«Wir reden über den Preis des Wachstums»

Bern fehlt günstiger Wohnraum. Dagegen sei auch die Überbauung Viererfeld bloss «ein Tropfen auf den heissen Stein», sagt Michael Aebersold. Bei der Debatte um die Fifa-Kredite warnt er vor Doppelmoral. – Teil 1 des Interviews mit dem Stadtberner Finanzdirektor.

Michael Aebersold fotografiert am 31.01.2023 in Bern. (liveit.ch / Manuel Lopez )
Hält die Überbauung des Viererfelds für ein Jahrhundertprojekt: SP-Gemeinderat Michael Aebersold weibelt für 1140 neue Wohnungen. (Bild: Manuel Lopez)

Herr Aebersold, warum bezeichnen Sie die Wohnüberbauung Viererfeld, über die im März und im Juni abgestimmt wird, als Jahrhundertprojekt für die Stadt Bern?

Michael Aebersold: Erstens rein quantitativ. Auf dem Viererfeld entstehen 1140 Wohnungen für rund 3000 Einwohner*innen. Wir leisten damit einen relevanten Beitrag zum Auffangen des Wachstums und zur Entschärfung des knappen Wohnungsangebots.

Und zweitens?

Qualitativ. Der Boden gehört der Stadt, und wir stellen höchste Ansprüche an Umwelt-, Energie- und Verkehrslösungen, die auf dem Viererfeld realisiert werden. Zudem wird die Hälfte der Baufelder von Genossenschaften bebaut.

Warum soll in Bern so viel genossenschaftlich gebaut werden?

Ich war vor wenigen Tagen am Jahresanlass des Immobilien-Dienstleiters Wüest Partner, und dort wurden zwei Sachen klar aufgezeigt. Erstens: Bezahlbaren Wohnraum kann man schaffen, indem Boden günstig abgegeben wird. Das werden wir an die Genossenschaften tun. Zweitens zeigt sich aus schweizweiter Erfahrung, dass Genossenschaften kleinere Wohnungen bauen. Und so dazu beitragen, den nach wie vor zunehmenden Wohnflächenverbrauch, der für die Zersiedelung massgebend ist, etwas zu bremsen.

Die städtischen Stimmberechtigten entscheiden am 12. März über den Kredit für die Erschliessung des Baugeländes, im Juni dann über die Vergabe von Baurechten. Braucht es zweimal ein Ja, damit im Viererfeld gebaut wird?

Nein. Wenn der Kredit im März abgelehnt würde, hätten wir ein echtes Problem, weil wir nicht weiterplanen könnten. Aber ich bin sehr zuversichtlich, das Geschäft hatte im Stadtrat kaum Gegenstimmen. Im Juni geht es dann um die Baurechtsvergabe von zwei Baufeldern an die Hauptstadt-Genossenschaft und die Mobiliar. Ein Nein würde bedeuten, dass man diese Vergabe neu aufgleisen müsste.

Michael Aebersold fotografiert am 31.01.2023 in Bern. (liveit.ch / Manuel Lopez )
«Der Kanton sollte sich über den Finanzausgleich zum Beispiel an Investitionen für Schulraum in der Stadt beteiligen», findet Finanzdirektor Aebersold. (Bild: Manuel Lopez)

Die Stadt hat für den Kauf des Bodens im Viererfeld bereits 50 Millionen Franken bezahlt, jetzt geht es um 124 Millionen Franken für die Erschliessung, später folgt ein Schulhausbau inklusive Dreifachturnhalle für 60 bis 80 Millionen Franken. Kann sich die Stadt mit ihren roten Zahlen das leisten?

Wir reden hier über den Preis des Wachstums. Es ist wichtig zu sehen, dass im vorliegenden Fall nur etwa 10 Prozent der Kauf- und Erschliessungskosten aus Steuern finanziert werden. Der Rest geht zu Lasten des Fonds für Boden- und Wohnbaupolitik, der zum Finanzvermögen gehört und jedes Jahr der Stadtkasse rund 30 Millionen Franken abliefert, sowie gebührenfinanzierten Sonderrechnungen.

Was heisst das auf das Viererfeld bezogen?

