Uni Bern Spezial

Weltstadt in der Länggasse

An der Universität Bern wird geforscht, gelehrt, gelernt – und gelebt. Eine Einführungsexkursion.

Luftbilder Hauptgebaeude Universitaet Bern fotografiert am Freitag, 1. Maerz 2024 in Bern. (hauptstadt.be / Simon Boschi)
Wuchtiger Wissenspalast: Das Hauptgebäude der Universität auf der Grossen Schanze. (Bild: Simon Boschi)

In der Länggasse reicht ein kleiner Spaziergang, und es kann ein Ausflug in sehr weite Welten daraus werden.

Man könnte Sabina Raducan besuchen. Sie ist Wissenschaftlerin an der Abteilung Weltraumforschung am Physikalischen Institut auf der Grossen Schanze. Raducan beschäftigt sich mit dem Asteroiden Dimorphos, der sich in rund elf Millionen Kilometern Entfernung von der Erde befindet. Eine Nasa-Raumsonde raste gewollt in den Himmelskörper. Mit Software, die an der Universität Bern entwickelt wurde, untersuchen Raducan und ihr Team, ob der Himmelskörper seine Flugbahn änderte. Das Forschungsziel: Die irdische Planetenverteidigung verbessern für den Fall, dass ein Asteroid auf die Erde zusteuern sollte.

Ein paar Schritte weiter hinten in der Länggasse, im Unitobler-Gebäude, kann es passieren, dass man auf Charles Heller (42) trifft. Der Neuenburger ist ein Transfererfolg der Universität Bern, seit Anfang Jahr ist er Professor am Institut für Anthropologie. Er hat 2023 ein Stipendium des schweizerischen Nationalfonds von 1,7 Millionen Franken eingeworben. Nun untersucht er damit von Bern aus Gewaltanwendungen an Geflüchteten an den EU-Aussengrenzen, in Fallstudien von Spanien bis Polen. Heller ist eine aussergewöhnliche Figur. Er ist Filmemacher, Menschenrechts-Aktivist, Wissenschaftler und dokumentiert mit der von ihm gegründeten Genfer Agentur Border Forensics seit Jahren Übergriffe von Grenzpolizeien an Migrant*innen.

Woke Froschväter

Vielleicht würde es sich lohnen, jetzt kurz aufs Velo steigen, um bei Eva Ringler vorbeizuschauen. Sie ist Professorin für Verhaltensökologie, das Uni-Institut, an dem sie forscht, befindet sich in einer Waldlichtung im Bremgartenwald unweit des Campingplatzes Eymatt. Ringlers Forschungsgruppe erregte Aufsehen, weil sie an einer internationalen Untersuchung über Glasfrösche im südamerikanischen Urwald beteiligt ist. Die Forscher*innen wiesen nach, dass fürsorgliche Froschmännchen, die zu ihrem Nachwuchs schauen, kleinere Hoden haben. Ein Musterbeispiel, wie Evolution wirkt: Weil die woken Glasfroschväter anders als ihre unsensibleren Kollegen weniger um den Fortpflanzungserfolg fürchten müssen, genügen ihnen weniger leistungsfähige Hoden.

Zurück aus dem Wald an die Muesmattstrasse in der Länggasse. Dort richtet sich dieser Tage der englische Essayist und Fotograf Johny Pitts ein, er übernimmt in diesem Frühjahr die «Friedrich Dürrenmatt Gastprofessur für Weltliteratur» am Walter Benjamin Kolleg der Uni. Pitts dokumentiert die Lebenserfahrungen schwarzer Europäer*innen, er schrieb mit dem Buch «Afropäisch. Eine Reise durch das schwarze Europa» ein Standardwerk, das er mit einem Onlinemagazin weiterentwickelt. Am Montag (18.30 Uhr) tritt Gastprofessor Pitts in der Burgerbibliothek am Casinoplatz erstmals in Bern öffentlich auf.

