Zukunftsangst

«Philosophie ist eine Form der Zuwendung»

Omar Ibrahim hat ein Konzept für Seelsorge entwickelt, das auf Philosophie beruht. Er arbeitet als erster philosophischer Seelsorger der Schweiz.

Omar Ibrahim 
Er doktoriert an der theologischen Fakultät zum Thema «Philosophical Care»
Der Berner Philosoph Omar Ibrahim hat in seiner Doktorarbeit ein Konzept für philosophische Seelsorge entwickelt. (Bild: Danielle Liniger)

Omar Ibrahim, angenommen, ich leide gerade an akutem Liebeskummer. Wie kann mir die Philosophie dabei helfen?

Eine Vorbemerkung: Die Frage, was Philosophie ist, ist so alt wie die Disziplin selbst. Meiner Meinung nach ist Philosophie nicht bloss ein Studium, das einer kleinen, privilegierten Gruppe zusteht. Sondern ein Zugang zur Welt, der alle betrifft. Bei Liebeskummer kann die Philosophie auf zwei Arten helfen: Sie kann analysieren, wie sich das anfühlt. Und sie kann herauszoomen und fragen: Was heisst Liebe? Warum gibt es Kummer? Diese beiden Ebenen sind in der philosophischen Seelsorge zentral. Die Philosophie kann ein Gefühl von ganz nah beobachten, und sie kann weiter herauszoomen und gesellschaftliche Strukturen und Konzepte dahinter anschauen. Das hilft, sich in praktischen Lebensfragen zu orientieren.

Mit der philosophischen Seelsorge haben Sie einen praktischen Zugang zur Philosophie entwickelt, der Menschen mit philosophischen Überlegungen im Alltag helfen soll. Warum brauchen wir das? 

Philosophie war ursprünglich praktisch. Sokrates hat den Begriff der Seelsorge geprägt. Seine Idee von Philosophie war die Sorge um den Menschen, und er suchte dafür das Gespräch mit Mitmenschen. Seine Philosophie drehte sich um Fragen nach dem guten Leben. In Indien und China war es ähnlich. Für mich liegt darin ein Wert: Fragen nach dem guten Leben kann man nicht durch reine Theorie beantworten, sondern es geht auch um Lebensgestaltung. Dazu braucht es Reflexion und Achtsamkeit im Umgang mit uns und der Welt.

Zur Person

Omar Ibrahim, 32 Jahre alt, hat an der Universität Bern Philosophie und Sozialanthropologie studiert. Während seines Studiums arbeitete er in einem Asylzentrum. Dort merkte er im Gespräch mit Geflüchteten, die sich oft in schwierigen Lebenssituationen befanden, dass Philosophie eine Hilfe sein kann.

Seine Forschungsidee zu einer praktischen Anwendung der Philosophie als Basis für Seelsorge reichte er an zehn verschiedenen Uni-Fakultäten ein. Alle philosophischen Fakultäten sagten ab. Schliesslich ermöglichte ihm die Theologische Fakultät der Uni Bern, zu dem Thema zu doktorieren. 

Im Juni erscheint Ibrahims Dissertation «Philosophical Care: Entwurf einer praxistheoretischen Grundlegung» im Kohlhammer Vertrag. Aktuell erarbeitet er ein Lehrbuch zu philosophischer Seelsorge. Die Universität Bern ist interessiert daran, einen Studiengang in «Philosophical Care» auf der Basis seiner Forschung zu etablieren.

Im Rahmen eines Pilotprojekts arbeitet Ibrahim zudem in der Psychiatrie Münsingen als philosophischer Seelsorger – der bisher einzige in der Schweiz. Und im Berner Lokal «Länggasstee» lässt er sich aktuell in japanischer Teezeremonie ausbilden.

Sie beschreiben in Ihren Texten, dass die Philosophie sich von der Praxis entfernt und sich selbst einen Elfenbeinturm gebaut habe. Wie ist das passiert?

Die Kirchenväter übernahmen ungefähr im dritten Jahrhundert den Seelsorge-Begriff aus der griechischen Philosophie und monopolisierten ihn. Fragen nach dem guten Leben sollte nur noch das Christentum beantworten dürfen. Glück ohne Gott durfte es nicht geben. Der zweite grosse Umbruch in Europa geschah in der Neuzeit, als mit der Entstehung der Universitäten die Philosophie nur noch ein Studium sein sollte. Immanuel Kant sah in praktischen Fragen nach der Lebensgestaltung blosse «Chuchichästli-Weisheiten» und wollte in der Philosophie nur strenge Wissenschaft sehen. Diese Sichtweise wurde dogmatisch übernommen, auch wenn es immer wieder Gegenstimmen gab. Ich probiere nun auch, eine Gegenstimme zu sein.

