Auf wen wir zählen
70 Prozent aller Arbeit kann zur Care-Arbeit gezählt werden. Trotzdem bleibt sie oft unsichtbar. Auch deshalb stecken wir in einer «Care-Krise», sagt die Berner Soziologin Sarah Schilliger.
Es braucht einiges, bis ein Mensch versorgt ist. Wir alle müssen essen, brauchen ein sauberes Zuhause, Pflege und Unterstützung. Unsere Kinder brauchen Betreuung. Unsere Nahrung muss hergestellt, geerntet und verkauft werden. Unsere medizinischen Probleme muss jemand lösen.
Dabei fällt Arbeit an – sogenannte Sorge- oder Care-Arbeit. Sie wird bezahlt und unbezahlt geleistet, grösstenteils von Frauen. Und macht etwa 70 Prozent aller Arbeitsstunden aus, die Menschen in der Schweiz verrichten. So errechnete es die Basler Ökonomin Mascha Madörin. Doch wenn wir von der «Wirtschaft» sprechen, denken wir trotzdem kaum an diese Formen der Arbeit.
Warum das so ist, beschäftigt die Berner Soziologin Sarah Schilliger. Sie forscht und lehrt am Interdisziplinären Zentrum für Geschlechterforschung an der Universität Bern.
Die 44-Jährige hat ihre Doktorarbeit über die 24-Stunden-Betreuung von Pflegebedürftigen in Privathaushalten geschrieben. Aktuell untersucht sie im Rahmen eines internationalen Forschungsprojekts in zehn europäischen Städten lokale Antworten auf «Care-Krisen». Ab September arbeitet sie zusätzlich an einem Projekt an der ETH Zürich mit, das im Nachgang der Corona-Pandemie die Erfahrungen und politischen Forderungen von «systemrelevanten» Arbeitskräften in Schweizer Städten untersucht.
Als Auftakt für den thematischen Schwerpunkt «Unsichtbare Arbeit» hat die «Hauptstadt» Sarah Schilliger zum Gespräch getroffen.
Vom 19. bis 23. August verlegt die «Hauptstadt» ihre Redaktion ins Mattequartier: Sie ist zu Gast bei der Fachstelle für Sexarbeit Xenia, die heuer vierzig Jahre alt wird.
Aus diesem Anlass beschäftigen wir uns mit Formen von unsichtbarer Arbeit: Arbeit, deren gesellschaftlicher Wert grösser ist als ihre Anerkennung in Form von Lohn, Sichtbarkeit oder Ansehen. Mit verschiedenen Beiträgen nehmen wir Sexarbeit, Erntehilfe, freiwillige Betreuung von Angehörigen oder die Arbeit in einer Kita unter die Lupe.
Hier geht es zum thematischen Schwerpunkt.
Sarah Schilliger, was ist für Sie «unsichtbare» Arbeit?
Es sind unzählige Tätigkeiten, die wesentlich zum Funktionieren unserer Gesellschaft beitragen. Sie sind unverzichtbar, damit alle menschlichen Bedürfnisse befriedigt sind. Dazu gehören Arbeit im Haushalt, aber auch bezahlte Kinderbetreuung, das Gesundheitswesen, Pflege von Älteren oder die Landwirtschaft. Ich definiere alle diese Tätigkeiten als Care-Arbeit.
Was macht diese Tätigkeiten unsichtbar?
Solange der Laden läuft, nimmt man sie häufig nicht wahr. Sie fallen erst auf, wenn sie nicht erledigt sind. Ausserdem leisten sie oft Menschen, die wenig gesellschaftliche Macht und Prestige haben und die deshalb selbst eher unsichtbar sind. Es sind Arbeiten und Berufe, die nach wie vor meistens Frauen und Migrant*innen ausführen.
Aber das bürgerliche Familienmodell mit dem Mann als Einzelernährer und der Hausfrau ist doch vorbei.
Ja, schon. Statistiken zeigen: Das Modell war in der Schweiz bis in die 1980er-Jahre dominant. In den letzten dreissig Jahren ist es abgelöst worden von einem Eineinhalb-Ernährer-Modell. Wenn Paare Kinder bekommen, sind die Männer oft weiterhin hochprozentig erwerbstätig, und die Frauen arbeiten zusätzlich Teilzeit. Aber die Care-Arbeit ist ja jetzt nicht verschwunden. Statistiken zeigen, dass diese Arbeit nicht anteilsmässig von Männern übernommen worden ist, seit die Frauen mehr Lohnarbeit leisten. Die amerikanische Soziologin Arlie Hochschild spricht von einer «steckengebliebenen» Revolution im Haushalt. Das führt zu Stress und Erschöpfung bei vielen, die Care-Arbeit leisten. Und zu dem, was man «Unvereinbarkeit von Beruf und Familie» nennt.
Ist das die «Care-Krise», von der Sie in Ihrer Forschung sprechen?
