«Im Regierungsrat sprechen wir meist Hochdeutsch»
Berns Stopp bei den Classes bilingues bedauert die kantonale Regierungspräsidentin Evi Allemann (SP). Sie äussert sich zur Medienkrise und wünscht sich ein geregeltes Verhältnis des Kantons zu allen Religionsgemeinschaften.
Frau Allemann, was war die prägendste Begegnung in Ihrem Präsidialjahr?
Evi Allemann: Prägend war die Vielfalt der Begegnungen. Ich durfte an vielen Anlässen präsent sein und die Wertschätzung der Regierung zum Ausdruck bringen. Beeindruckt hat mich das grosse Engagement der vielen freiwilligen Helfenden. Das Herzblut und der Enthusiasmus in Vereinen für Anlässe wie Schwing- oder Musikfeste sind sehr schön.
Welche Begegnung hat Sie nachdenklich gestimmt?
Viele Gespräche am Rand von Anlässen mit Menschen, die sich Sorgen um die Zukunft machen.
Welche Sorgen haben die Menschen im Kanton Bern?
Es sind die gleichen Sorgen wie anderswo: Wirtschaftliche Sorgen, um die Kaufkraft, um den Lohn und die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Als Raumplanungsdirektorin beschäftigen mich die Sorgen um den Schutz von Kulturland oder den Klimawandel. Es werden Fragen gestellt wie: Verbauen wir nicht unsere Zukunft? Wie können wir verdichtet bauen, ohne dass es uns zu eng wird?
Wie lautet Ihre Antwort?
Wir versuchen die Bauentwicklung zu lenken. Das gelingt uns etwa mit dem Programm der Entwicklungsschwerpunkte. Es gibt Orte, wo wir bauliche Entwicklung wollen. An anderen Orten schützen wir die Landschaft und das Kulturland.
Diesen Monat waren Sie beim Spatenstich der Überbauung Wankdorfcity 3. Das gehört wohl zu den schönen Momenten als Politikerin.
Ja. Das ist ein Leuchtturmprojekt der Innenentwicklung an einem Premium-Standort. Es ist ein schönes Beispiel dafür, was möglich ist, wenn innovative Menschen am Werk sind. Die gestapelte Stadt bringt die Siedlungsentwicklung in eine neue Dimension. Und hier wurde auch die Gestaltung des öffentlichen Raums von Anfang an gut mitgedacht. Da wird die Lebensqualität hoch sein und trotz Verdichtung keine Enge, sondern attraktiver Raum zum Leben entstehen.
Kanton und Stadt streichen gerne die progressive Entwicklung und Steigerung der Lebensqualität heraus. Dennoch ist das Image von Bern nicht gut. Der Kanton wurde kürzlich wieder in einem Kommentar von NZZ-Chefredaktor Eric Gujer als weltfremder Finanzprofiteur kritisiert. Was entgegnen Sie solchen Kritikern?
Das entspricht nicht der Realität. Wir sind ein sehr vielfältiger Kanton mit einer Million Einwohnerinnen und Einwohnern. Wir sind der zweitgrösste Kanton des Landes, leisten viel für den nationalen Zusammenhalt, als Brücke zwischen Deutschschweiz und Romandie und zwischen Stadt und Land. Wir sind der grösste Industriekanton, sind Uni- und Spitalstandort. In der Medizinalforschung etwa sind wir ganz vorne dabei. In der Region Bern läuft also der wirtschaftliche Motor. In einem grossen Flächenkanton gibt es aber auch Regionen, wo die strukturellen und wirtschaftlichen Herausforderungen grösser sind. Auch dort einen guten Service public zu finanzieren, kostet. Das wird bei der Polemik aus Zürich gerne vergessen.
Bern wächst weniger stark als andere Kantone. Wir verlieren einen Nationalratssitz.
Wir wachsen. Aber nicht so schnell wie andere. Unser Einfluss bleibt gross, da in Bern das politische Zentrum ist.
Die SP-Regierungsrätin Evi Allemann präsidierte die kantonale Exekutive in den vergangenen 12 Monaten. Am 2. Juni wird voraussichtlich ihr Kollege Christoph Neuhaus (SVP) das Amt übernehmen. Allemann ist seit 2018 im Regierungsrat und Vorsteherin der Direktion für Inneres und Justiz. Davor politisierte Allemann 15 Jahre im Nationalrat und 5 Jahre im Grossen Rat. Bei ihrer Wahl 1998 war sie damals mit 19 Jahren die jüngste je in einem schweizerischen Kantonsparlament vertretene Parlamentarierin. Allemann kandidierte je für die Bundesratswahlen 2022 und 2023 als Nachfolgerin von Simonetta Sommaruga und Alain Berset, wurde aber von ihrer Fraktion nicht nominiert.