Sie wurden mit Ihrer Idee für eine Dissertation zehnmal abgewiesen und haben schlussendlich an einer theologischen und nicht an einer philosophischen Fakultät promoviert. Offenbar gibt es den Elfenbeinturm nach wie vor?

Ja, definitiv. Die Theologie ist da wesentlich offener. 

Sie hätten auch Psychologe werden können. Warum braucht es für Sie die Philosophie als Basis, um andere Menschen zu unterstützen?

Psychologie muss ein bestimmtes Menschenbild voraussetzen, damit sie funktioniert. Für eine erfolgreiche Therapie muss man zum Beispiel festlegen, was als Krankheit gilt. Die Philosophie kann hingegen auch auf einer Metaebene fragen: Was ist denn gesund und was krank? Mich interessiert dieser kritische Zugang. 

Sie bieten ausserdem keine Therapie an, sondern Seelsorge.

Ich wollte nicht therapieren, sondern begleiten. Die Begleitung ist nicht darauf ausgerichtet, möglichst bald wieder beendet zu sein. Für jemanden, der zum Beispiel im Sterben liegt, ist es vielleicht gerade schön, jeden Tag besucht zu werden. Man darf kein Abhängigkeitsverhältnis schaffen, aber man muss auch nicht wie in einer Therapie auf ein klares Ziel hinsteuern, das besagt: Du bist jetzt gesund, es braucht keine Termine mehr. 

In welchen Lebenssituationen soll die philosophische Seelsorge zur Anwendung kommen?

Vor allem in Institutionen, in denen sich Menschen in schwierigen Situationen befinden. Etwa Spitäler, Psychiatrien, Gefängnisse oder Asylzentren. Ich sehe die philosophische Seelsorge als Ergänzung zur bestehenden, meist religiösen. Es gibt viele Gründe, warum Personen religiöse Begleitung ablehnen. Die Philosophie bietet einen offenen Zugang. Ich begleite sowohl Christ*innen und Muslim*innen als auch beinharte Atheist*innen. Ich will aber das Bestehende nicht verdrängen. Neben dem Pfarrer und dem Imam soll auf der Station einfach auch noch der Philosoph oder die Philosophin vorbeikommen.

Fehlt in der zunehmend säkularen Gesellschaft eigentlich diese Rolle einer immer verfügbaren Ansprechperson, die früher etwa ein Dorfpfarrer innehatte?

Schwierige Frage. Es ist sicher schön, jemanden zu haben, an den man sich wenden kann. Gleichzeitig sind die Machtstrukturen unter Umständen problematisch. Eine Autorität, die auch noch institutionell abgesichert ist, sehe ich kritisch. 

Sie beziehen sich aber auch auf alte griechische Philosophen wie Sokrates – in meiner Vorstellung waren das referierende Männer, die anderen ihre Weisheiten unterbreiteten. Welche Rolle spielen Machtstrukturen bei der philosophischen Begleitung? 

Sokrates war kein Prediger und schrieb keine Bücher, sondern er stellte den Leuten Fragen. Um auf das Beispiel vom Anfang zurückzukommen: Wenn Sie Liebeskummer haben, dann will ich Ihnen keine Theorien darüber erklären, sondern ich will Ihnen Fragen stellen. Sodass Sie sich selbst philosophisch damit auseinandersetzen können. Ich habe keine Idee vom guten Leben, sondern kann Ihnen helfen, eigene Lösungen zu finden. In meiner Praxis passiert es sehr selten, dass ich Menschen theoretische Ansätze unterbreite. Ich stelle primär Fragen und strukturiere das Gespräch. So will ich Machtstrukturen und «Mansplaining» bewusst verhindern.

Omar Ibrahim 
Er doktoriert an der theologischen Fakultät zum Thema «Philosophical Care»
Die «Hauptstadt» trifft Omar Ibrahim im Lokal Längasstee. Hier lässt er sich in japanischer Teezeremonie ausbilden. (Bild: Danielle Liniger)

Welche Formen ausser dem Fragenstellen kann die philosophische Seelsorge noch annehmen?