Unter anderem, ja. Die Care-Krise besteht aber nicht nur bei unbezahlter Arbeit im Haushalt. Sondern auch, weil diese Tätigkeiten als bezahlte Arbeit zu wenig Wertschätzung erhalten – ökonomische und symbolische. In der kapitalistischen Ökonomie wird versucht, bezahlte Care-Arbeit zu rationalisieren. Sie soll schneller, effizienter und billiger verrichtet werden. Bei Tätigkeiten an und mit Menschen ist das aber nur beschränkt und mit Qualitätsverlust möglich. Das führt dazu, dass Menschen ihren Beruf verlassen, weil sie ihn nicht mehr so ausüben können, wie sie sich wünschen und für nötig erachten. Etwa im Gesundheitswesen, in der Pflege oder der Kinderbetreuung.
Woher rührt die mangelnde Wertschätzung?
Das hat auch mit dem gesellschaftlichen Umgang mit Care-Arbeit zu tun. Traditionell sah man diese Tätigkeiten als Liebesdienst, den Frauen gratis und unsichtbar leisten. Dieser Ruf klebt bis heute an der Arbeit. Sie zählt wirtschaftlich viel zu wenig, obwohl sie zentral ist für das menschliche Zusammenleben. Insgesamt führt das zu wachsenden Care-Lücken: Es gibt zu wenig Geld- und Zeitressourcen für die anfallende Arbeit.
Können diese Lücken mit Arbeitskräften aus dem Ausland gefüllt werden?
Das löst die Care-Krise nicht, sondern hebt sie auf eine globale Ebene. Reichere Staaten können billigere Arbeitskräfte importieren. Also arbeiten Migrant*innen in der Schweiz in der Reinigung, in der 24-Stunden-Betreuung von Pflegebedürftigen oder als Erntehelfer*innen. Damit wird die Krise aber nicht gelöst, sondern nur verschoben. Die Menschen, die hier zu oftmals prekären Bedingungen arbeiten, hinterlassen genauso Care-Lücken in ihren Herkunftsstaaten. Denn auch deren Mitmenschen sind auf Care-Arbeit angewiesen. Diese Lücken werden teilweise gefüllt mit Menschen, die aus noch prekäreren Situationen oder ärmeren Ländern kommen – in der Soziologie spricht man von «globalen Sorge-Ketten». Das Problem bleibt aber bestehen. Der kamerunische Politikwissenschaftler Achille Mbembe benannte diese Ungleichheit mit den prägnanten Worten: «Die einen zählen – und auf die anderen wird gezählt».
Die Demografie verstärkt das Problem. Immer mehr ältere Menschen werden Pflege benötigen. Wie lösen wir diese Krise?
Hier kommt wieder das Stichwort «unsichtbare» Arbeit ins Spiel. Wir müssten den riesigen Wirtschaftsbereich der Sorge- und Versorgungswirtschaft als solchen anerkennen. In den vorherrschenden Wirtschaftstheorien wird aber ein Grossteil dieser Arbeit ausgeblendet. Unbezahlte Care-Arbeit wird nicht ins Bruttoinlandprodukt (BIP) eingerechnet. Sie hat im kapitalistischen Wirtschaftssystem keinen ökonomischen Wert. Was absurd ist, wenn man bedenkt, dass das BIP den Wohlstand und den Lebensstandard in einem Staat ausdrücken soll. Doch die Referenz ist die Lohnarbeit. Sie verleiht den Menschen Status und Anerkennung, und unser Zeitbudget ist nach ihr ausgerichtet. In meinen Augen müssten wir für eine grundlegende Veränderung diese Sphären neu justieren. Wir müssten der Care-Arbeit mehr gesellschaftliche Relevanz zuschreiben. Zum Beispiel mit Zeitstrukturen, in denen Sorge für unsere Mitmenschen und für die Umwelt mitgedacht wird.
Was meinen Sie mit Zeitstrukturen?
Eine radikale Arbeitszeitverkürzung etwa würde uns die Zeitressourcen geben, Care-Arbeit unter weniger Stress zu erledigen. Das wäre eine Form der Anerkennung dieser Arbeit: einzugestehen, dass sie nicht neben einer 42-Stunden-Woche Platz hat. Davon sind wir politisch aber weit entfernt. Eine stärkere monetäre Anerkennung und soziale Absicherung dieser Arbeit würde sie ebenfalls sichtbarer machen.
Wir sprechen hier von grossen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklungen, die schwer zu steuern sind. Gibt es direktere Antworten auf die «Care-Krise»?
Städte haben eine wichtige Funktion. Sie sind nahe dran an den Orten, wo Care-Arbeit geleistet wird, und sozialpolitisch wird vieles auf kommunaler Ebene reguliert. Sie können auch zivilgesellschaftliche Initiativen unterstützen, wie die Stadt Bern es teilweise macht, etwa beim Mütternzentrum in Bern-West, in der Jugend- oder Nachbarschaftsarbeit. Ich beobachte auch, wie Menschen im Kleinen experimentieren mit alternativen Lebensmodellen und Wohnformen. Zum Beispiel, indem sie Care-Arbeit in Kollektiven und Grosshaushalten gemeinsam leiten und aufteilen. Die feministische Streikbewegung seit 2019 hat in der Schweiz einiges in Gang gesetzt. Auch die Pandemie hat teilweise dazu beigetragen, dass Care-Arbeit als gesellschaftlich relevante Arbeit heute stärker thematisiert wird. Das stimmt mich hoffnungsvoll, auch wenn die politischen und gesellschaftlichen Herausforderungen immens sind.