Die Kopftuch-Debatte erreicht Bern

Im Kanton Bern dürfen Lehrerinnen kein muslimisches Kopftuch tragen. SP-Stadtrat und Schulleiter Fuat Köçer übt scharfe Kritik an der Regel.

Fuat Kocer, Schulleiter der Schule Bremgarten fotografiert am Freitag, 22. Maerz 2024 in Bern. (VOLLTOLL / Manuel Lopez)
In Worb wurde einer Lehrerin gekündigt, weil sie ein Kopftuch trug. Fuat Köçer, SP-Stadtrat und Schulleiter in Bremgarten, sagt: «Die Regel ist diskriminierend». (Bild: Manuel Lopez / Archiv)

Religiöse Symbole haben in Klassenzimmern nichts zu suchen. Genauso politische Statements. Das Volksschulgesetz des Kantons Bern besagt: «Die öffentliche Volksschule ist konfessionell neutral.»

Dieser Grundsatz verbietet Lehrpersonen nicht nur, ihre religiösen oder ideologischen Ansichten in den Unterricht einzubauen. Sondern auch, solche Symbole sichtbar auf ihrem Körper zu tragen. 

So einfach diese Regel klingt, so heikel ist ihre Anwendung im Einzelfall. Das zeigt eine Debatte, die in der Schweiz und ihren Nachbarländern immer wieder geführt wird: Die ums Kopftuch.

Lehrerin in Worb erhält Kündigung

Musliminnen dürfen im Kanton Bern kein Kopftuch tragen, wenn sie als Lehrerinnen unterrichten. Erlaubt ist das Kopftuch aber für Schülerinnen. 

Dieses Verbot gilt schon lange. Es geht auf ein Urteil des Bundesgerichts aus dem Jahr 1997 zurück. Darin kam das Gericht zum Schluss, dass der Kanton Genf einer Lehrerin kündigen durfte, weil sie ein Kopftuch trug. Auf diesen Entscheid stützt sich der Kanton Bern nach wie vor. 

Zum Beispiel in einem Fall, den die Tamedia-Zeitungen am Donnerstag öffentlich machten. An einer Primarschule in Worb wurde einer Sprachlehrerin gekündigt, weil sie ein Kopftuch trug. Die Lehrerin hatte bereits seit zweieinhalb Jahren an der Schule unterrichtet, an ihrem Unterricht habe es nichts auszusetzen gegeben. Doch dann habe der Schulinspektor die dortige Schulleiterin darauf hingewiesen, dass das Kopftuchtragen gegen die kantonalen Vorgaben verstosse. Ohne Kopftuch zu unterrichten, kam für die Lehrerin nicht in Frage. Also verlor sie ihren Job.

Der Kanton ist strikt

Von der «Hauptstadt» zu diesem Fall befragt, vertritt die kantonale Bildungsdirektorin Christine Häsler (Grüne) eine klare Haltung. «Die Schule muss religiös und politisch neutral sein», sagt Häsler. «Dieser Grundsatz ist enorm wichtig.» 

Im Kanton Bern ist das Kopftuchverbot in einem Leitfaden der Bildungs- und Kulturdirektion aus dem Jahr 2009 festgehalten. Dieser wird aktuell revidiert, weil er «in einigen Punkten nicht mehr im Einklang» mit der Haltung der Behörden stehe, wie auf der Website des Kantons zu lesen ist. Am Kopftuchverbot werde aber nicht gerüttelt, sagt Häsler. 

«Die Gesellschaft hat sich zwar verändert, aber das Bedürfnis nach Bildung ohne politische und religiöse Einflüsse bleibt bestehen», sagt Häsler. Das Kopftuch sei ein religiöses Symbol, genau wie ein gut sichtbares Kreuz um den Hals einer Lehrperson oder im Klassenzimmer. Beides dürfe in der Schule nicht vorkommen.