Die grossen öffentlichen Verwaltungen in Bern haben Auswirkungen auf die Wirtschaft. Der CEO der Könizer Firma Haag-Streit sagte kürzlich in der «Hauptstadt», wegen steigender Löhne in der Verwaltung verliere er Mitarbeiter*innen. Ist das ein Problem für den Wirtschaftsstandort?
Beim Kanton sehen wir bei Rekrutierungen, dass der Lohn nur ein Faktor von vielen ist. Unsere Löhne sind konkurrenzfähig, aber nicht höher als in der Wirtschaft.
Aber die Lohnsteigerung ist bei der Verwaltung und den staatsnahen Betrieben erheblich.
Die Löhne steigen moderat, gleichzeitig steigen die Preise, die Mieten, die Gesundheitskosten. Das bereitet vielen Menschen Sorgen – mir auch.
Der Kanton will die Zweisprachigkeit fördern. In den letzten Wochen sorgte der Entscheid der Stadt Bern, den Versuch der Classes bilingues zu stoppen, für Empörung. Sind auch Sie enttäuscht?
Ich persönlich bedaure den Entscheid. Wir haben das Thema auch im Regierungsrat diskutiert. Als Brückenkanton ist uns die Zweisprachigkeit wichtig, darum gibt es verschiedene Projekte. So versucht etwa die Bildungsdirektion, mehr Gemeinden zu motivieren, bilinguale Klassen zu führen. Auch in der Verwaltung ist die Zweisprachigkeit wichtig. Wir wollen das als Kanton leben.
Die organisatorischen Herausforderungen sind in der Stadt grösser als gedacht. Es bräuchte wohl mehr Geld. Wäre der Kanton bereit, mehr Geld für bilingue Klassen beizusteuern?
Der Kanton Bern hätte die Weiterführung des Schulversuchs gerne geprüft. Aber es ist kein Gesuch eingetroffen, auch kein Finanzierungsgesuch.
Warum sind die zweisprachigen Klassen wichtig für die Förderung der Zweisprachigkeit?
Sie leisten einen wichtigen Beitrag zur Erarbeitung einer bilingualen Sprachkompetenz. Kinder von klein auf bilingue zu unterrichten, ist gelebte Zweisprachigkeit.
Faktisch geht es aber um lediglich 90 von 12’000 Schüler*innen in der Stadt. Geht es bei solchen Massnahmen nicht eher um ein politisches Symbol für die Zweisprachigkeit?
Der Kanton ist offen für mehr Klassen und mehr Gemeinden, die sich mit Schulversuchen beteiligen. Bisher gibt es in Biel und Bern entsprechende Schulversuche.
Wie erleben Sie als Regierungspräsidentin die bernische Zweisprachigkeit?
Es ist mir wichtig, auch die Französischsprachigen anzusprechen, zum Beispiel in Grusswörtern und Reden. In der Region Biel erlebe ich den Kanton als ausgeprägt bilingue. Da wechselt man selbstverständlich dauernd zwischen den Sprachen.
Wie leben Sie innerhalb der Regierung den Bilinguisme?
Sitzungen sind grundsätzlich zweisprachig. In den Regierungssitzungen sprechen wir aber meist Hochdeutsch. Wenn französischsprachige Fachleute kommen, sprechen sie Französisch.
Der jurassische SVP-Regierungsrat Pierre Alain Schnegg spricht mit Ihnen also Deutsch.
Oft Deutsch, manchmal Französisch, je nach Situation.
Verstehen Sie ihn auf Französisch?
Ja, natürlich. Alle Regierungsmitglieder verstehen gut Französisch.
Der Regierungsrat wird naturgemäss nicht als Team rekrutiert, sondern ist ein von Wähler*innen zusammengestelltes Gremium. Wie gut arbeiten Sie zusammen?
Als Regierungspräsidentin war es mir wichtig, eine gute Diskussionskultur zu ermöglichen. Wir haben intensive inhaltliche Auseinandersetzungen, aber in einer Kultur, die zu tragfähigen Lösungen führt. Ich erlebe eine gute Bereitschaft zu Perspektivenwechseln, Kompromissen und gemeinsamer Verantwortung.
