Ein Mord, aber kein Motiv
Die Mutter des toten Kindes im Könizbergwald wurde in zweiter Instanz wegen Mordes verurteilt. Weshalb sie das getan haben soll, bleibt ein Rätsel. Auch das macht den Fall so schwer zu ertragen.
Ein totes Kind im Wald, erschlagen mit einem schweren Stein. Mutter und Grossmutter finden das Mädchen und alarmieren die Rettungskräfte. Bald gerät die Mutter selbst in Verdacht. Die Behörden ermitteln und kommen zum Schluss: Die alleinerziehende Mutter hat ihre achtjährige Tochter kaltblütig ermordet.
Ihr angeblich einziges Motiv: Das Kind war ihr ein Hindernis. Lieber wollte sie Party machen und endlich eine glückliche Beziehung mit einem Mann eingehen. So sahen es die Staatsanwaltschaft und das Regionalgericht Bern Mittelland.
Der Fall des achtjährigen Mädchens, das im Februar 2022 tot im Berner Könizbergwald gefunden wurde, ist erschütternd. Im Sommer 2024 verurteilte das Regionalgericht die Mutter des Kindes, eine heute 33-jährige Bernerin, wegen Mordes zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe.
Die Mutter beteuerte während des ganzen Verfahrens ihre Unschuld. Auch ihre Eltern und andere Angehörige sind überzeugt, dass sie unschuldig ist. Die Beschuldigte zog das Urteil weiter ans Obergericht. «Ich habe meine Tochter nicht getötet», sagte sie immer wieder – den Strafbehörden, aber auch den Medien.
So zum Beispiel der Deutschen Wochenzeitung «Die Zeit». Kurz bevor das Obergericht am 17. März über den Fall verhandelte, warf diese in einem fünfteiligen Podcast die Frage auf: Ist die Mutter unschuldig – und haben die Behörden ungenügend ermittelt?
Am Montagabend verkündete das Obergericht sein Urteil. Auch die zweite Instanz sieht es als erwiesen an, dass die Mutter ihre Tochter erschlagen habe. Es sprach sie ebenfalls wegen Mordes schuldig. Nur die Strafe fiel ein bisschen leichter aus: Statt zu einer lebenslänglichen verurteilte das Obergericht die Mutter zu einer Freiheitsstrafe von 18 Jahren. Zu den Gründen dafür später.
Getötet beim gemeinsamen Versteck
Es gibt keine direkten Beweise für die Tat. Aber eine Reihe von Indizien. Diese lassen auf folgende Geschehnisse schliessen: Am späten Nachmittag des 1. Februar 2022, einem Dienstag, sei die Mutter mit ihrer Tochter zu Fuss in den Könizbergwald gegangen, ganz in der Nähe ihrer Wohnung. Ihr Handy liess sie zu Hause, wo es über die Musikbox eine Spotify-Playlist abspielte.
Sie seien zu einer Stelle im Dickicht gelangt. Es war ein gemeinsames «Versteckli», wo die beiden eine Woche zuvor aus Ästen eine kleine Hütte zum Spielen gebaut hatten. Dort habe die Mutter ihre Tochter mit einem acht Kilogramm schweren Stein erschlagen.
Dann sei die Täterin nach Hause gegangen und schrieb ihrer eigenen Mutter eine Whatsapp-Nachricht, sie habe den Karateunterricht der Tochter vergessen. Sie rief mehrere Eltern anderer Kinder an, die in der Nähe wohnten, und fragte, ob ihre Tochter bei ihnen sei. Als alle verneinten, machte sie sich gemeinsam mit ihrer Mutter, die auch im Quartier wohnte, auf die Suche nach dem Kind. Irgendwann schlug sie vor, beim Versteck im Wald nachzusehen. Dort trafen die beiden auf das tote Kind und alarmierten den Notruf.
