Ostermundigen Spezial

Der neue Geist vom Oberfeld

Ostermundigen wird zur Stadt umgebaut. Im Oberfeld-Quartier etwa, ehemals ein Schiessplatz, leben bald über 1000 Menschen. Aber wie macht man aus Siedlungen lebenswerte Nachbarschaften? Dafür braucht es neuen urbanen Geist, der Ostermundigen fehlt.

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Ziehen am selben Strick: Sarah Aeschbacher (links) und Marina Castrovillari. (Bild: Christine Strub)

Oberfeld Ostermundigen – war das nicht diese alternative Siedlung? Ja, aber eben nicht nur.

Die Wohnbaugenossenschaft Oberfeld hat 2014 einen Pionierbau mit 100 Wohnungen fertiggestellt, ein Leuchtturmprojekt für ökologisches Wohnen, das dem biederen damaligen «Berner Vorort Ostermundigen» eine Art Promi-Status der Fortschrittlichkeit eintrug. Landesweit bekannt wurde die Holzbausiedlung Oberfeld etwa, weil die Bewohner*innen sich verpflichten, kein Auto zu besitzen, die Siedlung jedoch wegen behördlicher Bauvorgaben trotzdem eine Tiefgarage bauen musste, die aber ausschliesslich für Velos genutzt wird. Zehn Besucher*innenparkplätze sind die einzige Konzession an die automobile Gesellschaft.

Zur Geschichte des Oberfelds

Das Oberfeld war bis 2002 ein Schiessplatz und gehörte der Stadt Bern. Nachdem die Schiessanlage Riedbach im Westen Berns ausgebaut worden war, gab die Stadt mit dem Oberfeld eine der grössten Baulandreserven der Region frei und verkaufte diese 2009 für rund 40 Millionen Franken der VSAO (Pensionskasse des Verbandes Schweizerischer Assistenz- und Oberärzte). Diese verkaufte rund ein Fünftel des Baulands an die Wohnbaugenossenschaft weiter, die dort die autofreie Siedlung realisierte. Auf dem Rest des Bodens baut die VSAO. Die Kosten für die Sanierung des bleibelasteten Bodens übernahm die Stadt gemeinsam mit der Armee, den Schützengesellschaften und der Gemeinde Ostermundigen.

Das Oberfeld ist aber nicht einfach die Hochburg der Autofreien. Rund um die Holzbausiedlung hat die Vorsorgestiftung VSAO in den letzten Jahren in mehreren Etappen rund 300 Wohnungen und über 60 Reihen-Einfamilienhäuser gebaut. Architektonisch konventionell, mit reichlich Einstellhallen für Autos. Ökologisch aber auch innovativ, indem zum Beispiel die Intensität der LED-Strassenbeleuchtung über eine Art Bewegungsmelder gesteuert wird. An jeder Quartierstrasse – Akazienweg, Kirschbaumweg, Ahornstrasse – wurden die namensgebenden Bäume gepflanzt.

Wo bleibt das nachbarschaftliche Herz?

Am Eschenweg kommen die zwei Welten des Oberfelds zusammen.

Links sieht man auf die verwitterte Holzfassade der kompakt gebauten autofreien Siedlung. An den Balkonen flattern regenbogenfarbige Friedensfahnen, jemand hat die Aussenfront seiner Wohnung mit Hardrock-Bandplakaten tapeziert. Hinten um die Ecke befindet sich der gepflegte, aber wilde Gemeinschaftsgarten, in dem sogar eine kleine Sauna steht.

Rechts des Eschenwegs ist äusserlich alles anders: Unangetastete weisse Fassaden, akkurat gestutzte Hecken, sauber gemähte Rasenflächen; nichts steht herum, das nicht da hingehört.

