Das Unesco-Nachtkulturerbe
Die denkmalgeschützte Berner Innenstadt unterhalb des Zytglogge ist auch ein Monument des kommerziellen Nachtlebens, das in den letzten 30 Jahren konfliktreich wachgeküsst wurde. Ein generationenübergreifender Ausgang.
Treffpunkt: Freitag, 23.30 Uhr, Tramhaltestelle Zytglogge. Der Ausgang beginnt heute zu einer Uhrzeit, als man einst nach Hause ging. Der Kornhausplatz ist bevölkert fast wie tagsüber, die Varianten, wohin man gehen kann, sind unüberblickbar. Man könnte hinüber ins «Düdü», hoch an die Partymeile der Aarbergergasse, in die Turnhalle des Progr, ins Kapitel am Bollwerk oder in die Reitschule, um nur das Laientauglichste zu nennen. Chancenlos, wer in einem einzigen Ausgang im Perimeter der Innenstadt das Nachtleben ausloten möchte.
Wir aber haben einen Plan und stechen hinunter Richtung Rathausgasse. Wir: Das sind Andrea von Däniken (27) und Jürg Steiner (58). Zwischen uns liegen über 30 Jahre, in denen sich das Nachtleben völlig verändert hat. Die schummrigen Gassen der unteren Altstadt mit Rotlicht-Etablissements verwandelten sich zu den ausgeleuchteten Locations des diversen Nachtlebens von heute.
«Glocke» und Bahnhofbuffet
Wie vor 30 oder 40 Jahren ein Ausgang in der Stadt Bern aussah, wirkt wie eine Erinnerung ans Mittelalter: Nach dem letzten Tram wurde die Sache kompliziert und anstrengend. Man kam nicht mehr nach Hause, auf der Gasse war nichts los. Samstags konnte man, vielleicht nach einem Ausflug in die Kreissaal-Bar, bis drei oder vier Uhr in der «Glocke», dem heutigen Backpacker-Hotel, abhängen und sich an den legendären Pouletflügeli schadlos halten. Um 5 Uhr öffnete das Bahnhofbuffet, ehe der ÖV den Betrieb wieder aufnahm.
Jetzt aber ist um 23.30 Uhr in der oberen Rathausgasse nach draussen gestuhlt, wir treffen auf heitere, aber nicht überbordende Stimmung. Die Menschen reden auf der Gasse, aber nur so laut, als nähmen sie sich in Acht, niemanden am Schlaf zu hindern, der oder die in den oberen Geschossen wohnt. Ab dem zweiten Stockwerk nach oben ist in der unteren Altstadt grundsätzlich Wohnnutzung vorgeschrieben, was wiederum bedeutet, dass die Lärmempfindlichkeit das zentrale Konfliktthema ist. Vor gut zehn Jahren führten Lärmklagen dazu, dass bekannte Clubs, etwa in der Matte, schlossen und die Konzentration des Nachtlebens an der Rathausgasse zunahm.
Vom 8. bis 12. Mai arbeitet die Redaktion der «Hauptstadt» im Demokratie-Turm des Polit-Forums Bern, das sich im Käfigturm befindet. Wir sind quasi lebender und arbeitender Teil der Wanderausstellung «Auf der Suche nach der Wahrheit», einer interaktiven Installation, in der man sich in Medienschaffende versetzen und so die Möglichkeiten und Stolpersteine der journalistischen Arbeit erfahren kann. Wir freuen uns, wenn du uns besuchst. Journalistisch legt die «Hauptstadt» in dieser Woche einen Schwerpunkt auf Menschen und Entwicklungen in der Berner Altstadt.
Das Lärm-Gleichgewicht ist labil. Auf Initiative des Brunngass-Rathausgas-Leists entstand 2022 die Initiative «Gute Nach(t)barschaft – zäme wohne, schaffe, fyre», die alle Involvierten des Nachtlebens – von der Bar- und Clubkommission über Gastro Bern, Polizei, Gewerbepolizei und Feuerwehr bis zur Verkehrsplanung – einbezieht. Bierdeckel sowie Plakate sind in Umlauf, die sanft dazu aufrufen, zugunsten des Zusammenlebens auch an die zu denken, die gerade nicht feiern.
