«Eine Wahl ist immer ein Risiko»

Wählt Köniz Thomas Marti (GLP) oder Géraldine Mercedes Boesch (SP) in die Gemeinderegierung? Das «Hauptstadt»-Gespräch vor der Stichwahl.

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Marti oder Boesch, Mitte oder Rot-Grün? (Bild: Marion Bernet)

Selten ist der Ausgang einer lokalen Wahl so offen wie jetzt in Köniz. Per Ende Jahr tritt der amtierende Gemeinderat Thomas Brönnimann (GLP) aus persönlichen Gründen vorzeitig aus der fünfköpfigen Regierung zurück. Weil die Könizer Stimmberechtigten einst eine «Kronprinz*essinnenregelung» ablehnten, kann nun niemand einfach nachrücken. Sondern es braucht für Brönnimanns Ersatz eine Volkswahl.

Im ersten Wahlgang am 22. September erreichte niemand das absolute Mehr. Deshalb treten Thomas Marti (GLP) und Géraldine Mercedes Boesch (SP) am 20. Oktober zur Stichwahl an. Zwar lag Marti im ersten Wahlgang knapp vor Boesch. Aber das bedeutet nicht viel. Am 20. Oktober, das bestätigen beide, komme es vor allem darauf an, wer bei der wohl tiefen Wahlbeteiligung seine Wähler*innen besser mobilisieren kann.

Köniz ist ein Schwergewicht in der Agglomeration Bern. Mit 44’000 Einwohner*innen ist es eine ausgewachsene Stadt, gleich gross wie Thun. Wird Boesch gewählt, hat Köniz eine rot-grüne Regierung. Schafft es Marti, bleibt je ein Sitz bei SP, Grünen, FDP, SVP und GLP.

Aussergewöhnlich ist: Wer jetzt gewählt wird, kann in einem Jahr schon wieder abgewählt werden. Denn Ende 2025 finden in Köniz Gesamterneuerungswahlen statt. Und das ist nicht ohne: Als Gemeinderät*in von Köniz tritt man einen 80-Prozent-Job an. Marti oder Boesch müssen also ihre aktuelle Arbeitsstelle aufgeben, wenn sie gewählt werden.

Um entsprechend viel geht es bei dieser Wahl. Für die «Hauptstadt» treffen sich Thomas Marti und Géraldine Mercedes Boesch zum Streitgespräch. Als Ort einigen sie sich auf die neue Co-Working-Station «Workspace and more» im urbanen Teil des Liebefelds gleich hinter den Vidmarhallen.

Herr Marti, Frau Boesch, wie würden Sie Köniz in Kürzestform beschreiben?

Géraldine Mercedes Boesch: Köniz verbindet das Beste von Stadt und Land mit einer unglaublichen kulturellen Vielfalt.

Thomas Marti: Köniz ist vielfältig und kann den Dialog zwischen den vielschichtigen und vielseitigen Teilen der Gemeinde aufrechterhalten und verbessern.

Sie werden am 20. Oktober vielleicht gewählt, geben Ihren Job auf, laufen aber Gefahr, in einem Jahr schon wieder abgewählt zu werden. Warum sind Sie so risikofreudig?

Marti: Ich bin ein optimistischer Mensch. Sofern ich gewählt werde, gehe ich davon aus, dass meine Wiederwahl im kommenden Herbst angesichts der Parteistärke einfacher ist als diejenige von Géraldine. Aber klar, eine Wahl ist immer ein Risiko.

Boesch: Genau. Wer eine Wahl gewinnt, muss auch damit rechnen, dass er oder sie nicht wiedergewählt wird. Wenn ich weiss, dass ich das Risiko abschätzen und tragen kann, dann gehe ich es gerne ein. Das tue ich jetzt. Abgesehen davon ist dieses Amt vor allem eine Chance.

Marti: Einverstanden.

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«Ja, es ist eine Personenwahl»: Géraldine Mercedes Boesch. (Bild: Marion Bernet)

Nach dieser Wahl könnte Köniz von einer rot-grünen Mehrheit regiert werden. Was steht Ihrer Meinung nach auf dem Spiel?

Marti: Ihre These der Richtungswahl stelle ich in Frage. Köniz wählt seine Regierung normalerweise im Proporzsystem.

Das heisst?

Marti: Die Parteien sind in der Regierung anteilsmässig gemäss ihrer Wähler*innenstärke vertreten. Das müsste man auch jetzt in der Ersatzwahl berücksichtigen. Und da ist die SP sehr weit weg von einem zweiten Gemeinderatssitz. Die Parlamentsfraktion der Mitte – EVP, GLP, Mitte – ist gleich gross wie die SP-Fraktion. Würde Géraldine gewählt, hätte diese grosse Mitte-Fraktion keine Ansprechpartner*innen in der Regierung mehr. Das finde ich problematisch.

Boesch: Es ist von den Stimmberechtigten so gewollt, dass in einer Ersatzwahl das Majorzsystem gilt. Deshalb ja, es ist eine Personenwahl. Eine Legislative funktioniert nicht gleich wie eine Exekutive. Die Regierung ist eine Kollegialbehörde, da braucht es Personen, die fähig sind, tragfähige Lösungen zu finden. Dafür gibt es mit mir und Thomas eine Auswahl.