Die Gerichte sehen es als erwiesen an, dass die Tat so geschehen ist. Die Behörden verdächtigten in diesem Prozess nie jemand anderen als die Mutter.
Indizien und mögliche Vorurteile
Moritz Müller, der amtliche Verteidiger der Mutter, kritisiert das. Er forderte einen Freispruch für die Mutter. Die Ermittlungen gegen seine Mandantin seien «von Anfang an ergebnisorientiert» gewesen, sagte er vor Obergericht.
Jedes aufgeführte Indiz, argumentierte Müller, lasse auch eine andere Interpretation zu.
Auf dem Stein waren DNA-Spuren von Mutter und Tochter gefunden worden. Für das Obergericht ein starkes Indiz für ihre Täterschaft. Müller argumentierte: Die Spuren könnten vom Spielen an anderen Tagen gekommen sein. Ebenso gut könnte ein anderer Täter den Stein mit Handschuhen angefasst haben.
Ein zwölfjähriger Junge aus dem Quartier gab an, bei einem Hundespaziergang Mutter und Tochter kurz vor dem vermuteten Tatzeitpunkt begegnet zu sein. Er habe gesehen, wie beide in Richtung Wald gingen. Die Aussagen dieses Zeugen waren für das Gericht glaubhaft. Müllers Erwägung: Der Junge könnte sich getäuscht haben.
Das Handy der Mutter war zwar während der Tatzeit zu Hause gewesen. Sie hatte es aber für rund eine Stunde nicht bedient, während sie es vorher andauernd aktiv genutzt hatte. Für das Gericht ein Indiz, dass die Mutter nicht zu Hause war. Sie habe einfach gedöst und Musik gehört, so Müller. Es waren in der Zeit keine Nachrichten oder Anrufe eingegangen.
Nur Mutter und Tochter hätten gewusst, wo das «Versteckli» im Wald war. Für das Gericht spricht das für die Mutter als Täterin. Aber die Mutter hatte ein Foto der kleinen Hütte öffentlich auf Facebook gepostet, rief Müller in Erinnerung. Es sei gut möglich, dass andere Menschen davon gewusst hätten.
Die Mutter habe sich «suspekt» verhalten, nachdem sie ihre Tochter im Wald gefunden hatte. Das sagte ein Polizist, der vor Ort gewesen war. Sie habe angesichts ihrer erschlagenen Tochter gefasst gewirkt, nur verhalten geweint und zudem nach Alkohol gerochen. Müller sagte: Niemand könne in einer solchen Ausnahmesituation beurteilen, was normales Verhalten sei.
Für das Obergericht waren aber Aussagen der Mutter entscheidend, wonach sie ihr Kind kaum angefasst habe, weil sie nicht mit einer Straftat in Verbindung gebracht werden wolle. Daran denke man nicht, wenn man ein totes Familienmitglied auffinde, ausser, man stehe mit der Tat in Zusammenhang.
Das Obergericht kam zum Schluss, dass «eine Vielzahl» von Indizien «in ihrer Gesamtheit beweisen, dass die Mutter ihre Tochter umgebracht hat». So begründete Gerichtspräsident Nicolas Wuillemin am Montag das Urteil. Polizei und Staatsanwaltschaft hätten ergebnisoffen ermittelt und seien allen Hinweisen nachgegangen. Es habe sich nie ein anderer Verdacht erhärtet als gegen die Mutter.
Gemäss Verteidiger Moritz Müller aber hatte die Staatsanwaltschaft nicht, wie sie eigentlich müsste, sowohl belastende als auch entlastende Faktoren ermittelt. Sondern sich auf die Mutter als Täterin eingeschossen.
Die detaillierte Recherche der «Zeit» warf dazu kurz vor der Verhandlung am Obergericht heikle gesellschaftliche Fragen auf: Spielten bei den Ermittlungen Vorurteile eine Rolle gegen eine junge, alleinerziehende Mutter, die gerne Party macht, Metal hört, gepierct ist und sexuell aktiv, deren Wohnung schlecht aufgeräumt ist und die weder eine gute Bildung noch viel Geld hat? War das Strafverfahren gegen diese Mutter von Sexismus, Klassismus und diskriminierenden Gesellschaftsstrukturen beeinflusst?