Es sind Investitionen, die der Stadt etwas bringen, auch rein finanziell. Mal abgesehen vom Investitionsvolumen von einer halben Milliarde Franken, das im Viererfeld ausgelöst wird, rechnen wir mit Baurechtszinsen von 4,5 Millionen Franken, die pro Jahr an die Stadt zurückfliessen. Wenn die Überbauung dereinst bewohnt sein wird, generiert das basierend auf Durchschnittswerten zusätzliche Steuereinnahmen von jährlich 8 Millionen Franken.

Zahlt sich das mit dem Viererfeld angestrebte Bevölkerungswachstum aus für die Stadt? 

Ich bin Naturwissenschaftler, und die Logik sagt mir, dass wir irgendeinmal an die Grenzen des Wachstums stossen. Im Moment stellt sich die Frage aber anders.

Wie denn?

Das Bevölkerungswachstum in der Schweiz findet statt, es gibt zu wenig Wohnraum, und in den Städten und Agglomerationen haben wir die Chance, dieses Wachstum möglichst klimaverträglich und raumsparend abzufedern. Als städtischer Finanzdirektor stelle ich die Frage, ob die Stadt die Wachstumskosten alleine schultern muss.

Wen wollen Sie heranziehen, der sonst noch für die Kosten der Stadt aufkommt?

In den letzten zehn Jahren hat die Stadt zum Beispiel 130 Schulklassen neu eröffnet. Jetzt stecken wir 124 Millionen Franken für die Erschliessung ins Viererfeld, damit dort dringend benötigter Wohnraum entsteht. Diese Wachstumskosten übernimmt die Stadt auch im Interesse des Kantons. Deshalb finde ich, dass sich der Kanton über den Finanzausgleich zum Beispiel an Investitionen für Schulraum beteiligen sollte.

Michael Aebersold fotografiert am 31.01.2023 in Bern. (liveit.ch / Manuel Lopez )
Blick auf das Mobiliar-Gebäude: Die Aussicht aus dem Büro des Finanzdirektors. (Bild: Manuel Lopez)

Kehren wir zurück aufs Viererfeld. Es wird nicht nur genossenschaftlich, sondern auch marktwirtschaftlich gebaut. Die Stadt braucht teure Wohnungen für gute Steuerzahler*innen?  

Natürlich brauchen wir sie. Es wird kein Wohneigentum geben, aber je zur Hälfte genossenschaftliche und marktorientierte Mietwohnungen. Für letztere gibt die Stadt das Baurecht weniger günstig ab. Das Ziel ist Durchmischung. Es werden Menschen im Viererfeld leben, die auf staatliche Unterstützung angewiesen sind, aber auch Gutverdienende. Auf sie sind wir angewiesen.

Warum genau?

Die Stadt Bern investiert derzeit pro Jahr etwa 130 Millionen Franken, vor allem in Schulhäuser sowie Eis- und Wassersportanlagen. Allein die Amortisation dieser Neuinvestitionen führt jedes Jahr zu Zusatzkosten von 5 bis 7 Millionen Franken. Die Steuereinnahmen müssen zwingend steigen, jedes Jahr.

Das Hauptproblem auf dem Wohnungsmarkt ist klar: Günstige Wohnungen sind Mangelware. 

Und wie, davon gibt es viel zu wenige.

Entschärft die Überbauung des Viererfelds dieses Problem?

In der Stadt gibt es 80’000 Wohnungen, jetzt kommen 1’140 dazu, die Hälfte davon genossenschaftlich. Nüchtern betrachtet ist es nicht mehr als ein Tropfen auf den heissen Stein. Aber das Viererfeld hat auch eine symbolische Bedeutung, weil der genossenschaftliche Wohnungsbau so zentral ist. Es ist ein Statement, gegen Bodenspekulation, gegen den wachsenden Flächenverbrauch, für bezahlbaren Wohnungsbau.

Die Stadt hat als Baurechtsnehmer*innen – neben der Hauptstadt-Genossenschaft – die Berner Kantonalbank, die Mobiliar-Versicherung, die Pensionskasse der Stadtangestellten ausgewählt. Wir finden: Der übliche Berner Klüngel.

