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Papstkritik mit Nachhall in Bern

1963 empörten sich Katholik*innen über das Stück «Stellvertreter». Vor der Premiere im Berner Stadttheater gab es Proteste und eine Bombendrohung.

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Papst Pius XII ging als «Schweigepapst» in die Geschichte ein. 1963 wurde das Stück «Stellvertreter», das dieses Schweigen thematisiert, in Bern aufgeführt. (Bild: Fred Erismann / Schweizer Archiv der Darstellenden Künste)

Kaum ein Stück des Stadttheaters hat Bern jemals derart bewegt wie Rolf Hochhuths «Stellvertreter» über das Schweigen des Papstes zur Shoa. Am 11. Dezember 1963 protestierten 2000 Personen im Casino gegen dessen Aufführung. Am Adventssonntag, dem 15. Dezember, wurde von allen katholischen Kanzeln gegen das «christliche Trauerspiel» gepredigt. Es hagelte Protest- und Drohbriefe gegen das Stadttheater, das sogar eine Bombendrohung erhielt. Die Premiere am 17. Dezember ging bei starkem Polizeiaufgebot vor vollem Haus über die Bühne.

«Asking the Pope for Help»

Diesen Freitag, 25.10., 19.30 Uhr findet in der Heiliggeist-Kirche eine Veranstaltung unter dem Titel «Asking the Pope for Help» statt.

Darin geht es um das umstrittene Pontifikat von Pius XII. Es begann 1939, kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges. Tausende Menschen schrieben Briefe an den Heiligen Stuhl und baten um Hilfe. Doch Pius XII tat nichts und ging als Schweigepapst in die Geschichte ein. 80 Jahre später ordnete Papst Franziskus die Öffnung der Geheimarchive des Pacelli-Papstes an und machte sie der Forschung und der Öffentlichkeit zugänglich. 

Nach einer Einführung von Professor Hubert Wolf (Uni Münster) gibt es eine szenische Lesung mit Aaron Frederik Defant und Heidi Maria Glössner. Eintritt frei, Kollekte.

Die Berner Aufführung bedeutete das Ende einer monatelangen Auseinandersetzung um den «Stellvertreter», gegen den sich in der Deutschschweiz Tausende mobilisieren liessen. In Basel, wo es ausser- und innerhalb des Stadttheaters zu Tumulten kam, hatten bereits im Juli 1963 drei Institutionen Bombendrohungen erhalten: das Stadttheater, die Synagoge, die Freimaurerloge. Aufklärung, Judentum, Freimaurer bildeten die historische Feindbild-Trinität des konservativen Katholizismus.

Die heftigsten Krawalle gab es am 29. Oktober in der klassischen Kulturkampf-Hochburg Olten, wo das Basler Ensemble den «Stellvertreter» aufführte. Etwa 1000 Personen demonstrierten vor dem Theater, Jugendliche warfen Stinkbomben und zündeten Feuerwehrskörper. Andere richteten im Innern ein Chaos an, dass «das Bühnengeschehen vollständig in einem ohrenbetäubenden Krawall unter ging.» (Volk, 30.10.63) 

Auch in Aarau gelang es den katholischen Jungmannschaften zwei Tage später, die Gastaufführung mit «einem grandiosen Pfeifkonzert» (Aargauer Tagblatt 1.11.63) zu unterbrechen, was umso lauteren Applaus bei papstkritischen Szenen auslöste. Selbst in Zofingen, wo über 800 Personen das Trauerspiel besuchten, gab es eine Bombendrohung. Gleichzeitig mit der Aufführung des «Stellvertreter» feierten Hunderte von Gläubigen eine «Protestmesse», um ein Zeichen der «Verehrung gegenüber dem Papsttum» zu setzen. (Aargauer Volksblatt, 2.11.63)

Ein katholischer Held

Der katholisch-konservative Aufstand gegen den «Stellvertreter» befremdet aus heutiger Sicht umso mehr, als Hochhuth das Stück zwei katholischen Nazi-Opfern gewidmet hat. Zudem ist der positive Held ein junger Jesuitenpater.

