Die Content-Maschine
Das Newsportal Nau.ch sticht früher oder später allen ins Auge. Wie tickt das Könizer Medienunternehmen?
Sie flimmern über Bildschirme in Postautos, Regionalzügen, Fitnesscentern, an Tankstellen: Es ist kaum möglich, den Schlagzeilen von Nau.ch noch nie begegnet zu sein. Auf seiner Online-News-Plattform veröffentlicht das Portal täglich gegen 250 Beiträge.
Viele davon sind von Presseagenturen übernommen oder Zusammenschriebe aus anderen Medien. Präsent platziert sind auf der Plattform aber häufig auch eigene News-Artikel. «Der Nau-Nutzer darf erwarten, dass er schnell über Relevantes informiert wird. Wir erklären in einfacher Sprache, was Sache ist», sagt CEO Yves Kilchenmann.
Der 45-jährige Kilchenmann hat Nau.ch 2017 gegründet. Das umtriebige Könizer Unternehmen hat sich rasch zur kommerziell erfolgreichen News-Plattform mit grosser Reichweite entwickelt. Wie funktioniert dieses Business und wie viel davon ist Journalismus?
News im Businesspark
Dienstagmorgen um halb acht, ein Grossraumbüro im vierten Stock des Businessparks Liebefeld. In der Redaktion von Nau.ch beginnt die Morgensitzung. Eine Handvoll Journalist*innen ist schon vor Ort. Drei schalten sich online dazu, darunter Chefredaktorin Angelika Meier und ein Mitarbeiter in Australien – er arbeitet, während in der Schweiz Nacht ist. Ein Reporter ist entschuldigt, weil er im Bundeshaus auf der Suche nach News zu den Bundesrats-Hearings ist.
Das Team bespricht die Themen des Tages, plant Artikel und Anfragen, tauscht neue Ideen aus. Angelika Meier ordnet ein, was sie für wie relevant hält. «Aus Trump machen wir einen Ticker», sagt sie. Oder: «Dann haben wir noch eine crazy Geschichte aus dem Wallis.» Teilweise bringen die Journalist*innen Vorfälle ein, die sie selbst erlebt haben, etwa eine Panne im Zug.
Eine Sitzung, wie man sie in einem Newsroom erwartet. Nur früher am Morgen, sagt die Chefredaktorin: «Blick und 20 Minuten fangen später an als wir». Meier (37) war vor ihrer Karriere bei Nau.ch Teamleiterin des People-Ressorts bei Blick Online.
Dieser «klassische» Journalismus, bei dem sich Redaktor*innen eigene Themen suchen und teilweise selbst recherchieren, war in der Geschichte von Nau.ch nicht immer so präsent wie heute.
Alles begann mit Bildschirmen
Das Newsportal mit Sitz in Köniz dürfte den meisten Bewohner*innen der Schweiz durch seine Schlagzeilen auf ÖV-Bildschirmen bekannt sein.
Diese Bildschirme bilden auch den Ursprung von Nau: Der damals 27-jährige Berner Yves Kilchenmann gründete 2007 zusammen mit Olivier Chuard die Livesystems AG. Die Firma wurde in der Schweiz marktführend für digitale Fahrgastinformation – Bildschirme in den ÖV, bespielt mit Informationen des Transportunternehmens, etwa nächste Haltestellen, sowie Werbung und News. 2012 gewann das Start-up den Swiss Economic Award und erreichte mit fast 4000 Bildschirmen schweizweit täglich über eine Million Menschen. Später kamen Screens an Tankstellen und in Fitnesscentern hinzu.
Die News-Anzeigen für die Bildschirme generierte Livesystems vorerst nicht selbst, sondern kaufte sie bei der NZZ oder lokalen Medien ein. Das änderte sich 2017 mit der Gründung der Nau Media AG. «Wir erhielten nicht die Qualität, die wir wollten», erzählt Yves Kilchenmann. «Also entschieden wir uns, eigenen Content zu machen.»
Die Nau Media AG wurde aber nicht nur für die Bildschirm-Schlagzeilen lanciert, sondern als digitales, werbefinanziertes Online-Newsportal. Micha Zbinden stieg als Chefredaktor ein. Er war früher Journalist bei der Berner Zeitung und Stv. Chefredaktor Sport beim Blick. Als Tochterfirma von Livesystems stellte Nau.ch eine 50-köpfige Redaktion zusammen, rund 15 davon Praktikant*innen.
Schnell erreichte die Plattform hohe Klickzahlen und landete nach nur zweieinhalb Jahren auf Platz fünf der meistfrequentierten Schweizer Newsportale. 2021 verkauften Kilchenmann und Co die Firma Livesystems an die Post. Nau.ch stellt immer noch News für die Screens zur Verfügung. Die Nau Media AG ist aber seither ein eigenständiges Medienunternehmen. Es beschäftigt heute rund 70 Mitarbeitende in etwa 50 Vollzeitstellen.
