Londoner Vibes aus Chäsitz
Sirens Of Lesbos, multikulturelle Popband aus der Berner Agglo, sucht mit unbernischer Ambition den internationalen Erfolg. Am Freitag tauft sie ihr neues Album.
Unbeeindruckt schauen sie in die Kamera. Nabyla Serag und Arci Friede, Teil der Band Sirens Of Lesbos, wissen, wie posen, um Wirkung zu erzeugen. Wüsste man es nicht besser, könnten sie frisch aus den Londoner «Suburbs» eingeflogen sein. Und so cool und weltläufig wirken Sirens Of Lesbos auch auf der Bühne.
Tatsächlich sind die Musiker*innen aber mehrheitlich in der Agglomeration Bern verwurzelt. Die beiden Sängerinnen zum Beispiel in Kehrsatz.
Eine Agentur als Plattenlabel
Nur ein Teil der Band ist beim Gespräch vertreten: Nabyla Serag, Sängerin von Sirens Of Lesbos, und Musikproduzent Arci Friede sitzen im Bandraum. Der Rest der Gruppe, Jasmina Serag, Schwester von Nabyla und ebenfalls Sängerin, Melvyn Buss, Musikproduzent und Denise Häberli, Grafikdesignerin für die Band, fehlt an diesem Tag.
Das ist eine Zusammensetzung einer Band, die nicht so üblich ist. Normalerweise gehören zu einer Musikgruppe auch Gitarrist*innen oder Drummer*innen.
Diese Menschen sucht Sirens Of Lesbos je nach Song, den sie produzieren will, extern. Auf Bandbildern, Albumcovern und in Videos sind oft nur diese fünf Mitglieder zu sehen. Die Bandkonstellation von Sirens Of Lesbos ist deshalb an Live-Auftritten anders als bei der Musikproduktion im Studio.
Sirens Of Lesbos sind eng verknüpft mit Friedes Kreativ- und Kommunikationsagentur, die sie auch als «Work» aufführt und dazu «Strategy, Publishing, Branding, Talents, Communication und Project Management» aufzählt. Friede und Häberli sind unter anderen «Partner» in der Agentur, Nabyla Serag ist angestellt. Jasmina Serag ist mit Friede liiert. Arci Friede und Melvyn Buss kennen sich aus der Zeit, als Friede noch den Wasserwerk Club und später den Club Bonsoir betrieben hat, wo Buss Haus-DJ war. Seit es die Agentur gibt, ist Buss’ Musikstudio gleich daneben.
Und so ist die Band auch entstanden: aus praktischen Gründen persönlicher Nähe.
Vom One-Hit-Wonder zur Festivalband
Die Entstehungsgeschichte ist schnell erzählt – aber ziemlich spektakulär: 2013 wollten Buss und Friede – beide damals noch voll in der Club-Szene unterwegs – einen «richtigen» Party-Hit landen. Beat, Text und Musik entwickelten sie, Stimmen und Grafik waren nicht weit.
Schnell zeigte eine grosse Plattenfirma Interesse. Sie gingen mit dem Bandnamen Sirens Of Lesbos unter Vertrag und das Lied «Long Days, Hot Nights» mit einem Remix des DJs Claptone durch die Decke. Beides, Bandname und Song, haben zu diesem Zeitpunkt keinen tieferen Sinn. Im Refrain singen sie: Long days, hot nights / The moments of unity / Long days, hot nights / So bro just for you and me.
Das Erstaunliche: Eigentlich entsprach diese Musik den fünf Sirens Of Lesbos gar nicht.
2018 versuchten sie einen Neustart und der gelang ihnen mit dem an Reggae erinnernden Lied «We’ll be fine» unter eigenem Plattenlabel. Zwei Jahre später brachten sie ihr Debütalbum «SOL» heraus. Es war Musik, die ihnen selber gefiel und die sie nicht machten, um in die Charts zu kommen. Trotzdem hatten sie Erfolg. Sie wurden für zahlreiche Festivals gebucht und von verschiedenen Medien porträtiert. Nicht nur in der Schweiz, auch in Frankreich und Deutschland spielten sie Konzerte.
Und das war nicht nur Glück und Talent. Um als Schweizer Musikgruppe im Ausland überhaupt wahrgenommen zu werden, braucht es auch ein strategisches Vorgehen.
KMU: «Kleines Musik Unternehmen»
«Was viele missverstehen ist, dass Musik zwar unter Kunst geht, aber am Ende vom Tag ist sie Turbo-Kapitalismus-Mechanismen ausgeliefert», sagt Arci Friede, der sich auch um die Marketingplanung von Sirens Of Lesbos kümmert. «Die Gleichung ‹Je mehr Geld du reinsteckst, desto mehr kommt wieder raus›, trifft voll zu – wenn das Produkt gut ist.»
Sie gehen aber nicht in allen Bereichen strategisch vor. «Am freisten agieren wir hier im Studio», sagt Nabyla Serag, «dann, wenn wir neue Musik produzieren.»
Wenn aber das Produkt – der Song – stehe, «dann überlegen wir, wo er hinpasst. Und wie wir möglichst viele Hörer und Hörerinnen erreichen», sagt Friede. Nabyla Serag nennt das «Reality-Check», ganz im Agentur-Jargon.