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Das umstrittene Theater «Stellvertreter» wurde am 17. Dezember 1963 erstmals im Berner Stadttheater aufgeführt – unter grossem Polizeiaufgebot. (Bild: Fred Erismann / Schweizer Archiv der Darstellenden Künste)

Als Attaché des päpstlichen Nuntius in Berlin erfährt Riccardo Fontana im August 1942 von den Gaskammern in Polen. Sein Informant ist der historisch verbürgte protestantische SS-Obersturmführer Kurt Gerstein. Vergeblich versucht Pater Riccardo im Februar 1943 den bestens informierten und ihm persönlich verbundenen Papst Pius XII. zu überreden, seine Stimme gegen die Vernichtung der Jüdinnen und Juden zu erheben. Dieser hält an seinem Schweigen fest und weigert sich, das im Juli 1933 mit Hitler abgeschlossene Konkordat als Druckmittel einzusetzen. Ricardo heftet sich einen gelben Stern an sein geistliches Gewand und begleitet eine Gruppe römischer Juden, die in Sichtweite des Vatikans verladen worden sind, nach Auschwitz. Dort erleidet er stellvertretend für den «Stellvertreter Christi auf Erden» den Märtyrertod.

«Anhänglichkeit an den Papst»

Dass die Proteste gegen das im Februar 1963 in Berlin erstmals aufgeführte Theaterstück in der Schweiz besonders heftig waren, hat entscheidend damit zu tun, dass in den Worten des Luzerner Kirchenhistorikers Victor Conzemius «die Anhänglichkeit an den Papst» hierzulande auffällig stark war. Zudem verfügte der politische Katholizismus über ein aussergewöhnlich dichtes Organisationsnetz. 

Allerdings löste sich in den folgenden Jahren das katholische Milieu innert kurzer Zeit weitgehend auf. Und die im Oktober 1965 vom Zweiten Vatikanischen Konzil verabschiedete Erklärung «Nostra Aetate» («In unserer Zeit») anerkannte erstmals die anderen Religionen, insbesondere das Judentum. Das bedeutete auch eine Distanzierung von den antisemitischen Pius-Päpsten, die 1849 bis 1958 das dunkelste Jahrhundert der katholischen Weltkirche verkörpern. Der Aufstand gegen den «Stellvertreter» erwies sich in der Schweiz als Schwanengesang des konservativen Katholizismus.

Konservativer Protest im Berner Stadtrat

In Bern begann dieser Mitte November 1963 kurz nach der Veröffentlichung des Programmhefts des Stadttheaters. Im Stadtrat drückten die Christlichsozialen, wie sich die Katholisch-Konservativen in der Diaspora häufig nannten, «ihre Missbilligung darüber aus, dass der Theaterausschuss im Einverständnis mit der künstlerischen Leitung des Stadttheaters beschlossen hat, das umstrittene Tendenzstück aufzuführen». 

Unter anderem wird ihm vorgeworfen, «den konfessionellen Frieden in unserem Lande» zu gefährden. Die parlamentarische Gruppe «bedauert, dass das Stadttheater, welches auf allgemeine Steuergelder angewiesen ist, mit der Aufführung es an der Rücksichtnahme gegenüber dem katholischen Volk fehlen lässt». In der Stadt Bern waren damals 20 Prozent Katholiken, ein gutes Drittel von deren Stimmberechtigten wählte «katholisch». 

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Das Stück handelt vom Schweigen des Papstes zur Shoa. (Bild: Fred Erismann / Schweizer Archiv der Darstellenden Künste)

In der gleichen Nummer vom 15. November 1963, in dem das Berner Pfarrblatt über die christlichsoziale Intervention im Stadtparlament berichtete, veröffentlichte es einen Aufruf der römisch-katholischen Kirchgemeinde, der Pfarrämter und der Gesellschaft für Christliche Kultur zu einer Veranstaltung gegen «dieses unsere Gefühle verletzende Theaterstück». 

Für den Anlass vom 11. Dezember im grossen Casinosaal wurden zwei Referenten angekündigt: Der deutsche Historiker Hans Buchheim, Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte in München, und der Berner Dekan Johann Stalder, der an der Dreifaltigkeitskirche als Pfarrer wirkte. Auffällig im Pfarrblatt-Artikel war die eingangs gemachte Beteuerung: «Um es vorweg zu sagen: wir Berner Katholiken werden nicht auf die Strasse gehen.» 