Mit einer Person habe ich abgemacht, dass ich ihr jede Woche ein Gedicht schreibe und mitbringe. Mit anderen unternehme ich stille Spaziergänge – eine Begleitung im wahrsten Sinne des Wortes. Es kann um kleine Aufmerksamkeiten gehen. Für mich ist Philosophie eine Form der Zuwendung, zu sich und zur Umwelt. Das kann politisch oder auch sorgend sein, aber selten besserwissend. Vor allem ist es nicht zwingend akademisch: Die grossen Lebensfragen betreffen uns alle. Die Personen, die ich begleite, haben oft keine höhere Bildung. Man muss nicht immer mit hochtrabenden Theorien kommen.

Viele Menschen, vor allem junge, fühlen sich machtlos, wenn sie in die Zukunft blicken. Was kann man aus philosophischer Sicht gegen dieses Gefühl tun?

Zukunftsangst ist etwas sehr Menschliches, weil wir ein Bewusstsein haben für das, was kommt. Andererseits ist es auch spezifisch für unsere Epoche – auch das lässt sich philosophisch anschauen. Unsere grossen Geschichten funktionieren nicht mehr. Etwa: «Wissenschaft bringt nur Fortschritt», oder: «Der Klassenkampf bringt die gute Gesellschaft», oder die klaren Vorgaben von Religionsgemeinschaften. Diese Geschichten prägten die Moderne und die Vormoderne stark. In der Postmoderne kam die Erkenntnis, dass sie nicht aufgehen. Der Holocaust, die Klimaerwärmung, das Scheitern der UdSSR brachten Ernüchterung und Orientierungslosigkeit hervor. Das führt zu vielen Ängsten. Die Philosophie hat darauf keine Antworten bereit, aber sie hilft bei der Orientierung. Sie hilft, selbst Urteile zu fällen, was einem wichtig ist. Und auch, unterschiedliche Meinungen auszuhalten. 

Wie löst das die Zukunftsangst?

Beides kann ein Gefühl von Selbsttätigkeit und Sicherheit vermitteln: Ich habe meine Entscheidungen getroffen und mich auf die Diskussion eingelassen. So können wir besser mit Entwicklungen umgehen, die wir nicht kontrollieren können.

Haben Sie in der Seelsorge oft mit solchen Ängsten zu tun?

Für Menschen in Institutionen ist die Frage, was bei ihnen persönlich in Zukunft kommt, oft sehr präsent. Etwa im Gefängnis, in der Psychiatrie oder im Asylwesen: Nun habe ich einen Asylentscheid – und jetzt? 

Nehmen Sie auch wahr, dass die aktuelle, bedrohliche Weltlage die Menschen mehr beschäftigt als früher?

Es hat sicher in jeder Epoche apokalyptische Vorstellungen gegeben. Besonders schwierig an unserer Zeit ist aber, dass wir oft nicht mehr wissen, woher wir die Informationen nehmen sollen, um die Welt zu verstehen. Es gibt unglaublich viele Informationsquellen, die unterschiedlich glaubwürdig sind. Die Echo-Schlaufen der Algorithmen in den sozialen Medien verstärken die einseitige Information. Das verunsichert die Menschen. Das Gefühl, die Welt gehe den Bach runter, war wohl schon immer präsent. Aber die Schwierigkeit, sich zu orientieren, vergrössert das Unbehagen.

Was bedeutet die Philosophie Ihnen persönlich?

Sie hilft mir im Umgang mit dem Fremden: mit fremden Meinungen, Weltbildern oder den Erfahrungen anderer Menschen. Durch die Philosophie kann ich mich achtsam und konstruktiv damit auseinandersetzen. Auch meine eigenen Gefühle kann ich besser beobachten.

Sie erleben den praktischen Nutzen der Philosophie also auch selbst.

Natürlich, sonst wäre ja verlogen, was ich mache. Die Philosophie hat mir auch in persönlichen Krisen geholfen, etwa nach dem Tod meines Vaters.

Wenn Sie in die Zukunft blicken: Was gibt Ihnen Hoffnung?

Die vielen, oft leiseren Stimmen, die jeden Tag gegen Ungerechtigkeit ankämpfen. Sei es durch unbezahlte Care-Arbeit, eine nette Geste oder ein politisches Mandat. Es sind nicht immer die Lautesten, die Hoffnung säen. 

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Diskussion

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Christoph Schafroth
15. Mai 2025 um 18:56

Danke für die Recherche und das tolle Interview! Sehr inspirierend.

Maja Balmer
13. Mai 2025 um 05:48

Dem Universum sei Dank, dass die theologische Fakultät der Uni Bern Omar Ibrahim hat doktorieren lassen! Sich trauen, "sowohl als auch" zuzulassen statt nur "entweder oder" hilft im "Miteinander" weil es Vertrauen gibt. Schön, dass sie hartnäckig geblieben sind, Herr Ibrahim, und danke dafür!