Ich würde sagen: Ehret heimisches Schaffen. Wir reden hier von der ersten Etappe, insgesamt rund 350 Wohnungen. Uns war es wichtig, in Direktabsprache lokale Investorinnen und Investoren einzubinden, die in Bern tätig sind, Arbeits- und Ausbildungsplätze anbieten und auch Steuern zahlen. So ist ein optimaler Austausch von Know-how gewährleistet, aber auch ein verantwortungsvoller Umgang mit dem Grossprojekt.

Ist Ihre Direktion eigentlich gut genug aufgestellt, um die Riesenkiste Viererfeld durchzuziehen?

Der Spruch, dass es Private immer besser können, stimmt überhaupt nicht. Wir können es genauso gut. Ich habe hochkompetente, motivierte Leute, die auch sehr innovativ sind.

Michael Aebersold fotografiert am 31.01.2023 in Bern. (liveit.ch / Manuel Lopez )
Er sei ein Polo-Hofer-Fan der ersten Stunde, sagt Michael Aebersold. (Bild: Manuel Lopez)

A propos Innovation: Das Rot-Grün-Mitte-Bündnis stellt in der Stadt seit 30 Jahren die Mehrheit. Kürzlich kritisierte Alt-Gemeinderätin Therese Frösch vom Grünen Bündnis, RGM wirke müde.

RGM wird immer wieder neu belebt, nur schon mit neuen Personen. Ich finde, die Parteien und vor allem die SP haben in letzter Zeit auch im Stadtrat sehr gut gearbeitet. Aber klar ist auch: Es gibt Diskussionen, denn wir sind ein Bündnis und nicht eine Einheitspartei.

Sie haben vorher den Preis des Wachstums angesprochen. Wo will RGM hin mit der Stadt Bern, bezüglich Wachstum?

Wir müssen uns der Frage stellen, wo die Limiten des Wachstums sind. Wir können nicht ständig wachsen. 

Das heisst, dass die Stadt nach der Realisierung des Viererfelds gebaut ist?

Nein. Wir sagen sicher nicht: Das Boot ist voll. Das Wachstum ist da. Und aus Gründen der Nachhaltigkeit muss die Stadt verdichtet werden. Sonst kommt es zu noch mehr Zersiedelung.

Was nun? Wollen Sie das Wachstum stoppen? Oder nicht?

Es ist eine Frage, die sich in 10 oder 20 Jahren stellen wird. In Berns Westen gibt es derzeit noch Potenzial. Aber ich bin nach wie vor dezidiert gegen die Abholzung des Bremgartenwaldes zur Erweiterung der Stadt.

Sind Sie da in der SP ein einsamer Rufer?

Derzeit eher schon, ja. Es sind halt unangenehme Fragen

Zur Person

Auffallendstes Utensil im Eckbüro an der Bundesgasse ist (neben dem obligaten Sparschwein) eine Wachsfigur des verstorbenen Berner Mundartrockers Polo Hofer. Er sei ein Hofer-Fan der ersten Stunde, sagt Aebersold, noch heute vergehe kaum ein Tag, an dem er nicht eines seiner Lieder höre.

Aebersold (61) ist seit 2017 städtischer Finanzdirektor. In dieser Funktion prägt der frühere Handballer und Marathonläufer nicht nur die Finanz-, sondern auch die Wohnpolitik. Unter seiner Führung hat die Stadt begonnen, eine aktivere Rolle auf dem Wohnungsmarkt zu spielen, indem sie selber Wohnungen oder Häuser kauft, um bezahlbaren Wohnraum zu erhalten. Aebersold war Stadt- und Kantonsparlamentarier, Co-Präsident der SP Stadt, SP-Fraktionschef im Grossen Rat. Beruflich war der promovierte Chemiker Chefbeamter im Bundesamt für Energie. (jsz/jow)

Themenwechsel. Kurz nach Neujahr sind Sie in die Kritik geraten, weil Sie es zuliessen, dass die Stadt ab 2018 für kurzfristige Darlehen Gelder des Internationalen Fussballverbands Fifa annahm. Warum fiel Ihnen nicht früher auf, dass das heikel ist?