Eigenständige Berner Inszenierung

Dieser Entscheid dürfte zwei Gründe gehabt haben: Erstens mahnten die chaotischen Szenen, die katholische Jungmänner in Basel, Olten und Aarau provoziert hatten, zur Vorsicht. Und zweitens wurde am Berner Stadttheater mit dem eigenen Ensemble eine neue, leicht entschärfte Version des «Stellvertreters» aufgeführt. 

Während die Basler Fassung die überdimensionierte Länge von Hochhuths Trauerspiel dort kürzte, wo es um die Schuld der Grossindustrie und der Armeeoffiziere ging, nahm der Berner Theaterdirektor Walter Oberer die Kürzungen andernorts vor. Damit kam der «Stellvertreter» bei der «Schuldverteilung» etwas besser weg. Zudem wurde im Berner Programmheft auch kritischen Stimmen Platz eingeräumt. So beinhaltete es einen Text des zwischenzeitlich zum Papst Paul VI. gewählten Kardinals Montini.

Allerdings änderte das inhaltlich wenig an den katholisch-konservativen Protesten gegen das Theaterstück und dessen Aufführung. Unter den 2000 Personen, die das Casino aufsuchten, befanden sich Bundesrat Ludwig von Moos und der ehemalige Bundesrat Philipp Etter. Beide standen und stehen sie unter ähnlichem Antisemitismus-Verdacht wie Pius XII. Etters Heimatkanton Zug hatte im Mai 1963 Rolf Hochhuth wegen «Verletzung der religiösen Gefühle des Grossteils der Zuger Bevölkerung» die Aufenthaltsbewilligung verweigert. 

Sonntags-Predigten und Bund-Kolumnen

Buchheims Hauptargument im Casino war, dass angesichts des Charakters des Nazi-Regimes ein päpstlicher Protest gegen die Ermordung der Juden nichts gebracht hätte. Dekan Stalder bezeichnete Hochhuths Bild des Papstes als «Karikatur», die «die Katholiken beleidige». Zur damals in Bern intensiv diskutierten «Freiheit der Kunst» stellte der Dreifaltigkeits-Pfarrer die Frage, «ob diese Freiheit nicht doch auch an die allgemeinen Normen der Sittlichkeit gebunden sei, z.B. an das Gebot der Wahrheit?»

Zwei Tage vor der Uraufführung wurde am Adventssonntag, den 15. Dezember, von allen katholischen Kanzeln eine Erklärung gegen die Aufführung des «Stellvertreters» verlesen. In der von der Pfarrkonferenz der Römisch-Katholischen Kirchgemeinde Bern verfassten Verlautbarung wurde noch einmal betont, dass bei aller Berechtigung kritischer Fragen die negative Charakterisierung des Papstes unakzeptabel sei. Dadurch sei das Stück zu einer Belastung für den konfessionellen Frieden geworden. Gegen diesen Vorwurf hatte sich kein Medium über all die Monate so stark gewehrt wie «Der Bund», die profilierteste Schweizer Tageszeitung zugunsten der «Stellvertreter»-Aufführung. «Es gereicht nicht zuletzt dem Glauben selber zu grösstem Schaden, wenn um des religiösen Friedens willen die Suche nach der Wahrheit abgestellt und kritische Besinnung und Diskussion verhindert werden sollen.» (27.10.63)

Ein ausverkauftes Haus

Die Uraufführung im Stadttheater wurde zu einem grossen Erfolg. Im «Bund» schrieb der legendäre Feuilleton-Redaktor Arnold H. Schwengeler am Tag danach: «Ein ausverkauftes Haus. Ganz Bern war da. Die Schweizer Presse. Auch Rolf Hochhuth, der es erstmals erleben durfte, dass ihm und seinen Interpreten nur Beifall zuteil wurde.» 

Nach dem Lob an den Theaterdirektor, «der sich durch kein falsches Tabu irritieren liess», endet die Theaterkritik mit dem Satz: «Hochhuths Frage nach Gott gehört auf die Bühne eines Landes, dessen Bewohner noch den Mut haben, sich als Demokraten und Christen auch unangenehmen Problemen zu stellen.»

Der Autor: Jo Lang (Jahrgang 1954) ist Historiker und freier Autor in Bern. Er war Politiker in Zug und sass bis 2011 für die Grünen im Nationalrat.

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Diskussion

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Salome Krieger Aebli
24. Oktober 2024 um 19:21

Vielen Dank für diesen interessanten Beitrag!