Pendenzen – Stadtrat-Brief #7

Sitzung vom 11. Mai 2023 – die Themen: Vorstossberg; «Haus der anderen Schweiz»; Geflüchtete; Mahlzeitentarife; Care-Arbeit; Geschäftsreglement des Stadtrats.

Stadtrat-Brief
(Bild: Silja Elsener)

Der Pendenzenberg im Berner Stadtrat ist hoch, es gibt um die 230 Vorstösse zu behandeln. Vorstösse beanspruchten den grössten Teil der gestrigen Stadtratssitzung. Trotzdem geht es nur in kleinen Schritten weiter. Am Schluss waren von 22 traktandierten Vorstössen nur deren 9 abgetragen.

Die meisten von ihnen teilen eine Gemeinsamkeit: Sie fordern nahezu Unmögliches. Weil sie Themen betreffen, die gar nicht in der Kompetenz der Stadt Bern liegen, sondern in jener des Kantons oder des Bundes. Die Vorstösse lancieren hauptsächlich eine Diskussion, ohne dass sich unmittelbar etwas ändern kann.

Zum Beispiel beim Vorstoss, ein «Haus der anderen Schweiz» in Bern einzurichten. Also einen Ort zu schaffen, der die Geschichte der Zwangsversorgten in der Schweiz beleuchtet und ein Kompetenzzentrum schafft, das diesen düsteren Teil der Schweizer Geschichte sichtbar macht. Der Stadtrat überwies die Motion der SP/JUSO-Fraktion mit einem deutlichen Mehr. Ganz im Wissen, dass der Gemeinderat in dieser Sache nicht viel ausrichten kann. Oder wie Franziska Geiser als Sprecherin von GB/JA! sagte: «Das ist kein Stadtberner Thema, es ist ein Bundesthema. Aber der Gemeinderat kann beim Bund ein bisschen Dampf machen.»

Nur wird die Berner Regierung nicht federführend tätig werden, wie die zuständige Gemeinderätin Franziska Teuscher (GB) ausführte: «Der Gemeinderat unterstützt die Idee, aber er unterstützt auch die Idee, dass der Bund Räumlichkeiten zur Verfügung stellen soll und auch die Finanzierung übernimmt.»

Themen aufs Tapet bringen, mag in einer Demokratie wichtig sein, führt aber manchmal dazu, dass in vier Stunden nur wenig politisch relevante Entscheidungen getroffen werden. Und der Pendenzenberg nicht kleiner wird.

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Ratsmitglied der Woche: Milena Daphinoff

Milena Daphinoff ist 39-jährig, sitzt seit August 2016 für die Mitte-Partei (früher CVP) im Stadtrat und präsidiert seit 2022 ihre Fraktion. Sie hat Geschichte und Kunstgeschichte studiert und arbeitet als Geschäftsführerin und Inhaberin einer Kommunikationsfirma.

Warum sind Sie im Stadtrat?

Weil ich auch nach sieben Jahren im Rat Gestaltungswillen habe und überzeugt bin, dass es für lösungsorientierte Politik in der Stadt Bern eine starke Mitte braucht.

Wofür kennt man Sie im Rat – auch ausserhalb Ihrer Partei?

Für fulminante Partyreden und eine ausgeprägte Kulturvorliebe.

Welches ist Ihr grösster Misserfolg im Rat?

Der Perimeter Schützenmatte nagt stark an mir. Als ich frisch im Stadtrat war, wurde gerade das Nutzungs- und Entwicklungskonzept vorgestellt. Ich war hoffnungsvoll, glaubte an eine wirkliche Umgestaltung, schrieb Vorstösse, skizzierte einen Einbezug des Kunstmuseums. Viele Jahre später – im Sommer 2022 – liegt die Vorstudie auf. Statt Visionen ist das Ergebnis: weniger Asphalt und mehr Bäume auf einem offenen Platz. Was mit den Car- und Handwerkerparkplätzen passieren wird, bleibt ungeklärt. Da spüre ich nur noch Resignation.

Worauf sind Sie stolz bei Ihrer Ratsarbeit?