Luftbilder Bibliothek Muenstergasse der Universitaet Bern fotografiert am Freitag, 1. Maerz 2024 in Bern. (hauptstadt.be / Simon Boschi)
Die Uni-Bibliothek an der Münstergasse, an der Ecke Casinoplatz/Herrengasse die Burgerbibliothek, wo Johny Pitts liest. (Bild: Simon Boschi)

Dass Raducan, Heller, Ringler und Pitts in diesem Text vorkommen, ist Zufall. Sie tauchten in den letzten Tagen in Meldungen der Universität Bern auf. Logisch decken sie nur einen Bruchteil des universitären Forschungshorizonts ab. Was sie aber veranschaulichen: Dass sich im Rücken des Uni-Hauptgebäudes in der Länggasse eine weit verzweigte, weltweit vernetzte und bisweilen unkonventionelle Wissenslandschaft entfaltet.

Geprägt wird das Aussenbild der Uni allerdings nach wie vor vom wuchtigen Sandsteinbau des Hauptgebäudes auf der Grossen Schanze. Hierhin zog die Universität Bern Anfang des 20. Jahrhunderts, nachdem sie zuvor am heutigen Standort des Casinos residiert hatte. Man verbindet mit dem strengen Hauptgebäude das klassische Image der Hochschule, des akademischen Elfenbeinturms, des Palasts der Studierten, das mit dem kolportierten Bild des studentischen Lotterlebens kontrastiert.

Die Stadt in der Stadt

Die elitäre und konservativ wirkende Ausstrahlung verbirgt, wie dynamisch sich die Universität in den letzten 40 Jahren entwickelt hat. Sie wächst und wächst. Zählt man Angestellte und Studierende zusammen, bewegen sich fast 30’000 Personen im Berner Uni-Kosmos, mal abgesehen davon, dass die Universität über ihre medizinischen Fakultäten eng mit Berner Gross-Institutionen wie dem Inselspital oder den Universitären Psychiatrischen Diensten (UPD) verknüpft ist.

Hauptstadt Flagge am Universitaets Hauptgebaeude fotografiert am Donnerstag, 29. Februar 2024 in Bern. (hauptstadt.be / Simon Boschi)
Die «Hauptstadt» an der Uni

Vom 4. bis zum 8. März gastiert die «Hauptstadt» an der Universität Bern. Die Redaktion verlegt ihren Standort für eine Woche ins Sitzungszimmer 102 im 1. Obergeschoss des Hauptgebäudes und taucht ins Uni-Leben ein. Im Fokus steht die Universität nicht nur als Ort der Wissenschaft. Sondern als vielfältiger, dynamischer gesellschaftlicher Lebensraum in der Länggasse. Wir fragen auch: Wie muss man sich ein Student*innenleben – jenseits der Vorurteile – vorstellen? Und wie kommen Studierende in der Länggasse gastronomisch über die Runden?

Parallel zu ihrer journalistischen Arbeit will die «Hauptstadt» auch Raum für Begegnungen schaffen – die Redaktion im Uni-Hauptgebäude ist offen und jederzeit besuchbar. Am Donnerstag, 7. März, ab 10 Uhr, findet eine öffentliche Redaktionssitzung statt. Die Redaktion der Studizytig macht eine Blattkritik. Danach, um 12.15 Uhr, beantworten drei Journalist*innen der «Hauptstadt» an einem Mittags-Podium eine Berufswahlfrage: Wie werde ich Journalist*in?

Die Universität Bern ist zu einer Stadt in der Stadt geworden. Was das Jahresbudget angeht, bewegt sich die Universitätsleitung auf Augenhöhe mit der Berner Stadtregierung. Die Uni gibt jährlich rund eine Milliarde Franken aus, die Stadt 1,3 Milliarden. 