Nau.ch verzeichnet laut eigenen Angaben Zugriffe von über vier Millionen Nutzern pro Monat, im Fachjargon «Unique Users» genannt.
Google gibt den Ton an
Naus schneller Erfolg im Online-News-Markt hat damit zu tun, wie sich die Plattform von Anfang an Google zu Nutzen machte. Was heute «Search Engine Optimization», kurz SEO, genannt wird, trieb Nau.ch auf die Spitze, noch bevor es andere Medien im grossen Stil anwendeten: Nau.ch richtete seine Inhalte von Beginn weg gezielt danach aus, dass sie bei Google trendeten.
Konkret funktioniert das so: Man wertet aus, welche Themen und Schlagwörter auf Google viel geklickt werden. Dann erstellt man zu diesen Themen mit den richtigen Schlagwörtern einen Beitrag, indem man ihn aus anderen Quellen zusammenschreibt.
Das ist es, was die vielen Praktikant*innen in den Anfängen der News-Plattform vor allem taten. Daneben betrieb die Redaktion immer auch klassischen News-Journalismus, besonders im Sport. So erreichte Nau.ch schnell eine grosse Reichweite und konnte sich als attraktive Werbeplattform positionieren. Fehler durch Abschreiben, Oberflächlichkeit und kaum journalistische Eigenleistungen – dieses Image nahm das Unternehmen dafür in Kauf.
«Wir setzen sehr stark auf die Google-Welt», sagt Yves Kilchenmann. Der Autodidakt (er hat sein Informatikstudium nach acht Lektionen abgebrochen) und Unternehmer sieht seine Expertise in der Digitalisierung. Seiner Familie gehörte die Firma für Kommunikationstechnik Kilchenmann AG in Kehrsatz.
Mehr eigene Inhalte – auch dank Google
Seit ungefähr drei Jahren hat Nau.ch sein publizistisches Konzept verändert. Das ist an der Redaktionssitzung spürbar: Die Plattform setzt jetzt stärker auf eigene Inhalte. Die Redaktion wurde mit erfahrenen Journalist*innen verstärkt, Praktikumsstellen gibt es nur noch zwei.
Grund dafür ist kein Sinneswandel in der Redaktion, sondern eine Veränderung der Google-Algorithmen. Sie sind mittlerweile clever genug, Ursprungsquellen ausfindig zu machen. So erklärt es Micha Zbinden (47), seit 2023 nicht mehr Chefredaktor, sondern publizistischer Leiter. Erfolgreich sei also nicht mehr der am besten SEO-optimierte Link, sondern jener, unter dem eine Neuigkeit zuerst veröffentlicht wurde.
Micha Zbinden sagt: «Es bringt nichts mehr, von der Konkurrenz abzuschreiben.» Das habe Einfluss auf die Berichterstattung. «Heute müssen unsere Redaktoren hauptsächlich Eigenleistungen erbringen», sagt Zbinden. Nau-Journalist*innen produzieren laut Zbinden bis zu drei selbst recherchierte News-Artikel täglich.
Ein aktuelles Beispiel illustriert den inhaltlichen Wandel: Kürzlich machte Nau.ch eine Betrugsmasche öffentlich, mit der via die Dating-Plattform Tinder Fake-Tickets des Berner Stadttheaters verkauft werden. Die Tamedia-Zeitungen nahmen das Thema auf, indem sie aus dem Artikel von Nau.ch zitierten.
Die «SEO-Arbeit» macht Nau.ch zwar immer noch, aber in einem kleineren Umfang. Sie wurde auf freie Mitarbeitende ausgelagert.
Die Inhalte von Nau.ch lassen sich laut Micha Zbinden aktuell so aufteilen: Etwa 30 Artikel pro Tag seien journalistische Eigenleistungen. 20 bis 30 seien «SEO-Artikel». Der Rest der Beiträge (ungefähr 200) übernimmt Nau.ch von Presseagenturen, aus Kooperationen mit anderen Medien oder von Institutionen wie der Polizei oder Gemeinden.
Für das Zusammenschreiben der «SEO-Artikel» aus anderen News-Quellen nutzen die Mitarbeitenden heute häufig Künstliche Intelligenz (KI), wie Micha Zbinden sagt. Jeder Text werde vor der Veröffentlichung aber noch von menschlichem Auge überprüft.
Eine KI überprüft auch die unzähligen Leserkommentare, die auf Nau.ch unter Artikeln erscheinen. Laut Zbinden sind es täglich 10- bis 15'000 Kommentare. Manchmal schaffen es beleidigende, rassistische oder Hass-Kommentare durch den Filter der KI. «Die Schwierigkeit ist es zu merken, wenn KI Updates macht. Dann müssen wir das jeweils sofort anpassen», sagt Zbinden. Die Kommentare seien Fluch und Segen. Trotzdem wird die Kommentarfunktion bei Nau.ch nur in Ausnahmefällen eingeschränkt.