In den «3 Eidgenossen»
Wir jedoch haben den Frühlingstemperaturen zu Recht nicht getraut, prompt fallen um Mitternacht die ersten Tropfen. Aber das muss hier keine*n Ausgänger*in stören. Es ist, als hätten die mittelalterlichen Stadtbaumeister die Mediterranisierung des 21. Jahrhunderts vorausgedacht. Nach einem verheerenden Brand, der 1405 an der Brunngasse ausbrach und Hunderte Holzhäuser zerstörte, wurde die Stadt aus Sandstein wieder aufgebaut. Die Häuser versah man mit Lauben, die den Handwerker*innen als gedeckte Arbeitsplätze dienten. Sie sind heute die wettergeschützten Bühnen des Nachtlebens.
Wir setzen uns an ein kleines Tischchen draussen vor den «3 Eidgenossen». Aber Obacht! Schon läuft die letzte Runde, um 00.30 Uhr schliesst die Bar, die ersten Stühle werden zusammengeklappt. Um uns noch ein Bier zu sichern, gehen wir direkt hinein an den Tresen. Interessant: Je tiefer wir in die Bar vordringen, desto älter scheinen uns die Menschen, die an den Tischen verweilen. Zuhinterst sitzt allein ein Mann und starrt tief in sein letztes Bier.
Die Nacht ist für alle. Nicht nur für die Fröhlichen.
Liebe in der «Abflugbar»
Die «3 Eidgenossen» ist eine Institution, die den Wandel des Nachtlebens mitprägte, ohne sich gross auf Neumodisch herauszuputzen. 1985 gehörte der populäre frühere YB-Verteidiger Köbi Brechbühl zu den ersten Mitpächtern, an der Bar steuerte Kurt Bürki den neuen Publikumskurs – eher weg von Bauarbeitern und Milieugängern, zu Musiker*innen, Autor*innen und Lebenskünstler*innen. Ein Vorbote des stylischen Nachtlebens von heute.
Wir ziehen weiter, durch den Regen. An der Gerechtigkeitsgasse 50 klettern wir in den Keller der «Abflugbar». Die Jüngere von uns zieht den Altersdurchschnitt gefühlt so steil herunter wie die Treppe, über die wir abgestiegen sind. Kein Wunder, die ausgewählten Drinks kosten ab 16 Franken aufwärts. Nichts für kleine Budgets. Wer ein Bier trinkt, ist die Ausnahme.
Wir werden an der Tür abgeholt und an einen freien Tisch geführt, mit bester Aussicht auf die Darbietung des Barkeepers, der mit flottem Körpereinsatz unsere Drinks mixt. Während wir uns an unsere Gläser klammern, beobachten wir ein unglaublich gut gelauntes turtelndes älteres Pärchen – an sich nichts Besonderes in der alkoholisierten Atmosphäre. Was uns fasziniert, sind ihre Hemden, deren Muster sehr auffällig und sehr ähnlich sind. Haben sie den Partner*innenlook zu Hause abgesprochen oder war die Anziehungskraft der Hemdenmuster so stark, dass es an diesem Abend zum ersten Date kam? Unsere Frage bleibt (vorerst) unbeantwortet.
Auch in der «Abflugbar» sitzt ein Mann alleine hinter seinem Bier, er bearbeitet den Barkeeper hartnäckig mit seinem Redefluss.
Das einsame Bier, Teil III
Berner Kellerbars waren nicht immer nur Orte des gut organisierten, gepflegten Müssiggangs. Einst waren sie auch gesellschaftliche Statements, repräsentierten den rebellischen Untergrund. In den achtziger Jahren, als die Jugendbewegung für mehr Freiräume kämpfte und schliesslich die Reitschule in Beschlag nahm, spielten illegale Straf-Bars eine wichtige Rolle für die Mobilisierung – gerne auch in den Kellern der Altstadt. Das «Boot» zum Beispiel, das Martin Mühlethaler an der Münstergasse im Untergrund des späteren Kult-Restaurants Chun Hee führte.