Marti: Dass die SP eine Kandidatur stellt, ist für mich absolut in Ordnung. Wir leben in einer Demokratie, zum Glück.

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Zu den Personen

Thomas Marti (53) ist Kulturingenieur ETH und arbeitet als Abteilungsleiter Umwelt, Verkehr und Energie der Gemeinde Muri bei Bern. Von 2014 bis 2018 war er Mitglied des Könizer Parlaments. Er ist Vater von drei Kindern.

Géraldine Mercedes Boesch (36) ist promovierte Theaterwissenschaftlerin und arbeitet als Leiterin des Fachbereichs Kultur bei der Regionalkonferenz Bern-Mittelland. Sie ist Co-Fraktionspräsidentin der SP im Parlament von Köniz. Sie ist Mutter zweier Kinder.

Vor wenigen Tagen wurde bekannt, dass der europäische Pharma-Grosshändler Phoenix seinen Schweizer Hauptsitz im Businesspark Liebefeld gleich hier nebenan installieren wird. Das ist ein Coup für die Gemeinde Köniz. Freuen Sie sich auf künftige Steuereinnahmen?

Boesch: Ich sehe es positiv, dass ein grosses Unternehmen Köniz als Standort gewählt hat. Aber die Könizer Wirtschaft besteht auch aus vielen kleinen Unternehmen. Die Wirtschaftsförderung muss beides im Blick haben. Als Wirtschaftsstandort bietet Köniz von mir aus gesehen ein sehr spannendes Umfeld. Einerseits mit der Nähe zum Bundesamt für Gesundheit als Anziehungspunkt, andererseits mit der Infrastruktur des Businessparks, der auch als Schulraum für das Gymnasium Lerbermatt genutzt wird.

Marti: Köniz war offenbar attraktiv genug, dass Phoenix sich für diesen Standort entschieden hat. Ich wünsche mir mehr davon, die Wirtschaft braucht Dynamik. Ob Phoenix später einmal Steuern zahlt, das weiss zumindest ich noch nicht. Ich hoffe es. Aber es wäre dann wichtig, dass man haushälterisch damit umgeht und das Geld nicht fix einplant.

Warum nicht?

Marti: Wir haben es gesehen bei der Swisscom…

…die Köniz 2021 Richtung Ittigen verliess und 3,5 Millionen Franken Steuereinnahmen «mitnahm»…

Marti:…nichts ist von Dauer.

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«Wir müssen schlank und konkurrenzfähig bleiben»: Thomas Marti. (Bild: Marion Bernet)

Kann eine Gemeinde wie Köniz überhaupt spürbare Wirtschaftspolitik machen?

Marti: Sie kann Networking-Möglichkeiten schaffen. Vor allem aber muss sie dafür sorgen, dass die Rahmenbedingungen stimmen. Die Fristen, bis Bewilligungen vorliegen, sind tendenziell zu lang. Da müssen wir aufpassen und schauen, dass wir möglichst schlank und konkurrenzfähig bleiben.

Boesch: Was den Austausch angeht, macht Köniz schon sehr viel. Zum Beispiel die Wirtschaftsapéros, wo auch immer Politiker*innen anwesend sind und die Wirtschaft ihre Anliegen deponieren kann. Da hört man dann Sorgen wie den Fachkräftemangel. Damit sind wir bei der Bildungspolitik, wo man als Gemeinde auch ansetzen muss. Wirtschaftspolitik ist keine isolierte Disziplin, alles hängt zusammen.

Wo muss Köniz bildungspolitisch ansetzen?

Boesch: Es ist zentral, Schulraum strategisch geschickt bereitzustellen. Das heisst konkret: Das Bevölkerungswachstum antizipieren, Gebäude sanieren und mit erneuerbaren Energien ausstatten. Die Schulhäuser sind der grösste Hebel der Gemeinde, um bei den Emissionen das klimapolitische Netto-Null-Ziel für die Gemeindeverwaltung bis 2035 zu erreichen.

Marti: Infrastruktur ist zweifellos wichtig. Aber es geht auch um die Überarbeitung der Bildungsstrategie. Nachdem die Stimmbevölkerung das Ende der Spez-Sek-Klassen am Gymnasium Lerbermatt beschlossen hat, sind die Rahmenbedingungen nun geklärt. Ich glaube aber, dass man dem Teil der Bevölkerung, der den Verlust der Spez-Sek bedauert, einen Schritt entgegenkommen und Angebote für leistungsstarke Schüler*innen ausbauen sollte.

Boesch: Ich finde nicht, dass mit dem Nein zur Spez-Sek ein Angebot verloren geht. Es gibt bereits Angebote für leistungsstarke Schüler*innen. Der Prozess zum Spez-Sek-Entscheid war schmerzhaft, aber er ist demokratisch gut abgestützt.