Ausbau ins Lokale
Neu investiert Nau.ch auch stark in regionale und lokale News. Im letzten September hat die Plattform sechs regionale Apps lanciert. Kilchenmann und Zbinden sehen dort Wachstumspotenzial. «Im Lokajournalismus ist ein Vakuum entstanden», sagt Kilchenmann. Gerade auch nach der Schliessung der lokalen «Today»-Plattformen des Medienkonzerns CH-Media vom letzten November will Nau.ch in die Bresche springen.
Wie soll das gelingen, wenn sich andere aus dem Markt zurückziehen, weil er nicht rentiert?
Erneut setzt Nau.ch dafür in erster Linie auf Quantität statt auf Qualität. Mit wenig personellem Aufwand wollen Kilchenmann und Zbinden den «Shift» ins Lokale bewältigen. Die bestehenden Journalist*innen sollen sich stärker auf lokale Themen fokussieren. Nau.ch setzt aber auch offensiv auf externe Inhalte. Das sind einerseits Meldungen der Presseagentur SDA oder Kooperationen mit Lokalmedien wie Tsüri aus Zürich oder Onlinereports aus Basel.
Nau.ch übernimmt jedoch auch Mitteilungen von Gemeinden, der Polizei oder Vereinen, die es unverändert auf seiner Plattform ausspielt. «Wir suchen aktiv Entitäten aus den Regionen, die mit uns Content machen können», sagt Yves Kilchenmann.
Ist das noch Journalismus?
Selbst wenn es wünschenswert wäre, Informationen fundierter aufzuarbeiten oder etwa in Gemeindeparlamenten selbst vor Ort zu sein – das könne sich eine werbefinanzierte Gratis-Plattform wie Nau.ch nicht leisten, sagt Yves Kilchenmann.
Sein Fokus ist klar: Wer von Werbung lebt, braucht primär Reichweite. Und darin ist Nau.ch gut. «Aber noch mehr Tiefe und Recherche geht nur mit einem Bezahlmodell, wie es Medien haben, die Abos verkaufen», sagt Kilchenmann.
Paid Content
Reichweite braucht die Plattform, damit die darauf geschaltete Werbung sich besser verkauft. Yves Kilchenmann stellt klar: «Wir leben vom Werbefranken. Willst du den Content gratis, musst du die Werbung akzeptieren.» Am besten verkaufe sich das sogenannte Content Marketing – bezahlte Artikel oder Artikelserien, die Nau.ch im Namen der Werbekunden erstellt und ausspielt.
«Wir entwickeln uns ständig weiter, um Werbekunden attraktive Angebote zu machen», sagt Kilchenmann. Der Ausbau des Lokalen ist Teil der Strategie. Ebenso thematische Magazine, die Nau.ch 2023 lanciert hat, etwa zu «Health», «Travel» oder «Automobile».
Das schönste, hellste Sitzungszimmer in den Könizer Büroräumen ist für die Treffen mit Werbekund*innen vorgesehen.
Das «Sales»-Team von Nau.ch besteht aus rund 15 Mitarbeitenden. Ihre Büros sind mit einer Mauer von denen der Redaktion getrennt. Darauf weist Micha Zbinden bei einem Rundgang durch das Könizer Büro hin. «Wir nehmen diese Trennung zwischen Journalismus und Werbung sehr ernst», sagt Zbinden.
Trotzdem: Klickt man sich durch das Portal, sind News und Werbung nicht immer ganz leicht zu unterscheiden. Etwa im Balken «beliebte Themen», wo sich neben Artikeln zu Altersvorsorge oder Mieten Werbebeiträge einer Alterseinrichtung oder der Berner Kantonalbank nahtlos einreihen.
Ein gutes Business
Der Nau Media AG gehe es gut, sagt Yves Kilchenmann. «Wir schreiben jedes Jahr mehr Umsatz und schaffen neue Stellen.» Nau.ch baut sein Büro in Zürich aus. Letztes Jahr hat die Firma das Reiseportal Travelnews übernommen. Nach einer finanziell schwierigeren Zeit (2020 entliess die AG im Zusammenhang mit Corona neun Mitarbeitende und nach dem Verkauf von Livesystems führte sie eine Kapitalerhöhung durch), scheint das Geschäft nun zu florieren.
Als unabhängiges Medienunternehmen ist das keine Selbstverständlichkeit. In der Schweizer Medienwelt wird vielerorts abgebaut. «Ich will mich über den Medienmarkt nicht beklagen», kommentiert Kilchenmann. «Es ist ein gutes Business. Und welcher Markt ist schon einfach?»
Der Unternehmer findet: «Schlussendlich geht es uns auch um die Erhaltung des klassischen Journalismus. Wir approachen es einfach anders als die meisten Zeitungen.» Auf seiner Webseite nennt sich Nau.ch «das innovativste Medienunternehmen der Schweiz».
Mit diesem Claim verhält es sich wie mit den rot unterlegten Schlagzeilen im Postauto: Man kann sich darüber aufregen. Oder sich über eine originelle Stimme in der Schweizer Medienlandschaft freuen. Aber ignorieren kann man Nau.ch schlecht.