Chefin in ihrem Labyrinth

Die Berner Saxophonistin Nicole Johänntgen jongliert ihr Leben zwischen internationaler Jazz-Karriere und Familie. Jetzt geht sie mit ihrem Trio auf Tour – bis nach Brasilien.

Jon Hansen (tba), Nicole Johaenntgen (sax) und David Stauffacher (perc) auf der Labyrinth Album Tour fotografiert am Samstag, 3. Februar 2024 im Moods in Zurich. (VOLLTOLL / Simon Boschi)
Energiezentrum: Nicole Johänntgen mit Jon Hansen (links) und David Stauffacher auf der Bühne. (Bild: Simon Boschi)

Wenn Nicole Johänntgen (43) mit ihrem Trio auf der Bühne loslegt, steht nichts mehr still. Perkussionist David Stauffacher trommelt treibende Latin-Rhythmen, schon wirft die Bandleaderin im gelben Pullover die Arme in die Luft und tanzt schweisstreibenden Samba, während das Saxophon an ihrem Hals baumelt. Dann nimmt sie den Rhythmus auf, indem sie ihr Instrument mit beatboxmässiger Mundtechnik bearbeitet, ehe der stoische Jon Hansen mit seiner riesigen Tuba den euphorischen Ausflug mit einer pumpenden Basslinie erdet.

«Wenn ich spiele, gebe ich immer alles, was an dem Tag möglich ist», sagt Nicole Johänntgen. Jetzt sitzt sie in einer Beiz am Eigerplatz vor einem Cappuccino. Bis sie losmusste, hat sie in ihrer Wohnung noch geübt. Kurz das mobile Studio aufgebaut, sich vergewissert, dass die Mitmieter*innen oben und unten nicht zu Hause sind, und etwas ausprobiert.

Normalerweise übt sie in ihrem Studio, aber die Ideen können nicht immer warten. Es komme selten vor, dass gerade keine Tonkombination, kein Rhythmus aus ihr herauswolle: «Die grösste Improvisationslust habe ich am Morgen, sobald ich wach bin», sagt Nicole Johänntgen, «bis etwa um 11 Uhr.» Danach kocht sie meistens das Mittagessen für ihren viereinhalbjährigen Sohn, der aus der Kita nach Hause kommt.

Brasilianische Investition

Gerade ist im Familienhaushalt von Nicole Johänntgen und ihrem Partner viel Organisation gefragt: «Ich bin sehr oft unterwegs», sagt sie, «und man kommt auch mal an die Grenzen, logischerweise. Aber wir müssen halt erfinderisch sein.»

Jon Hansen (tba), Nicole Johaenntgen (sax) und David Stauffacher (perc) auf der Labyrinth Album Tour fotografiert am Donnerstag, 11. Januar 2024 im BeJazz in Liebefeld. (VOLLTOLL / Simon Boschi)
Spielfreude: David Stauffacher, Nicole Johänntgen, Jon Hansen. (Bild: Simon Boschi)

Diese Woche ist das neue Album «Labyrinth II» ihrer Band erschienen, und in Johänntgens Terminkalender reiht sich bis Ende Jahr Auftritt an Auftritt, hauptsächlich mit Konzerten ihrer Release-Tour in der Schweiz und Deutschland. Aber auch fünf Konzerten im November in Brasilien, darunter in Rio de Janeiro und São Paulo.

«Wahnsinn», sagt Nicole Johänntgen, «mein absolutes Highlight.» Natürlich denkt sie als umtriebige Berufsmusikerin auch unternehmerisch, deshalb hat sie ihre Marke als Künstlerin über Social Media kontinuierlich aufgebaut. Allein über Instagram folgen ihr 190’000 Menschen, auf Tiktok sind es 120’000 Follower. Sie weiss deshalb, dass überdurchschnittlich viele Brasilianer*innen auf ihre Musik zugreifen – «wohl, weil wir viel Rhythmus haben», vermutet sie.

Nun ist ihr Trio von einem brasilianischen Agenten gebucht worden, neben der Gage sind im Arrangement Kost, Logis und Reisen in Brasilien bezahlt, für den Flug aus der Schweiz muss die Band selber aufkommen. «Für uns ist das eine künstlerische Investition», sagt Nicole Johänntgen, «das wird eine unglaubliche Inspiration sein. Und vielleicht öffnen wir Türen für einen weitergehenden schweizerisch-brasilianischen Austausch.»

Rückzugsort Bern

Dass ihre Musik auf der ganzen Welt gespielt wird, treibt Nicole Johänntgen schon lange an. Als Kind spielte die gebürtige Saarländerin wie ihr Bruder Klavier, ehe sie zum Saxophon wechselte. Als Saxophonistin trat sie erstmals in der Band ihres Vaters auf. Später studierte sie an der Universität für Performancekunst und Musik in Mannheim. 2003 wurde sie als einzige europäische Musikerin für das amerikanische Ausbildungsprogramm «Sisters in Jazz» nominiert.