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Kein Nebeneinander, viel mehr ein Miteinander. (Bild: Christine Strub)

Sarah Aeschbacher und Marina Castrovillari stehen in der Mitte des Eschenwegs, neben dem Velounterstand, bei dem sich ein offener Bücherschrank befindet. Aeschbacher lebt im properen Teil des Oberfelds, Castrovillari in der autofreien Siedlung. Ihre Ideen allerdings stimmen überein: «Uns geht es darum, dass hier aus einem Nebeneinander mehr und mehr ein Miteinander wird», sagt Sarah Aeschbacher. Sie sitzt für die SP im Grossen Gemeinderat und ist Co-Präsidentin der Interessengemeinschaft (IG) Lebendiges Oberfeld.

Wie Marina Castrovillari hat auch Sarah Aeschbacher eine typische Ostermundiger Biografie: Sie ist mit ihrer Familie zugezogen in eine neue Siedlung. Und sie fragt sich, wo im wachsenden Ostermundigen die Begegnungsorte, die gestaltbaren Plätze, das nachbarschaftliche Herz bleibt.

Jetzt kommt San Siro

Die beiden Frauen gehen über den kleinen Dorfplatz der Genossenschaftssiedlung, auf dem am Freitagabend jeweils ein Gemüse-Märit stattfindet, vorbei am Bioladen, und schauen hinunter auf die freie Wiese. Sie trägt den Namen San Siro –wie das Fussballstadion in Mailand.

San Siro ist überstellt mit Bauprofilen. Hier wird die nächste Etappe der Überbauung Oberfeld realisiert, Wohnraum für weitere rund 500 Menschen. Das freie Feld sei in den letzten Jahren spontan zu einer Zwischennutzungszone geworden, sagt Marina Castrovillari. Kinder toben sich aus, gelegentlich finden darauf Quartierfeste statt, und ja, auch für Hundebesitzer*innen ist die Wiese eine Option in Fussgänger*innendistanz.

Wichtig aber: «Es ist ein wirklich offener Begegnungsort, nicht exklusiv für das Oberfeld, sondern auch für benachbarte Quartiere», sagt Marina Castrovillari. Dass sich gleich daneben Fussballfelder des FC Ostermundigen befinden – die Ostermundiger «Integrationsmaschine» par excellence, für die sich Marina Castrovillari als Nachwuchstrainerin engagiert – steigert den multikulturellen Wert des bald überbauten Freiraums zusätzlich.

Das «erweiterte Wohnzimmer»

Man kann die San-Siro-Wiese als Beleg dafür sehen, wie wichtig gemeinschaftlich nutzbarer Raum dafür ist, dass in Quartieren Nachbarschaft entsteht. «Wohnen hört nicht an der Wohnungstüre auf», hält etwa der Schweizerische Städteverband fest, der mit dem «Netzwerk lebendige Quartiere» eine Plattform mitbetreibt, die den Erfahrungsaustausch zwischen sich zu Städten wandelnden Dörfern fördert. Nach den Erfahrungen mit der Covid-Pandemie seien «qualitätsvolle Freiräume» in Siedlungen noch wichtiger geworden, hält der Expert*innenbericht «Dichte auf dem Prüfstand» des Bundesamts für Wohnungswesen fest.

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«Unsere Erfahrung bestätigt: Gute Nachbarschaft ist kein Selbstläufer», sagt Marina Castrovillari. (Bild: Christine Strub)

Die frühere Stadtberner SP-Gemeinderätin Ursula Wyss hat mit ihrer vielbelächelten und -kritisierten Offensive zur Aneignung des öffentlichen Raums durch die Menschen beispielsweise die Mittelstrasse in der Länggasse verkehrsberuhigt und zum «erweiterten Wohnzimmer» für das Quartier gemacht. Politisch wurde sie deswegen oft angegriffen, die Bevölkerung allerdings scheint das urbane Nachbarschaftsgefühl zu schätzen.

