zwei angestellten Jugendpsychologinnen, die Therapieplätze anbieten. Auch Schmidt selbst führt weiterhin einzelne Therapien durch. «Ich muss ja in den Vorlesungen wissen, wovon ich spreche», sagt die 41-Jährige. Ausserdem hat sie die Studie Corabe – Auswirkungen der Corona-Krise für Jugendliche und junge Erwachsene im Kanton Bern geleitet.

Gibt es Jugendliche, die wegen der Klimakrise in Behandlung sind?

Das allein sind noch keine psychischen Probleme. Aber wenn Jugendliche so viele Sorgen zu verschiedenen Themen haben, dass sie gar nicht mehr abschalten können, dass sie ständig ängstlich, gereizt oder angespannt sind, dann kann es zur Entwicklung psychischer Probleme kommen. Ich finde aber, sich um die Zukunft Gedanken zu machen und sich damit auseinanderzusetzen, sei es jetzt um Klima, um Kriege, um die eigene, persönliche Zukunft, ist ja eigentlich etwas sehr Verständliches und Sinnvolles.

Und wie können die Jugendlichen damit klarkommen?

Sie müssen einen für sie passenden Weg finden, mit der Menge an Infos und Unsicherheit umzugehen und sich Bereiche zu suchen, wo sie etwas bewirken können. Ausserdem kann auch der Austausch mit anderen Menschen und gegenseitige Unterstützung hilfreich sein. Wir können auch nicht so tun, als ob es diese Unsicherheit nicht gäbe.

Und was können wir als Gesellschaft tun?

Der Umgang mit Informationen ist für alle wichtig. Die richtige Menge an Informationen zu finden, auf dem Laufenden zu sein, sich Gedanken um die Zukunft zu machen. Aber auch zu überlegen: Was ziehe ich für mich daraus? Wie ändere ich mein Handeln? Und nicht so ängstlich und sorgenvoll zu werden, dass man wie gelähmt ist. Es ist wichtig, junge Leute darin zu unterstützen, sich Zeiten zu nehmen, in denen sie einfach abschalten, Stress abbauen, Ruhe und Entspannung finden können.

Warum setzen Sie gerade bei der Informationsflut an?

Die Informationsflut ist etwas, das wir kontrollieren können. Und ich glaube, ein wichtiges gemeinsames Merkmal von diesen riesigen globalen Krisen ist, dass wir so wenig daran beeinflussen können. Und dass so leicht ein Gefühl von Hilflosigkeit und Ohnmacht entsteht. Darum versuche ich, mir zusammen mit den Jugendlichen zu überlegen: Wo kann ich etwas ändern? Wo kann ich etwas beeinflussen? Ein Hebel ist, dass ich selber für mich entscheide, wie ich mich über diese Krisen informiere. Eine Balance zwischen Unsicherheit und Informiertheit finde und aktiv werde.

Switzerland, Bern, 18.01.2024. Stefanie Schmidt. Leiterin der Abteilung Klinische Psychologie des Kindes- und Jugendalters der Universität Bern. Fotografiert in ihrem Büro. © 2024 Jonathan Liechti
Man sei nicht entweder psychisch gesund oder psychisch krank, dazwischen gebe es viele Graustufen, sagt Stefanie Schmidt. (Bild: Jonathan Liechti)

Sind denn die sozialen Medien nur eine Gefahr – oder können sie auch eine Chance sein?

Früher wäre eine so internationale Klimabewegung gar nicht denkbar gewesen, die digitalen Medien sind eine Chance bei der Vernetzung. Und positive Effekte können sie auch bei der sozialen Unterstützung haben. Es kann sein, dass ich mich online vielleicht mit Leuten austausche, zu denen ich sonst keinen oder zumindest nicht so viel Kontakt hätte, dank denen ich mich verbundener und weniger ausgeschlossen fühle.

Sind analoge und digitale Kontakte gleichwertig?

Die Online-Kommunikation hat besondere Merkmale, sie ist schneller, es gibt direkteres Feedback. Und gleichzeitig bleibt alles Körperliche – Berührungen, Mimik, Gestik – online weitgehend auf der Strecke. Das macht die Kommunikation zum Teil schwieriger, zum Teil weniger empathisch. Aber grundsätzlich denke ich, man kann gute Beziehungen im virtuellen Leben haben oder diese vertiefen, wenn man die Beziehung im realen Leben schon aufgebaut hat.

Und was würden Sie den Jugendlichen raten?

Online abstinent zu sein ist fast nicht möglich. Es ist entscheidend zu schauen, warum jemand online ist. Warum jemand gamt. Und wenn jemand das nutzt, um mit anderen verbunden zu bleiben und sich auszutauschen, ist es okay. Schwierig ist eher, wenn man sich aus dem realen Leben sehr zurückzieht und mit dem Stress und den Gefühlen, die dort vorhanden sind, überfordert ist.

Haben es die heutigen Jugendlichen schwerer als frühere Generationen?

Wichtig zu sagen ist, dass längst nicht alle Jugendlichen psychisch auffällig sind, viele kommen gut mit der aktuellen Situation zurecht. Aber sie müssen viele neue Herausforderungen bewältigen, bei denen es noch nicht vorgefertigte Regeln gibt, wie man damit umgeht.

Wie sehen Sie die Zukunft der Jugendlichen?

