Bitte stör mi nid

«Das Bernbuch» von Vincent O. Carter wird bei Bühnen Bern als rassismuskritische Satire uraufgeführt. Mit Humor und musikalischer Verve hält uns das Stück einen Spiegel vor.

Illustration Kulturkritik
(Bild: Jörg Kühni)

Wo ist er denn, der Schwarze? Das Publikum hat sich in den Vidmarhallen eingefunden, um ein Stück über einen Schwarzen Amerikaner in Bern zu sehen. Nun treten fünf Schauspielerinnen und Schauspieler, mit identischen Mänteln bekleidet und Reisekoffer ausgestattet, gleichzeitig als Vincent O. Carter in Erscheinung. Wo ist Carter? Für welchen Carter wird sich unser Blick entscheiden? Einige Schauspieler sind weiss, andere schwarz oder PoC.

«Was gaffen die denn so?», fragen die Carters ins Publikum. Die Blicke bleiben letztlich hängen an Mbene Mwambene, der lässig über ein geraniengeschmücktes Balkongeländer lehnt. Er ist schwarz. Er schaut zurück und fragt uns: «Was gafft ihr denn so?» Publikumslacher. Erwischt! Was die Regisseurin Barbara Weber uns bereits ab der ersten Spielminute von «Das Bernbuch. Meine weisse Stadt und ich» vortrefflich vorführt, ist nicht ein schwarzer Mensch, sondern unseren Blick auf diesen.

Satire statt Lehrstück

Die Grundlage für diese Inszenierung ist das gleichnamige Buch von Vincent O. Carter, das erstmals 2021 auf Deutsch im Limmat Verlag erschienen ist. Auf 400 Seiten schildert der Amerikaner aus Kansas City, wie er in den 50-er Jahren als knapp 30-Jähriger in Bern ankam und hier blieb. Mit Ironie und hoher Sensibilität zeichnet er dabei ein Porträt der Berner Gesellschaft und deren Lebensgefühl. Die Inszenierung von Weber bleibt der literarischen Vorlage chronologisch und textlich eng verbunden, fokussiert aber gezielt auf die vielen rassismuskritischen Situationen in Carters Schilderungen.

Das Bernbuch
Regie: Barbara Weber
Dramaturgie: Felicitas Zürcher
Spiel: Vanessa Baertsch, David Berger, Lou Haltinner, Mbene Mbunga Mwambene, Yannis Maviaki aka «Z The Freshman».
(Yoshiko Kusano)
«Was gaffen die denn so?», fragen die Carters ins Publikum. (Bild: Yoshiko Kusano/zVg)

Durch diesen Anspruch werden einige spezifische Schweizer Themen, die schauspielerisch spannend wären, etwa das Bedürfnis nach Ruhe oder Kontrolle, leider weniger vertieft. Dennoch bekommen wir dank virtuoser Dramaturgie, mitreissenden Beats und fünf Schauspieler*innen mit grosser Spiellust alles andere als ein trockenes Lehrstück zur Rassendiskriminierung zu sehen. Die Inszenierung findet nah bei den Zuschauer*innen, im intimen Club-Ambiente der Tresorhalle in den Gängen der Vidmarhallen, statt. Das Bühnenbild (Konstantina Dacheva) lässt eine 50-er Jahre Wohnkultur aufleben mit den vermeintlich heimischen Geranien neben exotisch anmutenden Büro- und Wohnzimmerpflanzen, die Herr und Frau Schweizers klammheimliche Sehnsucht nach Ferne und Exotik zum Ausdruck bringen. Über Röhrenbildschirme flackern Bilder von Bern.

Rhythmischer Puls und Verfremdung

Die Fragmentierung einer Figur auf fünf Schauspieler*innen zeigt differenziert, wie vielseitig ein einzelner Mensch ist. Carter ist gebildet, er ist Autor, er ist schwarz, er ist ein guter Tänzer, er ist ein Mann, er ist fröhlich, er liebt Musik, er liebt die Menschen. Während Lou Haltinner die Wut des stolzen Schwarzamerikaners herausschreit – «Alle starren mich die ganze Zeit an!» – müht sich Mwambene lachend am Zungenbrecher «Gerrrrrrechtigkeitsgassä» ab und das Publikum lacht herzhaft mit.