Weitere solche Kündigungen im Kanton Bern, abgesehen von Worb, sind Häsler nicht bekannt. «Das Thema führt selten zu Diskussionen», sagt Häsler. An der Pädagogischen Hochschule Bern würden angehende Lehrpersonen darauf hingewiesen, dass sie nicht mit Kopftuch oder anderen religiösen Symbolen unterrichten dürften.

«Vergleichbar mit einem Bart»

Fuat Köçer sieht es fundamental anders. Der SP-Stadtrat ist Schulleiter an der Oberstufe in Bremgarten – und damit einer von mutmasslich sehr wenigen muslimischen Schulleiter*innen im Kanton Bern. 

«Die Regel ist diskriminierend», sagt Köçer. Er hat diese Kritik schon vor einigen Jahren bei der Pädagogischen Hochschule eingebracht. 

Es seien längst nicht nur strenggläubige Musliminnen, die ein Kopftuch tragen. «Das Kopftuch ist auch ein kulturelles Attribut», sagt Köçer. Dem Kleidungsstück eine streng religiöse Bedeutung zuzuschreiben, sei eine eurozentrische Sichtweise. 

Die Regel sei ausserdem sexistisch: «Mich entlässt niemand, weil ich als muslimischer Mann einen Bart trage.» Auch diesen tragen manche Muslime aus religiösen Gründen. Und mit dem Bart ist laut Köçer bei vielen muslimischen Frauen das Kopftuch vergleichbar: Anzusiedeln irgendwo zwischen Religion, Tradition und Kultur.

Die geltende Regel müsse gelockert werden, damit sie fair ist, findet Köçer. «Einem strenggläubigen Christen sieht man seinen Glauben vielleicht äusserlich weniger an als einer moderaten Muslimin.» Dass die Muslimin mit einer Kündigung rechnen muss, der Christ aber nicht, sei diskriminierend.

Köçer findet die Regel nicht nur «höchst problematisch», sondern auch schlicht veraltet. Mittlerweile seien mehr als fünf Prozent der Schweizer Bevölkerung muslimisch, Tendenz steigend. «Der Islam gehört zur Schweiz», sagt Köçer. «Dieser Teil der Bevölkerung muss auch in Institutionen sichtbar sein dürfen.»

Eine veraltete Regel?

In seinem Urteil von 1997 bezeichnete das Bundesgericht ein Kopftuch als «starkes religiöses Symbol». Diese Einschätzung wurde in juristischen Fachkreisen teilweise kritisiert. Einzelne Rechtswissenschaftler*innen fanden auch, man dürfe ein Verbot nicht nur davon abhängig machen, wie sichtbar und auffällig ein religiöses Kleidermerkmal ist, sondern ob die Lehrpersonen religiöse Inhalte im Unterricht verwendet. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sah es damals aber gleich wie das Bundesgericht.

Die Kantone handhaben das Thema unterschiedlich. Nicht überall ist es explizit geregelt. Zuletzt gab ein Fall aus dem Kanton St. Gallen schweizweit zu reden. Dort stellte eine Schule eine Kopftuch tragende Lehrerin nicht ein, weil Eltern protestierten.

Judith Wyttenbach, Professorin für Staats- und Völkerrecht an der Uni Bern, will auf Anfrage der «Hauptstadt» keine Prognose abgeben, wie das Bundesgericht heute über die Kopftuch-Frage urteilen würde. Sie nimmt aber an, dass es sich noch vertiefter als 1997 mit Fragen nach der Bedeutung religiöser Kleidung und von Schmuck von Lehrpersonen und der religiösen Neutralität der öffentlichen Schule auseinandersetzen würde.

Schulleiter Fuat Köçer sagt, an seiner Schule in Bremgarten habe sich noch nie eine Lehrerin beworben, die ein Kopftuch trägt. Wie würde er reagieren, wenn es so wäre? 

«Ich hätte keine Hemmungen, mich für ihre Einstellung stark zu machen», sagt Köçer. Dies jedoch nur im rechtlichen Rahmen. Es sei an der Zeit, dass die Schweizer Gerichte sich noch einmal mit dem Thema beschäftigen. «Der 30-jährige Entscheid muss überdacht werden», findet Köçer.

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