Die Geschichte wurde dargestellt, als hätte man jetzt gerade etwas Neues ans Tageslicht gebracht. Dabei hätte man alles schon früher skandalisieren können, weil das nie ein Geheimnis war. Es steht in all unseren Jahresberichten seit 2018, dass wir kurzfristige Kredite von der Fifa bezogen haben, das war auch der für meine Direktion zuständigen vorberatenden Kommission des Stadtrats bekannt.

Sie finden, die jetzige Aufregung um ethische Fragen sei aufgeblasen?

Nein, die Diskussion ist berechtigt, und ich stelle mich der Kritik. Die umstrittene WM in Katar hat die öffentliche Wahrnehmung der Fifa noch einmal zugespitzt und das Problembewusstsein verändert. Es ist mein Job als Politiker, darauf zu reagieren und über die Bücher zu gehen.

Michael Aebersold fotografiert am 31.01.2023 in Bern. (liveit.ch / Manuel Lopez )
«Es war immer alles transparent»: Laut Michael Aebersold hätte man die Fifa-Kredite schon vor Jahren skandalisieren können. (Bild: Manuel Lopez)

Es fällt aber auf, dass Sie erst reagiert haben, als es öffentliche Kritik gab.

Es war immer alles transparent. Ich habe 2018 in der zuständigen Kommission des Stadtrats erläutert, dass wir beginnen, über die Zürcher Fremdfinanzierungs-Plattform Loanbox die besten Kreditangebote auszuwählen. Auf diesem Weg kamen wir zum Geld der Fifa.

Und?

Damals waren alle begeistert, weil man so zu günstigem Geld kommt. Natürlich haben wir intern über die Fifa diskutiert, aber weil alle Kriterien eingehalten wurden und wir in der Negativzinsphase mit dem Kredit sogar noch über 3 Millionen Franken verdienten, haben wir das gemacht. Man kann sich im Nachhinein fragen, ob das richtig war.

Ihre eigene Partei verlangt jetzt von Ihnen «verbindliche Ethik- und Nachhaltigkeitsrichtlinien für alle Finanzflüsse». Können Sie die Forderung erfüllen?

Das ist sehr tricky. Selbstverständlich prüfen wir das jetzt seriös. Aber ich stelle in dieser Diskussion eine gewisse Doppelmoral fest. Wenn wir über eine Bank Geld aufnehmen, wissen wir auch nicht, woher sie ihrerseits das Geld hat, obschon sie der Bankenaufsicht untersteht.

Michael Aebersold fotografiert am 31.01.2023 in Bern. (liveit.ch / Manuel Lopez )
Die Finanzdirektion prüft nun, ob sich verbindliche Ethikrichtlinien für städtische Finanzflüsse definieren lassen. (Bild: Manuel Lopez)

Wo sehen Sie genau eine Doppelmoral?

Man kann sich am Verhalten von Fifa-Führungspersonen wie Gianni Infantino stören, aber das heisst ja prinzipiell noch nicht, dass die Fifa als Ganzes als Geschäftspartnerin nicht in Frage kommt. Immerhin zahlen TV-Stationen wie die ARD oder auch die SRG hohe Millionenbeträge für Übertragungskonzessionen an die Fifa. Daran stört sich kein Mensch. Aber wenn wir dieses Geld von der Fifa als Kredit quasi zurückholen, geht das dann gar nicht.

Wenn man die Fifa-Kredite der Stadt als ARD- oder SRG-Konzessionsgelder anschaut, sind sie eigentlich problemlos, finden Sie?

Nein. Ich will nur auf die Doppelmoral hinweisen. Aktuell nehmen wir keine Kredite von der Fifa auf. Was ich damit auch sagen will: In dieser Diskussion gibt es nicht nur Schwarz und Weiss, sondern auch Grautöne.

Sagen Sie das mal Ihrer Partei.

Das mache ich.

Und Sie werden gehört?

Die Juso redet im Zusammenhang mit den Fifa-Krediten von Blutgeld, die SP ist da zurückhaltender. 

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Lies am Montag Teil 2 des «Hauptstadt»-Interviews mit Finanzdirektor Michael Aebersold. Dann äussert er sich zur Finanzlage der Stadt und zur Fusion mit Ostermundigen.

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Diskussion

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Ruedi Muggli
04. Februar 2023 um 09:33

Interessantes Interview - erhellt doch einiges im Vergleich zum Kurzfutter von Tamedia.