Das Bernbuch
Regie: Barbara Weber
Dramaturgie: Felicitas Zürcher
Spiel: Vanessa Baertsch, David Berger, Lou Haltinner, Mbene Mbunga Mwambene, Yannis Maviaki aka «Z The Freshman».
(Yoshiko Kusano)
Rapper Z The Freshman schafft die aktuellen Bezüge zum Bern von heute. (Bild: Yoshiko Kusano/zVg)

Rapper Z The Freshman bestimmt den rhythmischen Puls des Abends und beschwört Carters Stimmung in Bern musikalisch herauf: «Bitte stör mi nid, Gueti Nachbare di ghört mä ni. Schhht. Es isch fasch scho nach de 10ne.» Als Berner Rapper und PoC schafft er mit seinen scharfsinnigen Texten aktuelle Bezüge zum Bern von heute, wo Frau Müller noch immer das Nachtleben beeinträchtigt und die Polizei ihrem vermeintlich richtigen Bauchgefühl folgt.

David Berger mimt Carter mal als den wortgewandten Reiseberichterstatter, mal als den verstörten Gast, dem jemand in die langen, «blonden» Haare fasst. In diesem Stück werden Figuren aufgelöst, Rollen getauscht und Situationen umgekehrt. Es wird gesungen und getanzt. So spielt der sambisch-malawische Performer Mbwene den älteren gutbürgerlichen Schweizer Gastgeber, Vanessa Bärtsch hingegen einen ekstatisch tanzenden Carter im Berner Nachtclub auf der Suche nach Liebe. Die Verfremdungen funktionieren zuverlässig: Das Publikum lacht, stöhnt, schüttelt den Kopf – der Alltagsrassismus ist demaskiert. Aber das ist noch nicht alles.

«Warum Bern?», fragt der Hofnarr

«Wieso bist du überhaupt nach Bern gekommen? Ich verstehe nicht, wie du es hier aushältst.» Berger zeigt sich überaus witzig und virtuos in der Rolle des Hofnarren der Schweizerischen Korrektheit. Mal wundert er sich betont empfindsam, mal in hippem wokem Slang – «Du, unter üs, from black soul to black soul ...» – über die schiere Anwesenheit Carters in Bern. (Kurze Erklärung nach Toni Morrison: Rassismus – er lässt dich immer wieder erklären, warum du da bist.)

Das Bernbuch
Regie: Barbara Weber
Dramaturgie: Felicitas Zürcher
Spiel: Vanessa Baertsch, David Berger, Lou Haltinner, Mbene Mbunga Mwambene, Yannis Maviaki aka «Z The Freshman».
(Yoshiko Kusano)
«Hab ich was Falsches gesagt? Darf man nicht mehr Schwarzer sagen?» (Bild: Yoshiko Kusano/zVg)

Carter alias Mwambene reagiert auf diese ständige kurzsichtige Verwunderung mit Wut und lässt seinen Schweizer Gesprächspartner stehen. Dieser, völlig verunsichert, tritt mit leidendem Blick auf das Publikum zu: «Hab ich was Falsches gesagt? Darf man nicht mehr Schwarzer sagen? Den Ausdruck People of Color finde ich so kompliziert! Es isch ja alles so fragil!» Auch das Publikum wirkt verunsichert. Darf man noch Schwarzer sagen? Ja, was darf man denn noch? Die Anspielung auf den Begriff der White Fragility mag nicht allen geläufig sein, doch dass die Fragen sich nun um weisse Befindlichkeit dreht, ist klar. Der weisse Hofnarr hält mit dem Publikum nun Hof und hakt mit seiner Frage solange nach, bis ein älterer Herr endlich antwortet: «Also ich sage Schwarz. Und ich sage zum Mohrenkopf auch immer noch Mohrenkopf.» – «Ou nei, aber das seit me nümm!»

Mit dem Publikum in Dialog zu treten, es zu verunsichern und gleichzeitig zum Lachen zu bringen, das ist eine mutige Leistung dieser Inszenierung. Worin liegt die Verantwortung des Theaters, wenn nicht darin, uns von gewissen Emotionen befreien zu können?

Die Vorstellungen bis 22.03. sind ausverkauft. Für den 28.03. und 23.4. sind noch Tickets erhältlich.

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