Zurück in die Gegenwart der «Abflugbar». Um 1:30 Uhr ist auch hier Schluss. Wir steigen aus der Unterwelt empor und kehren zurück an die Rathausgasse, wo uns eine bunte Lichterkette dazu verführt, gleich wieder abzusteigen. Diesmal in den Keller der Comeback Bar. Unsere Augen fixieren das schillernde T-Shirt des einen, nicht mehr ganz jungen Barkeepers, um dessen Brust sich eine Art glitzernder Lorbeerkranz legt. Unvergesslich.
Längst befinden wir uns im grandiosen Entspannungsmodus. Samtweich hängen wir über den Barstühlen, wir lauschen der Musik aus der Jukebox, nichts kann uns passieren. Wir staunen, wie engagiert hinter der Bar gearbeitet wird. Neben uns: Der dritte einsame Mann dieser Nacht, alleine vor seiner Stange. Seine Bewegungen sind so ungelenk, dass ihm das volle Bierglas entgleitet. Wortlos hinterlässt er für Missgeschick und Scherben 20 Franken und verschwindet.
Comeback der Heiterkeit
Bewusst, dass wir in einer Gay-Bar gelandet sind, wird es uns erst, als wir die Comeback Bar googeln. Nun können wir uns die glitzernden Hüte in allen Farben erklären, die an der Wand hängen. Gesteigert wird unsere Heiterkeit, als in diesem Moment das Hemdenmuster-Liebespaar in die Comeback-Bar hinunterwankt. Sie strahlen wie der Vollmond. «Ein besonderer Abend», raunt er uns zu, während sie auf die Bar zutänzelt. Es ist wohl die Antwort auf die Frage, die wir uns in der «Abflugbar» stellten.
Für uns sind alle Rätsel gelöst. Wir steigen zurück in die Rathausgasse. Es ist spät, die Auswahl an offenen Bars wird kleiner. Wobei: Im Umkreis von fünf Gehminuten könnten wir: in den altgedienten Kreissaal oder in die junge, mit einer riesigen Drink-Auswahl glänzenden Taube für einen allerletzten Absacker. Ins «Les Amis» (wo wir durch die Luke von der Gasse her kurz den Dancefloor inspizieren) oder in die Cuba-Bar, um den Alkohol beim Tanzen herauszuschwitzen.
Vollmond im Moonliner
Aber wir gehen nach Hause. Zu Fuss oder (und das ist eine kleine Geschichte für sich) mit dem Moonliner.
Seit 1988 fährt der ÖV am Wochenende Nachtschwärmer*innen nach Hause. Nach zaghaftem Beginn mit bloss fünf Bussen à 20 Sitzplätzen betreibt der Moonliner mit seiner Flotte heute im ganzen Kanton über 50 Linien. Die nächtliche ÖV-Erschliessung leistet einen wichtigen Beitrag dazu, dass das Stadtberner Nachtleben von der Subkultur zum Business geworden ist. Laut einer Studie aus dem Jahr 2015 setzt es pro Jahr über 185 Millionen Franken um. Seit 2022 fällt im Moonliner sogar der zuvor schmerzhafte Aufpreis weg: Man bezahlt gleich viel wie für die entsprechende Verbindung tagsüber.
Jetzt, kurz nach 2 Uhr in der Früh, ist auf dem Bahnhofplatz der Teufel los. Aus allen Himmelsrichtungen fahren Busse vor, Menschen rennen durcheinander auf der Suche nach der richtigen Linie. Man könnte auch nach Trubschachen, Jassbach, Müntschemier oder Wahlendorf, im sanften Nebel der konsumierten Drinks wirkt es, als stünde einem die ganze Welt offen.
Am Schluss sitzt man im Postauto, umgeben von Menschen, die noch einen Döner essen oder aufgekratzt diskutieren. Was wirklich zählt: Den richtigen Ausstieg nicht schlafend zu verpassen.