Dadurch, dass viele Jugendliche sehr resilient sind, und man auch aus der Forschung weiss, dass viele sich gut anpassen können, bin ich eigentlich zuversichtlich, dass sie allgemein gut gerüstet sind.

Das klingt eher positiv.

Es ist aber auch wichtig, anzuerkennen, dass es einen Teil junger Menschen in unserer Gesellschaft gibt, der psychische Unterstützung braucht und sie auch in Anspruch nehmen darf. Und dass es auch genügend Angebote für solche Situationen gibt.

Was heisst das?

Wichtig ist, zu schauen, wie belastet die Jugendlichen sind. Haben sie schwere psychische Probleme, die man unbedingt psychotherapeutisch behandeln muss? Oder haben sie leichtere psychische Probleme, die man präventiv angehen könnte – vielleicht auch mit digitalen Angeboten? Das Ganze ist ja ein Kontinuum. Wir gehen zum Glück nicht mehr davon aus, dass man entweder psychisch gesund oder psychisch krank ist.

Switzerland, Bern, 18.01.2024. Stefanie Schmidt. Leiterin der Abteilung Klinische Psychologie des Kindes- und Jugendalters der Universität Bern. Fotografiert in ihrem Büro. © 2024 Jonathan Liechti
Stefanie Schmidt führt selber auch immer noch Therapien durch. (Bild: Jonathan Liechti)

Könnte es auch sein, dass man heute einfach eher thematisiert, wenn es einem nicht gut geht?

Das geht Hand in Hand. Ja, es gibt mehr Bewusstsein in der Gesellschaft. Auch seit Corona ist es leichter geworden, über psychische Probleme zu sprechen, weil es eine Sensibilisierung in der Gesellschaft dafür gibt.

Das ist ja gut.

Ja, früher haben betroffene Personen oder ihre Eltern oft sehr lange zugewartet, weil sie befürchteten, dass sie oder ihr Kind schlecht dastehen würde, vor anderen Eltern, vor den Verwandten. Einen Geschlechtseffekt sehen wir hingegen immer noch. Junge Männer suchen deutlich weniger Hilfe. Wir wissen nicht genau, ob sie generell weniger psychische Probleme haben oder andere Strategien wählen, um darüber zu kommunizieren oder sich Hilfe zu suchen. Das wirft die Frage auf, ob wirklich alle Leute, denen es jetzt psychisch schlecht geht, auch darüber reden.

Heutzutage eine Jugendpsychologin zu finden, ist fast ein Ding der Unmöglichkeit.

Ja, wir wissen, dass es im Kinder- und Jugendbereich eine extreme Unterversorgung gibt. Eigentlich schon länger und nicht nur in der Schweiz. Aber durch den steigenden Bedarf und den Fachkräftemangel hat sich das noch verschärft. Bei den Therapieplätzen ist auch soziale Ungleichheit ein grosses Thema. Wer weniger gebildet ist und weniger Geld hat, hat ein höheres Risiko für psychische Probleme, aber auch erschwerte Bedingungen, Hilfe zu finden.

Was gibt es für Ansätze, damit man den Hilfesuchenden dennoch gerecht werden kann?

Sehr wichtig ist Prävention, also niederschwellige Hilfsangebote.

Zum Beispiel?

Online-Programme, die die Personen selbstständig machen können. Da gibt es auch immer mehr Angebote für Jugendliche, während das bei Erwachsenen schon gang und gäbe ist.

Wie muss ich mir das vorstellen?

Wir haben zum Beispiel ein Online-Programm, bei dem Strategien zur Emotionsregulation, Umgang mit Unsicherheit, zwischenmenschlichen Beziehungen, Stress und Sorgen/Grübeln vermittelt werden. Sie üben das Zuhause für sich und bekommen am Ende der Woche ein Feedback von uns. Momentan ist das Programm in einer begleiteten Testphase, aber später soll es frei auf der Website der Uni Bern verfügbar sein.

Man hilft den Menschen also so früh, dass eine «richtige» Behandlung gar nicht nötig wird?

Das wäre der Idealfall. Ich glaube, man sollte möglichst nicht abwarten, bis es den jungen Leuten so schlecht geht, dass sie einen Behandlungsplatz brauchen. Dieses Programm ist ein gestufter Ansatz, bei dem man schaut, was junge Leute zu welchem Zeitpunkt brauchen. Je nach Bedarf geht man in ein intensiveres Angebot über. So versuchen wir, die Jugendlichen dort abzuholen, wo sie sind.

Hier gibt es Hilfe

Telefon 147 – Das Beratungsangebot von Pro Juventute unterstützt Kinder und Jugendliche bei Fragen zu Familienproblemen, Gewalt, Sucht, Schule und Beruf sowie Liebe, Freundschaft und Sexualität: An 365 Tagen, rund um die Uhr – schweizweit und kostenlos. Auf dem Portal www.147.ch kann man zwischen Telefon-, SMS-, Chat- und Email-Beratung wählen.

Die Dargebotene Hand bietet unter der Nummer 143 ein Krisentelefon (auch für Jugendliche) an.

Das Berner Bündnis gegen Depression bietet ein schulbasiertes Training zum Thema Depression, Selbstverletzung und Suizidalität bei Kindern und Jugendlichen an.

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