Streitpunkt Numerus Clausus
Marion Vassaux hat Dyslexie. Sie wollte Tierärztin werden, doch die Uni Bern verweigerte ihr einen Zeitzuschlag für den Eignungstest. Am Dienstag beurteilt das Bundesgericht den Fall.
Bei Marion Vassaux wurde die Behinderung erst spät entdeckt. Nach dem Übertritt in die Oberstufe machten ihr die sprachlichen Schulfächer immer mehr Mühe. Eine medizinische Abklärung führte dann zur Diagnose: Dyslexie.
Der Begriff steht für eine Lese- und Rechtschreibstörung. Sie ist angeboren und gilt rechtlich als Behinderung. Betroffene haben meist Probleme, geschriebene Buchstaben den gesprochenen Lauten zuzuordnen und umgekehrt. Sie lesen deutlich verlangsamt und machen beim Schreiben viele Fehler.
«In der Primarschule habe ich die Probleme mit enorm viel Aufwand kompensiert», sagt Marion Vassaux. Die «Hauptstadt» trifft die 21-Jährige im Lausanner Büro der Nichtregierungsorganisation «Inclusion Handicap». In der weiterführenden Schule habe sie ihre Lernschwierigkeiten aber auch mit zusätzlicher Anstrengung nicht mehr ausgleichen können, sagt Vassaux. Deshalb hätten sich ihre Eltern für eine medizinische Abklärung entschieden.
«Nach der Diagnose in der Oberstufe musste ich mich bei jeder Lehrperson einzeln melden für einen Nachteilsausgleich», erzählt sie. Dieser besteht in der Regel darin, für Prüfungen ein Drittel mehr Zeit zu erhalten. Ausserdem werden bei Schüler*innen mit Dyslexie Rechtschreibefehler teilweise nicht bewertet. Marion Vassaux absolvierte 2021 die Matura in Lausanne, wo sie aufgewachsen ist.
Ausgleich eines Nachteils – oder ein Vorteil?
«Seit ich ein Kind war, wollte ich Tierärztin werden», erzählt Vassaux. Sie wollte deshalb nach dem Gymnasium Veterinärmedizin studieren. Dafür besteht in der Schweiz eine Zulassungsbeschränkung, der sogenannte Numerus Clausus. Es ist derselbe Eignungstest, der auch für das Human- und Zahnmedizin-Studium absolviert werden muss. Der Numerus Clausus wird vom Dachverband «swissuniversities» durchgeführt und findet jeweils gleichzeitig an allen Deutschschweizer Universitäten statt.
Marion Vassaux meldete sich im Januar 2021 an der Universität Bern für die Prüfung an. Sie beantragte einen Nachteilsausgleich von einem Drittel Zeitzuschlag. Doch die Uni wies das Gesuch ab. Vassaux sollte die Prüfung in der gleichen Zeit absolvieren wie Studierende ohne Behinderung.
Weil der Zeitdruck ein wesentliches Element des Numerus Clausus sei, könnte der Zeitzuschlag Vassaux gegenüber anderen Absolvent*innen bevorteilen, argumentierte die Uni. Die Ergebnisse wären aus Sicht der Uni dann nicht mehr vergleichbar – was sie aber sein müssten, weil es bei diesem Test darum gehe, begrenzte Studienplätze zuzuteilen. Deshalb sei es relevant, wie die anderen Kandidat*innen abschneiden.
Marion Vassaux trat ohne Zeitzuschlag zur Prüfung an, erreichte aber die erforderliche Punktzahl nicht. Ein Veterinärmedizin-Studium konnte sie damit in der ganzen Schweiz nicht antreten.
Ein Grundsatzurteil
Vassaux reichte eine Beschwerde gegen den Entscheid der Uni Bern ein, ihr den Nachteilsausgleich zu verweigern. Bei Beschwerden ist diejenige Universität zuständig, die als prioritärer Studienort angegeben wurde. Deshalb richte sie sich gegen die Uni Bern und nicht gegen den Dachverband «swissuniversities», der den Numerus Clausus durchführt, wie die Uni mitteilt.
Vor einem Jahr wies das Berner Verwaltungsgericht die Beschwerde ab. Die fünf Richter*innen kamen in einem 3-zu-2-Mehrheitsentscheid zum Schluss, dass kein rechtlicher Anspruch auf den Zeitzuschlag bestehe.
Marion Vassaux zog das Urteil ans Bundesgericht weiter. Die Organisation «Inclusion Handicap» vertritt sie juristisch.
Rechtsanwalt Cyril Mizrahi führt den Prozess. «Der Entscheid der Uni ist diskriminierend», sagt er. Er verstosse gegen die Behindertenrechtskonvention. Die Schweiz müsse Vorkehrungen treffen, um die Chancengleichheit von Menschen mit Behinderungen zu gewährleisten. Der Zeitzuschlag gleiche einen Nachteil für Betroffene aus – und begründe nicht etwa einen Vorteil, wie die Uni argumentiert.
«Für Personen mit einer Sehbehinderung ist es auch völlig unumstritten, dass sie ihre Brille an der Prüfung benutzen dürfen», sagt Marion Vassaux. Der Zeitzuschlag für Betroffene von Dyslexie sei damit vergleichbar.
Am kommenden Dienstag, 7. Mai, wird das Bundesgericht in Lausanne über die Frage urteilen. Es handelt sich um einen Präzedenzfall, der weit über die Uni Bern hinaus Folgen haben könnte. Anerkennt das Gericht die Argumente der Beschwerdeführerin, müssten alle Schweizer Universitäten, die ein Medizinstudium im Bachelor anbieten, ihre Bedingungen für den Numerus Clausus anpassen. Das teilt die Uni Bern auf Anfrage mit.
«Wir erhoffen uns dabei nicht nur eine Wirkung für Personen mit Dyslexie, sondern auch für Menschen mit anderen Behinderungen», sagt Cyril Mizrahi von «Inclusion Handicap». Aktuell werden unabhängig von der Behinderung keine Zeitzuschläge für den Numerus Clausus gewährt, wie die Uni Bern mitteilt.
Das Bundesgericht wird den Fall in einer öffentlichen Beratung behandeln. Das geschieht äusserst selten und nur dann, wenn sich die beteiligten Richter*innen nicht einig sind.
Marion Vassaux sagt, sie blicke gespannt auf die Verhandlung. «Wir haben unsere Argumente vorgebracht, jetzt können wir nur noch den Entscheid abwarten.» Vassaux hat mittlerweile ein Studium der Biomedizin an der Universität Genf begonnen. Bald stehen die ersten Prüfungen an – und auch da wurde erst letzte Woche ihr Gesuch um Nachteilsausgleich bei zwei von vier Prüfungen abgelehnt.
Damit hatte Marion Vassaux nicht gerechnet, denn anders als beim Numerus Clausus würden bei den regulären Uni-Prüfungen die Zeitzuschläge normalerweise gewährt. «Es ist anstrengend, sich ständig wehren zu müssen», sagt sie. Auch deshalb habe sie den Prozess bis vor Bundesgericht geführt: «Damit hoffentlich zukünftig Studierende in der gleichen Situation keinen dreijährigen Rechtsweg mehr beschreiten müssen.»
Falls das Bundesgericht die Uni zwingen würde, den Nachteilsausgleich zu gewähren, würde Marion Vassaux vielleicht noch einmal für den Numerus Clausus antreten. Sie habe während des langen Beschwerdewegs nach Alternativen suchen müssen. «Aber Tierärztin wäre noch immer mein Traumberuf», sagt sie.