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«Mit einer Schuldenbremse bremst man nur die eigene Entwicklung aus»: Géraldine Mercedes Boesch. (Bild: Marion Bernet)

An den Finanzen entzündeten sich in Köniz in den letzten Jahren heftige Konflikte. Nach einem Kompromiss aller Parteien rang man sich 2022 zu einer Steuererhöhung durch. Wo steht Köniz finanziell heute?

Marti: Die schwarzen Zahlen, die Köniz jüngst geschrieben hat, sind für mich noch nicht die Rettung. Die Gemeinde braucht finanziellen Spielraum, damit sinnvolle und gut abgestützte Projekte – wie etwa die Sanierung und Aufwertung des Schlosses Köniz – finanziert werden können. Diesen Spielraum haben wir noch nicht.

Warum nicht?

Marti: Ich bedaure es, dass der Gemeinderat in seiner Finanzstrategie darauf verzichtet hat, eine Schuldenbremse einzuführen. Das war Bestandteil des Kompromisses, dem alle Parteien zugestimmt hatten, als die Steuererhöhung beschlossen wurde. Dieses Versprechen müsste der Gemeinderat einhalten.

Das Versprechen betrifft auch die SP, Frau Boesch, oder?

Boesch: Wenn man berücksichtigt, woher Köniz finanziell kommt, sind die schwarzen Zahlen zwar erfreulich. Aber dahinter versteckt sich die Tatsache, dass über Jahre Investitionen unter anderem in den Schulraum nicht getätigt wurden. Deshalb bezweifle ich stark, dass eine Schuldenbremse ein sinnvolles Instrument ist. Mit der Finanzstrategie hat der Gemeinderat ein Frühwarnsystem geschaffen. Zudem verfügt der Kanton bereits über Mittel, bei Gemeinden einzugreifen, wenn sie finanziell in Schieflage geraten. Mit noch einer zusätzlichen Bremse bremst man nur die eigene Entwicklung aus.

Marti: Ich bin mit dir einverstanden, dass der Nachholbedarf riesig ist. Wir müssen investieren. Aber Köniz ist schon hoch verschuldet. Mit der Schuldenbremse dämmen wir das Wachstum bei den laufenden Ausgaben ein, doch wir verhindern damit Investitionen nicht. Wir müssen sparen, um die Mittel zu erarbeiten, die wir für die Investitionen dringend brauchen.

Boesch: Das Wichtigste ist, dass Köniz bei der Bildung nicht spart. Schaffen wir bei den Schulhäusern den Umstieg auf umweltfreundliche Energien nicht, haben wir keine Chance, das Klimaziel der Gemeinde zu erreichen. Das darf nicht sein.

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«Es ist wichtig, dass wir mit allen Teilen der Gemeinde im Dialog sind»: Thomas Marti. (Bild: Marion Bernet)

Köniz wird gemäss den Prognosen in den nächsten Jahren überdurchschnittlich stark wachsen und 2050 die Schwelle von 50’000 Einwohner*innen überschritten haben. Gefällt Ihnen das?

Boesch: Eine attraktive Gemeinde wie Köniz kann sich nicht aussuchen, ob sie wachsen will oder nicht. Aber sie kann steuern, wie sie wächst. Die Herausforderung besteht darin, mit den Mehreinnahmen, die das Wachstum bringt, so geschickt in die Verkehrs- und Bildungsinfrastruktur zu investieren, dass die Lebensqualität für Könizerinnen und Könizer hoch bleibt.

Aber ist Wachstum möglich, ohne dass Köniz unbebauten Grünraum preisgibt?

Marti: Köniz bewältigt das schon heute starke Wachstum ohne Neueinzonungen. Die Gemeinde setzt auch interessante Instrumente für die Innenverdichtung um. Darauf können wir stolz sein. In 15 Jahren müssen wir aber die Ortsplanung revidieren. Deshalb müssen wir uns jetzt auf den Weg machen, um herauszufinden, wo das künftige Wachstum stattfinden soll. Ein wichtiger Hotspot der Entwicklung wird Wabern sein. Aber wichtig ist, dass wir in allen Teilen der Gemeinde im Dialog mit den Menschen sind, um ihre Zukunftsvorstellungen zu kennen.

Boesch: Ausgebaute Mitbestimmungs- und Partizipationsinstrumente sind in der Raumplanung unentbehrlich. Die Lebensrealitäten in Köniz unterscheiden sich stark. Es geht nicht nur um die Unterscheidung zwischen den urbanen Ortsteilen und der dörflichen oberen Gemeinde. Es gibt auch die Weiler Liebewil und Herzwil, die keinen ÖV-Anschluss haben. Oder das industrialisierte Wangental.

Für Sie persönlich steht am 20. Oktober viel auf dem Spiel. Sind Sie nervös?

Boesch: Nervös nicht, aber freudig angespannt. Im Sinne von: Ich würde gerne wissen, wie es herauskommt.

Marti: Ich bin normalerweise nicht nervös. Aber wenn man dann im Zimmerchen sitzt und wartet, damit einem der Gemeindeschreiber das Resultat eröffnet, ist das Stresslevel schon etwas erhöht.

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