Auffallend ist, dass sich Ihr Kollege Philippe Müller (FDP) in den sozialen Medien sehr pointiert äussert. Wie oft muss der Regierungsrat über die Kommunikation in den sozialen Medien sprechen?
Das ist selten ein Thema. Bei den Äusserungen von Regierungsrat Müller zum ESC vor einem Jahr oder kürzlich bei einer Äusserung von Regierungsrat Neuhaus zum Krieg in der Ukraine hat die Regierung jeweils schnell reagiert. Die gute Diskussionskultur hat ermöglicht, dass die Mehrheit sich von den Aussagen distanziert hat, ohne dass es die kollegiale Zusammenarbeit tangiert.
Sie sind Religionsministerin, aber selbst aus der katholischen Kirche ausgetreten. Darum zahlen Sie keine Kirchensteuer. Verstehen Sie den Wunsch aus der KMU-Wirtschaft, die Pflicht der Firmen zur Zahlung von Kirchensteuern aufzuheben?
Ich verstehe diesen Wunsch, ja. Die Idee dahinter ist auch, alle Religionsgemeinschaften gleich zu behandeln. Eine juristische Person kann derzeit nicht sagen, welcher Religionsgemeinschaft die Steuer zugutekommen soll. Wir machen daher gerne eine Auslegeordnung zu dieser Frage, wie der Grosse Rat dies mit einem parlamentarischen Vorstoss gewünscht hat.
Was spricht für, was gegen eine Aufhebung der Kirchensteuerpflicht für Unternehmen?
Ich kann noch nicht über eine Aufhebung sprechen. Wir schauen an, welche möglichen Regelungen es für die Kirchensteuer geben könnte, bis hin zu einer freiwilligen Abgabe. Die Landeskirchen erbringen im sozialen Bereich einen wichtigen Beitrag. Das muss auch berücksichtigt werden.
Mittlerweile sind 38 Prozent der Bevölkerung im Kanton Bern konfessionslos oder gehören einer Religionsgemeinschaft an, die nicht als Landeskirche anerkannt ist. Daher wollen Sie die Seelsorge ausserhalb der Landeskirchen stärken. Bald endet ein mehrjähriges Pilotprojekt für eine Seelsorge von privatrechtlich organisierten Religionsgemeinschaften für kantonale Institutionen wie Gefängnisse, Asylzentren oder Spitäler. Welche Erkenntnisse haben Sie gewonnen?
Wir wollen die Ungleichbehandlungen zwischen Religionsgemeinschaften reduzieren. Die Seelsorge war da unser erster Fokus. Wir haben den Aufbau des Vereins multireligiöse Begleitung unterstützt und wollen dieses Angebot in unseren Institutionen verankern.
An der Uni Bern wurde kürzlich ein Konzept für eine philosophische Seelsorge entwickelt. Was halten Sie davon?
Das Konzept kenne ich noch nicht. Aber es tönt spannend, denn die Begleitung von Menschen bei existenziellen Fragen kann aus verschiedenen Blickwinkeln geschehen.
Welche weiteren Schritte machen Sie hinsichtlich anderer Religionsgemeinschaften als die Landeskirchen?
Bis vor fünf Jahren pflegte der Kanton nur Kontakt zu den Landeskirchen. Der erste Schritt war die Erstellung der digitalen Religions-Landkarte. Sie zeichnet ein spannendes Bild, wer sich im Kanton Bern überhaupt religiös engagiert. Zusammen mit den Berichten der Landeskirchen zu ihren Leistungen ergibt das ein vollständiges Bild der Religionslandschaft. Zudem geht es um fachliche Beratungen für religiöse Gemeinschaften und wir versuchen, Bedürfnisse und Ungleichbehandlungen zu erkennen.
Es treten immer mehr Menschen aus der Landeskirche aus. Schon über 30 Prozent der Bevölkerung ist konfessionslos. Wie lange soll und kann man die rechtliche Sonderstellung der Landeskirchen im Kanton noch rechtfertigen?
Das muss das Parlament diskutieren. Gerade kürzlich hat der Grosse Rat wieder Gelder zur Stützung der gesamtgesellschaftlichen Leistungen der Landeskirchen gesprochen. Es wäre wünschenswert, auch für den Umgang mit anderen Religionsgemeinschaften geregelte Verhältnisse zu haben.