In gebauten Stadtquartieren muss die Begegnungsqualität, beispielsweise durch Verkehrsbeschränkungsmassnahmen, nachträglich geschaffen werden. Umso erstaunlicher, dass sie in Neubauquartieren wie dem Oberfeld in Ostermundigen nicht von Anfang an konsequent mitgedacht wird.

Ausser in der autofreien Siedlung, wo es gemeinschaftlich nutzbare Räume gibt: «Unsere Erfahrung bestätigt: Gute Nachbarschaft ist kein Selbstläufer», sagt Marina Castrovillari. Es brauche initiative Köpfe, die den Gemeinschaftsgedanken in die Praxis umsetzen und Schwellenängste abbauen. Besonders brauche es aber Räume, wo das stattfinden kann.

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Wird nicht zum Quartierzentrum: Das ehemalige Schützenhaus. (Bild: Christine Strub)

Die IG Lebendiges Oberfeld versucht, das zu erwirken. Als das Gemeindeparlament die Überbauungsordnung für das Baufeld San Siro beriet, wollte die SP ein Gemeinschaftszentrum verankern. Das Vorhaben scheiterte, auch an kantonalen Vorschriften. «Lebendiges Oberfeld» reichte darauf eine Volksmotion mit 130 Unterschriften ein für einen Gemeinschaftsraum, beispielsweise im ehemaligen, langgezogenen Schützenhaus gleich neben dem Quartier. Inzwischen ist dort aber das Velogeschäft Gfeller eingezogen, das unter anderem immerhin ein Café mit urbanem Flair betreibt.

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«Die Diskussion, die wir vorantreiben, ist für ganz Ostermundigen wichtig», sagt Sarah Aeschbacher. (Bild: Christine Strub)

Sarah Aeschbacher gibt so schnell nicht auf. Das Bedürfnis der Bevölkerung im wachsenden Oberfeld nach einem frei nutzbaren, nicht kommerziellen Quartierzentrum sei klar ausgewiesen, sagt sie. Und überhaupt: Es gehe ihr nicht bloss darum, einfach eine Lösung für das Oberfeld zu erwirken, und dann sei alles gut. «Die Diskussion, die wir vorantreiben, ist für ganz Ostermundigen wichtig», findet sie. Letztlich gehe es um grosse gesellschaftliche Themen wie dem Auseinanderdriften von Lebenswelten – von Einheimischen und Zugezogenen, von Jung und Alt, von Arm und Reich.

Zum neuen Selbstverständnis von Ostermundigen als Berns dynamische Nebenstadt – «gerne dereinst auch als Quartier der Stadt Bern», wie sie sagt – würde Sarah Aeschbachers Ansicht nach gehören, sich diesen Fragen politisch mit konkreten Antworten zu stellen. Im Kleinen gehen sie und Marina Castrovillari schon mal voraus, indem sie die unterschiedlichen Welten im Mikrokosmos Oberfeld näher zusammenzubringen versuchen.

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Diskussion

Unsere Etikette
Martin Gränicher
17. Mai 2022 um 20:37

übrigens: die seit Baubeginn gesperrte Wiese vor dem Schützenhaus (siehe Bild oben) war in der Planung mal als Begegnungszone für das Quartier vorgesehen.

Peter Stämpfli
14. Mai 2022 um 07:54

"... die Mittelstrasse in der Länggasse verkehrsberuhigt und zum «erweiterten Wohnzimmer» für das Quartier gemacht. Politisch wurde sie deswegen oft angegriffen, die Bevölkerung allerdings scheint das urbane Nachbarschaftsgefühl zu schätzen."

Die Beruhigung in der Länggasse und dem Breitenrain wird geschätzt - von denen, die die steigenden Mietzinsen noch bezahlen können. Qualitative Aufwertung hat immer auch steigende Preise zur Folge. Das ist das Gegenteil von dem, was Gemeinderat und Stadtrat eigentlich wollen: Die Integration verschiedener Bevölkerungsgruppen.