Nicole Johaenntgen (sax) auf der Labyrinth Album Tour fotografiert am Samstag, 3. Februar 2024 im Moods in Zurich. (VOLLTOLL / Simon Boschi)
Nicole Johänntgen hat Improvisationslust, sobald sie wach ist am Morgen. (Bild: Simon Boschi)

In die Schweiz kam sie 2005. Sie zog als freischaffende Musikerin nach Zürich, von wo aus sie sich 2016 mit einem Stipendium der Stadt sechs Monate in New York weiterbildete. 2022 liess sie sich in Bern nieder, wegen ihrer Familie. «Natürlich», ergänzt sie, «eine Stadt wie Paris zum Beispiel wäre für mich als Künstlerin als Lebensmittelpunkt eine grosse Inspiration.» Bern sei viel überschaubarer – aber genau deshalb ein guter Rückzugsort, um zu üben und – meist ein Jahr im voraus – künftige Engagements zu organisieren. Als Selbständigerwerbende betreibt sie ihr gesamtes Business alleine.

Business-Frauen im Jazz 

Johänntgens Schaffenskraft ist enorm: Bis heute veröffentlichte sie solo oder in diversen Bands 28 Alben. Sie spielte – neben Europa und den USA – in Indonesien, China oder Neuseeland und wurde mit diversen Jazz-Awards ausgezeichnet. Hartnäckig legt sie sich auch für mehr Frauen im Jazz ins Zeug. Zweijährlich organisiert sie einen Business-Musik-Workshop in Zürich mit dem Ziel, das Selbstmanagement und Vernetzung unter Frauen zu stärken.

«Ich selber bin Pragmatikerin und nicht Perfektionistin», sagt sie. Sie möge es, wenn die Musik roh sei und auch mal ein Fehler vorkomme – auf höchstem Niveau natürlich. In der Band gebe es zu diesem Thema ab und zu engagierte Diskussionen, die sie zwar gerne führe. Aber nicht in epischer Länge. In ihrer Funktion als Chefin der Band entscheide sie dann im Zweifelsfall, was gilt: «Denn ich will spielen, dafür brenne ich.»

Nicole Johaenntgen auf der Labyrinth Album Tour fotografiert am Donnerstag, 11. Januar 2024 im BeJazz in Liebefeld. (VOLLTOLL / Simon Boschi)
Brennt dafür, live vor Menschen zu spielen: Nicole Johänntgen. (Bild: Simon Boschi)

Kann man eigentlich als Jazzmusikerin vom Livespiel leben? Die Gagen in der Schweiz und in Deutschland seien hie und da sogar sehr gut, sagt Nicole Johänntgen. Bei Auftritten in angesagten Clubs cooler europäischer Grossstädte wie Paris müsse man eher etwas tiefere Entgelte in Kauf nehmen. 

Deshalb strebt Johänntgen ein Geschäftsmodell mit mehreren Standbeinen an. Seit sie Mutter sei, habe sie Mühe, länger als drei, vier Tage aneinander von zu Hause weg zu sein. Aus diesem Grund will sie ihre Konzerttätigkeit in den nächsten Jahren hauptsächlich auf das nahe Ausland konzentrieren – bis Belgien oder Holland vielleicht, «wo es extrem viele coole Jazz-Clubs gibt», sie aber mit Zug oder Auto rasch hin- und wieder zurückkomme.

Push für den Nachwuchs

Mehrmals jährlich gibt Nicole Johänntgen mehrtägige Saxophon-Workshops, demnächst sogar in Kalabrien. Und am Musikkonservatorium Zürich unterrichtet sie in der Reihe «Musik global» angehende Berufsmusiker*innen darin, ihr Marktprofil mit Social Media zu schärfen.

«Es ist wichtig, die nächste Generation zu pushen», findet Johänntgen. Und ihr zu zeigen, was es brauche, um durchstarten zu können. Beispielsweise motiviere sie den Nachwuchs, nicht auf den perfekten Sound zu warten. Sondern ihre Musik schon früh weltweit zu teilen und die Menschen auf eine musikalische Reise mitzunehmen.

Was hat es mit dem Labyrinth auf sich, dem Titel ihrer beiden letzten Alben? Das Wort werde oft missverstanden, findet sie, als Irrweg ohne Ausgang. Im ursprünglichen Sinn sei ein Labyrinth jedoch ein zwar verschlungener, aber verzweigungsfreier Weg, der irgendwann, nach unzähligen Richtungswechseln, zum Mittelpunkt führe. «Und der Mittelpunkt, den ich meine, ist das Herz», sagt Nicole Johänntgen.

Wenn ihre Musik Menschen dort berühre, im Herz, mache ihre künstlerische Lebensreise Sinn. 

Nicole Johänntgens nächste Auftritte in Bern: Freitag, 2. Mai, 20.30 Uhr, Villa Stucki. Dienstag, 27. Mai, 21 Uhr, Tuesday Jam, 5ème Etage, Mühlenplatz, Matte.

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Diskussion

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Ruedi Muggli
08. Februar 2025 um 09:37

Spannend, und der Vorteil der Online-Zeitung: man kann sich gleich mit der Musik der Künstlerin vertraut machen.