In einem Punkt spielt dieses Thema eine besondere Rolle: In der Frage nach dem Warum. Und da schlug auch das Obergericht einen anderen Kurs ein als die erste Instanz.
Das fehlende Motiv
Wenn es die Mutter gewesen sein soll – was war ihr Motiv?
Die Statistik spricht gegen die Mutter als Täterin. Es ist sehr selten, dass eine Mutter ihr Kind tötet. Noch viel seltener ist es bei einem Kind über sechs Jahren. Es kommt vor, dass Mütter ihre Kinder aus Überforderung töten, doch dann sind es fast immer Babies unter zwei Jahren.
Der Mutter wurden keine psychischen Störungen diagnostiziert. Sie hatte zwar nachweislich unter der Trennung von ihrem Exfreund gelitten, aber depressiv war sie zum Zeitpunkt des Todesfalls nicht.
Sie war zwar unordentlich, aber kein Messie. Sie trank, hatte aber kein Alkoholproblem.
Sie nahm ihre Tochter zu Partys von Freunden mit, wo geraucht und getrunken wurde. Doch alles in allem hatte sie sich gemeinsam mit den Grosseltern liebevoll um die Tochter gekümmert, die sie von Anfang an ohne Vater grossgezogen hatte. Viele Befragte hatten die Frau als engagierte Mutter beschrieben, die ihr Kind liebte.
Die Staatsanwaltschaft und das Regionalgericht schlossen trotzdem auch vom Lebenswandel der Frau, von ihrem chaotischen Haushalt und ihrem schwierigen Liebesleben auf ein Motiv: Ihr sei die Tochter ein Hindernis und ein «Störfaktor» gewesen, bei ihren Liebesbeziehungen und dem Partyleben. Ein Leben ohne sie soll ihr weniger anstrengend und überfordernd vorgekommen sein. Sie soll geglaubt haben, ohne die Tochter einfacher wieder eine Liebesbeziehung zu einem Mann eingehen zu können.
Das sah das Obergericht nicht so. Es könne zwar sein, dass der Mutter alles über den Kopf gewachsen war und sie die Tochter als Belastung wahrgenommen habe. Doch daraus ein Motiv für den Mord an ihrem Kind zu kreieren, wäre gemäss Obergericht eine «grosse Mutmassung».
«Es konnte trotz erdrückender Beweise nicht abschliessend geklärt werden, weshalb sie sich entschieden hat, ihre Tochter umzubringen», schloss das Gericht. Auch nicht, ob sie die Tat im Voraus geplant hatte. Diese Lücke dürfe man nicht durch Mutmassungen schliessen. Weil andere Gründe für die Tat nicht ausgeschlossen werden können, sieht das Obergericht von der Höchstrafe ab und verhängt eine Freiheitsstrafe von 18 Jahren.
Damit bleibt die mutmassliche, schreckliche Tat für Aussenstehende völlig unerklärlich. Das macht den Fall noch schwerer zu ertragen.
Und vielleicht macht diese Tatsache den Fall auch anfälliger dafür, bei Erklärungsversuchen unbewusst auf Vorurteile und Stereotypen zurückzugreifen. Es könnte sein, dass Vorurteile bei gewissen Einschätzungen der Strafbehörden eine Rolle gespielt haben. Es könnte aber genauso gut nicht sein.
Umso wichtiger, dass diese Fragen vor Schweizer Gerichten auch aufgeworfen und sorgfältig geprüft werden. Rechtsanwalt Moritz Müller hat angekündigt, dass er den Fall ans Bundesgericht weiterziehen wird. Dennoch wird sich die Frage nach dem Warum wahrscheinlich nie klären.