Ein wichtiger Treiber ist der Koloss Uni für die Stadtentwicklung. Die früheren Industriestandorte der Länggasse – die Chocolat-Fabrik Tobler und die Eisengiesserei Von Roll – sind heute als Universitätszentren moderne Wissensfabriken. Insgesamt nutzt die Universität in der Stadt 130 Gebäude, die ihr alle vom Kanton zur Verfügung gestellt werden. Die Zahl der Studierenden ist – ohne absehbares Ende – auf knapp 20’000 (Frauenanteil: 59 Prozent) angewachsen, und man kann sich kaum vorstellen, wie die Stadt aussähe, wenn ihr dieses Leben fehlen würde.

Grenzen des Wachstums?

Die Universität beschäftigt knapp 8000 Angestellte und gehört damit zu den grossen Arbeitgeberinnen im Kanton Bern. Wie der Gesamtpersonalbestand ist die Zahl der Vollzeitstellen für Professor*innen (Frauenanteil: 30 Prozent) jährlich um über ein Prozent auf heute 534 gewachsen. Professuren gehören auch lohnmässig zu den interessanten Jobs. Wie eine Übersicht von Swiss Universities zeigt, verdienen ordentliche Professor*innen in Bern zwischen 150’000 und 240’000 Franken jährlich – und finden sich damit ungefähr auf dem Niveau der fünf Stadtberner Gemeinderät*innen (Jahreslohn: 224’000 Franken) wieder.

Stellt sich die Frage: Wie lange wächst die Universität Bern noch ungebremst weiter?

Markus Brönnimann weiss als Verwaltungsdirektor und Mitglied der Universitätsleitung genau, wo die Uni in absehbarer Zeit an Grenzen stösst. Und wo nicht. «Ich sehe keine Anzeichen, dass die Zahl der Studierenden in den nächsten Jahren nicht weiter steigen würde», sagt Brönnimann zur «Hauptstadt». Solange die Bevölkerung wachse und sich die Arbeitswelt akademisiere, setze sich dieser Trend fort. Für die Uni Bern sei das an sich kein Problem.

Der klamme Kanton

Trotzdem wird die Universität eher früher als später in Schwierigkeiten geraten. Hauptgrund: Die finanzielle Unterstützung hält nicht mit dem Wachstum Schritt. Der Kanton Bern zahlt als grösster Geldgeber über 300 Millionen Franken pro Jahr ans Uni-Milliardenbudget.

Aber weil der Kanton selber mit roten Zahlen kämpft, erhöht er seinen Beitrag aus Sicht der Universität zu geringfügig – und übt mit widersprüchlich wirkenden Entscheiden zusätzlich Druck aus, wie Brönnimann schildert. Für 2024 beschloss der Regierungsrat für das Kantonspersonal eine Lohnerhöhung von 2,5 Prozent. Weil die Ausgabenseite der Uni vor allem aus Personalkosten bestehe, fresse diese Lohnmassnahme den höheren Kantonsbeitrag gleich mehr als wieder weg.

Luftbilder Unitobler der Universitaet Bern fotografiert am Freitag, 1. Maerz 2024 in Bern. (hauptstadt.be / Simon Boschi)
Bijou: Die Unitobler mit dem Chalet der Studierendenschaft. (Bild: Simon Boschi)

Unter dem Strich drohe der Uni Bern deshalb ein Konkurrenznachteil, sagt Brönnimann. Weil sie zu wenig Mittel habe, um kompetitive Forschungsgruppen, etwa in Medizin und Biochemie, mit hochspezialisierten, hermetisch gesicherten Laborräumen auszustatten.

«Noch ist es gerade nicht so weit», sagt Brönnimann, «aber wenn wir plötzlich Forschungsgruppen, die hohe Drittmittelbeträge einwerben, verlieren, weil wir ihnen keine Labors bieten können, dann ist es zu spät.» Unter ihnen befänden sich ja die Spitzenforscher*innen, die mit einer Erfindung vielleicht ein Patent anmelden, in Bern ein Unternehmen gründen und Arbeitsplätze schaffen würden.