In unsicheren Zeiten, wie sie aktuell mit Klimakrise und globalen machtpolitischen Veränderungen herrschen, sind Fragen der Gemeinschaft und der Zugehörigkeit zentral. Wie halten wir abseits der Kirchen im Kanton Bern ein Gemeinschaftsgefühl hoch?
Wie schafft man Gemeinschaft und Identität? Das sind grosse Fragen, für die längst nicht mehr nur die Kirche zuständig ist. Der Kanton versucht, einen sicheren Rahmen zu bieten für eine wertebasierte Gesellschaft. Die Identitätsfindung findet heute grösstenteils nicht mehr in Kirchen statt. Das ist heute viel individueller.
Inwiefern?
Diskussionen über Identität finden auch in der Schule, in der Kultur, in der Politik oder in den sozialen Medien statt. Die Aufgabe des Staates ist es, einen sicheren Rahmen zu garantieren. Zum gesellschaftlichen Zusammenhalt hat der Regierungsrat auch politische Ziele: Da geht es etwa um die Förderung von Medienvielfalt und die Förderung von Kindern und Jugendlichen mit besonderen Bedürfnissen. Und generell um sozialpolitische Massnahmen.
Welche Werte kann die Politik herausstreichen, um Menschen Orientierung zu bieten?
Wichtig sind verlässliche Institutionen und begründete Entscheidungen. Die Achtung der demokratischen Institutionen und eine zugängliche, berechenbare und erreichbare Verwaltung.
Sie sprachen die Sozialpolitik an. Ab Anfang 2028 Jahr kann der Kanton rund 100 Millionen Franken mehr einsetzen für Prämienverbilligungen. Wer wird davon profitieren?
Wir machen derzeit ein Upgrade unseres bewährten Systems. Weiterhin sollen insbesondere Familien profitieren. Jene, die jetzt schon eine Verbilligung erhalten, sollen mehr bekommen, aber auch Menschen, die heute noch nicht davon profitieren, sollen künftig Anspruch haben. Gesetzliches Ziel ist, dass zwischen 25 und 45 Prozent der Bevölkerung eine Prämienverbilligung erhalten.
In der Krise sind nicht nur die Kirchen, sondern auch die Medien. Ihnen laufen die zahlenden Leser*innen und Inserent*innen davon. Im Kanton Bern gibt es mit Tamedia nur noch ein grosses Verlagshaus mit einer Redaktion für zwei Zeitungen und dazu kleinere Medien wie die «Hauptstadt». Über die Kantonspolitik wird darum weniger berichtet als noch vor ein paar Jahren. Sind Sie froh oder bereitet das Ihnen Sorgen?
Politik lebt von einer vielfältigen Berichterstattung. Die Regierung hat Ziele zur Stärkung der Medienvielfalt. Eine funktionierende Demokratie braucht eine vielfältige Medienlandschaft.
Gibt es im Kanton Bern genug Medien, die den Diskurs pflegen?
Es gibt relevante Medien, auch die jungen Berner Onlinemedien leisten einen wertvollen Beitrag an die Vielfalt. Angesichts der sozialen Medien ist es wichtig, dass Medien unabhängig und faktenbasiert recherchieren und langfristig erhalten bleiben.
Der Bund fördert derzeit nur Radio, TV und den Vertrieb von Zeitungen. Braucht es eine technologieunabhängige Förderung für Lokaljournalismus?
Diese Diskussion wird unausweichlich sein. Auch der Kanton Bern fördert seit 2024 die Medien indirekt über Finanzhilfen an Institutionen, welche die Medien unterstützen.
Sie leben in einer Patchworkfamilie mit Partner Stefan Berger, dem Burgdorfer Stadtpräsidenten, und schulpflichtigen Kindern aus einer früheren Partnerschaft. Mit Ihrem Amt und Ihrer Bundesratskandidatur vor wenigen Jahren stehen Sie sinnbildlich für die Verbindung von politischem Exekutivjob und Familienarbeit. Was ist Ihr Rezept, alles unter einen Hut zu bringen?
Auch für mich ist die Vereinbarkeit von Familie und Beruf eine grosse Herausforderung. Das A und O ist eine gute Organisation. Und ich verzichte auf eine kurzfristige Flexibilität. Wichtig ist letztlich ein Umfeld, das dieses Lebensmodell mitträgt und Kinder, die sich an nichts anderes gewöhnt sind.