Es fehle aber an Wissen. In der Schweiz gebe es wenig Anlaufstellen, die helfen zu verstehen, wie eine internationale Karriere aufgebaut sein müsste, sagt Friede. Dieses Wissen brauche es, um die richtigen Voraussetzungen zu schaffen.
«Es gibt nicht die eine globale Promo-Agentur, die dir zum internationalen Erfolg verhilft», sagt Friede. Die Musikindustrie sei immer noch sehr territorial aufgebaut. Die Band hat deshalb auch in Deutschland, Frankreich und Grossbritannien je eine Agentur, die Werbung für sie macht und zum Beispiel ihre Songs an Radiostationen schickt.
Frieden
Aber ein bisschen strategisch sind sie auch bei der Produktion von Musik: Für das neue Album «Peace» haben britische und amerikanische Musiker wie Bootsy Collins, Joshua Idehen, Erick The Architect oder Dreamcastmoe in Songs mitgearbeitet. Diese kommen aus dem Funk, Rap und Alternative-R&B und sind in Grossbritannien oder in Amerika bekannt.
Der Name des Albums hat nichts mit Friedes Nachnamen zu tun, sei aber Thema in allen Texten – obwohl nicht von Anfang an gewollt. «Plötzlich haben wir gemerkt, dass sich alle Texte irgendwie um Frieden drehen», sagt Nabyla Serag. Es gehe darin um politischen Frieden, inneren Frieden, das Privileg, Frieden zu verspüren und sich mit Dingen auseinanderzusetzen, die sonst nicht prioritär wären.
Und es passe zur allgemeinen Lage, sagt Arci Friede. «Die letzten Jahre sind gezeichnet von dem Tumult auf der Welt.» Das Album solle deshalb ein Votum für den Frieden sein.
Pathos und Alltag
Die Texte der Songs schreibt Friede, oder eher: Er schlägt sie vor. Denn das Texten sei immer mehr zu einem gemeinsamen Projekt geworden, sagen die beiden. Ein Werk des Kollektivs Sirens Of Lesbos.
Die Vorgehensweise, dass Friede die Texte skizziert und die beiden Schwestern sie singen, könne auch problematisch sein, sagt Friede, der auch das älteste Bandmitglied ist. «In diesem Kontext kann es passieren, dass, ohne zu wollen, ich der alte weisse Mann bin, der Texte für junge schwarze Frauen schreibt.»
«Es gibt Dinge, die Arci mit seiner Biografie anders sagt oder schreibt, als ich mit meiner Biografie», sagt Serag diplomatisch. Wenn sie etwas singe, möchte sie auch den Raum haben, es so zu machen, dass es für sie stimmt. Dabei sei wichtig, dass sie das in der Gruppe ansprechen kann «und ich abchecken kann, ob der Text und die Musik zu mir passt».
Das sei die eine Seite. Die andere Seite sei, dass Friede in den Texten romantischer sei. «Ich bin dann die, die sagt: ‹Komm, wir holen es wieder in den Alltag.›», sagt Serag. «Der Hang zu Pathos, Kitsch, Geradlinigkeit – aka Pop – könnte vom osteuropäischen Einfluss kommen», sagt Friede schmunzelnd. Er hat Wurzeln in Tschechien.
Nabyla und Jasmina Serags Eltern kommen aus Eritrea und Sudan – die beiden Schwestern sind aber in Kehrsatz aufgewachsen. Serag findet, ihre Wurzeln merke man durch «den Vibe, wie wir arbeiten». Also nicht durch die sudanesische Musik, die sie zu Hause gehört haben, sondern dadurch, dass sie als Teil einer sozialen Gruppe, der Familie, gross geworden seien und weniger als Individuen.
Lieber Pop als konkret
Wer die Musik von Sirens Of Lesbos einem Genre zuordnen möchte, könnte ins Schwitzen kommen. «Musikexpress nannte es letzthin ‹New Acid Jazz›. Keine Ahnung, woher das kommt», sagt Friede. Er möchte am liebsten gar kein Genre nennen. Serag ist mit der Bezeichnung «Pop» zufrieden. «Pop kann viel verschiedenes bedeuten, und deshalb passt es auch», sagt sie.
Pop ist schliesslich die Abkürzung für «Popular Music». Und welche Musiker*innen möchten schon nicht, dass ihre Songs die Charts stürmen.
Ausser es ist «Long Days, Hot Nights» für Sirens Of Lesbos. Bis heute ist es der Song der Band mit den meisten Streams. Auf Spotify sind es gut 28 Millionen, wodurch Sirens Of Lesbos immer wieder etwas Geld erhält. An Konzerten hat die Band den Song bisher noch nie gespielt. Sie schliessen es aber nicht aus, ihn irgendwann zu performen: «Ich denke, es wird den Moment geben, wo wir ihn spielen und es richtig geil sein wird», sagt Nabyla Serag.
Dass es an der Plattentaufe im Dachstock am 13. Oktober sein wird, sei unwahrscheinlich. Aber nicht ausgeschlossen.