Das studentische Wohlbefinden

A propos Spitzenforschung: Wie glücklich sind eigentlich die normalen Studierenden, die 805 Franken Semestergebühren bezahlen, an der Universität Bern?

Sozialwissenschaftsstudent Sandro Arnet setzt sich im pittoresken Chalet im Hof der Unitobler an den Sitzungstisch. Er ist Vorstandsmitglied der Studierendenschaft der Uni Bern (SUB), das Chalet ist ihr Sitz. Die SUB vertritt offiziell die Interessen der Studis gegenüber der Unileitung, und Arnet kommt schnell auf die SUB-Umfrage zu sprechen, die 2023 (wie alle drei Jahre) unter Studierenden durchgeführt wurde.

Dort stellte man erstmals Fragen zur mentalen Gesundheit – und die Ergebnisse zeigten ein «bedenklich tiefes Wohlbefinden», wie Arnet festhält. Erhoben wurde die mentale Gesundheit nach Vorgaben der Weltgesundheitsorganisation, und im Durchschnitt bewegten sich die Befragten sehr nahe an Werten, bei denen weitere Untersuchungen zu einer Depression gemacht würden.

Weil die Rücklaufquote der Umfrage eher gering war (11 Prozent), hält sich Arnet mit Interpretationen zurück. Die Ergebnisse unterstrichen aber, dass das Leben vieler Studierender bedeutend weniger locker sei, als das – etwa angesichts der mehrmonatigen Semesterferien – oft suggeriert werde. Die mit der Wohnungsknappheit verbundene Erhöhung der Mietpreise belaste die studentischen Budgets immer stärker.

80 Prozent der Studierenden gehen nebenbei einer regelmässigen Arbeit nach. «Die Frage der Vereinbarkeit ist noch wichtiger geworden», sagt Arnet, «deshalb setzen wir uns dafür ein, dass mehr Vorlesungen auch als Podcasts zur Verfügung gestellt werden.»

Die Partynächte

Überhaupt stellt die SUB eine breite Palette von Hilfestellungen zur Verfügung – sie führt eine Liste über die Verfügbarkeit von Mikrowellenherden ebenso wie ein Verzeichnis freier Wohnungen. Auf dem Wohnungsmarkt will die SUB sogar selber aktiv werden: Zusammen mit der Baugenossenschaft Aare bewirbt sie sich um ein Baufeld der künftigen Viererfeld/Mittelfeld-Überbauung, um selber für Studi-Wohnraum zu sorgen.

In der Öffentlichkeit sei die Universität oft mit ihrer Spitzenforschung präsent. Dagegen sei nichts einzuwenden, sagt Sandro Arnet. Aber die Realität der allermeisten Studis sehe halt ganz anders aus. Voll aufs Studium setzen könne eigentlich nur, wer von den Eltern finanziell unterstützt werde. Für die anderen bedeute Studieren in der Regel eine ziemlich anspruchsvolle, jahrelange Jonglage zwischen Geldverdienen und universitärer Leistungserbringung.

Luftbilder Uni Sportwissenschaften der Universitaet Bern fotografiert am Freitag, 1. Maerz 2024 in Bern. (hauptstadt.be / Simon Boschi)
Leibesübung und Party: Sitz der Sportwissenschaften im Neufeld (Bild: Simon Boschi)

Was nicht heisst, dass das Leben vergessen geht. Gerade erleben legendäre Studi-Partys eine Renaissance. Letzten Donnerstag ging im Berner Circle Club erstmals seit fünf Jahren die Jurist*innen-Party «In dubio prosecco» wieder durch die Decke. Am Tag darauf liess es die Fachschaft Psychologie nach vier Jahren Pause im Bierhübeli an der Psych Party Rave-Olution krachen. Einst hatten die Tessiner*innen Studierenden Legendenstatus bei Festextasen. Mittlerweile sind in der Disziplin Party eher die Sportstudent*innen die König*innen, mit ihrem halbjährlich stattfindenden Super-Bowl im Bierhübeli.

Wie in einer Weltstadt. 

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