Auf seriöse Sachpolitik. Ich lasse mich nicht für alles vor den Karren spannen, aber bin immer bereit für eine überparteiliche Lösungsfindung. Als Fraktionspräsidentin bin ich zudem stolz auf meine Fraktion, die auf vier Schultern die gleiche Geschäftslast trägt wie die drei-, vier- oder fünfmal grösseren Fraktionen im Rat. Das ist voller Einsatz für Bern!

Welches ist Ihr liebster Stadtteil und warum?

Die Altstadt. Weil ich hier mit meiner Familie wohne und täglich erleben darf, dass sie lebt, pulsiert und vielen Menschen ein Zuhause ist. Nicht nur Tourismus-Hotspot und Lädeli-Paradies.

Diese Themen waren ebenfalls wichtig:

  • Geflüchtete: Die PdA forderte Sozial- statt Nothilfe und eine «sinnvolle und menschliche Zahnmedizin» für Geflüchtete sowie die Schaffung einer Kommission für Migration und Flucht. Die drei Vorstösse wurden allesamt deutlich überwiesen und vom Gemeinderat als Richtlinie angenommen. Doch auch hier stand wieder das Kompetenz-Problem im Weg, oder wie Francesca Chukwunyere für die GFL/EVP-Fraktion sagte: «Wir nehmen aus inhaltlicher Sympathie sämtliche Motionen an. Aber es ist die falsche Ebene, wir können da gar nichts machen.»
  • Mahlzeitentarife an Tagesschulen: Ein Vorstoss, der 2019 eingereicht worden war und «sozialverträgliche Mahlzeitentarife an Berner Tagesschulen» forderte, sorgte für polemische Diskussionen. Dabei war das Anliegen schon Anfang 2020 aufgrund eines Antrags des Gemeinderats an den Stadtrat umgesetzt worden. Es wäre also lediglich um die formelle Annahme und Abschreibung der interfraktionellen Motion gegangen. Ergo: Den Pendenzenberg abbauen. Stattdessen entspann sich ein Schlagabtausch darüber, ob Eltern, die ihre Kinder am Mittagstisch betreuen lassen, «faul» und «Rabeneltern», wie von Erich Hess (SVP) behauptet, seien – oder ob nicht doch Raben eigentlich sehr fürsorgliche Eltern seien, wie die Wissenschaft längst herausgefunden habe (Bettina Stüssi (SP), Judith Schenk (GLP)).
  • Care-Arbeit: Ein Postulat der SP/JUSO-Fraktion forderte «das Potenzial von Freiwilligen und Seniorinnen und Senioren in Bern zivilgesellschaftlich zu nutzen». Lea Bill als Sprecherin von GB/JA! hielt dagegen: «Care-Arbeit lohnt sich nicht unbedingt. Man kann damit kein Geld machen, darum setzt man überall auf Freiwilligkeit.» Aus Kritik an diesem System, das Care-Arbeit zu Freiwilligenarbeit mache, stimmte die GB/JA!-Fraktion gegen das Postulat, das mit 26 zu 27 Stimmen knapp abgelehnt wurde. Auch dieser Entscheid hat keine Konsequenzen, da Massnahmen in dieser Hinsicht schon laufen würden, wie Gemeinderätin Franziska Teuscher erläuterte. So sei das Thema etwa in die Altersstrategie 2030 eingeflossen und es gebe den «Tag der Nachbarschaft». Der nächste steht am 26. Mai an.
  • Geschäftsreglement des Stadtrats: In erster Lesung beschäftigte sich der Stadtrat mit sich selbst und seinem Geschäftsreglement. Es ging um drei zusammengefasste Anträge. Am umstrittensten dabei war, ob das Ratsbüro wie bisher abschliessend darüber befinden kann, ob ein Vorstoss als dringlich oder nicht eingeordnet wird – oder ob es dagegen ein Einspracherecht geben soll. Tom Berger (FDP) witterte dabei gleich ein «Misstrauen gegenüber der Arbeit des Büros», dem er selbst im Moment angehört. Er verwies darauf, dass die Büromitglieder nicht als Parteipolitiker*innen agieren würden, sondern einen «klaren Auftrag» hätten. Wegen der Differenzen wird der Rat über die Teilrevision in einer zweiten Lesung befinden.

PS: An offiziellen Anlässen können sich Stadträt*innen neu einen kleinen Pin anstecken, der sie als offizielle Amtsträger*innen kennzeichnet. Er zeigt das Berner Wappen und symbolische Mauern obendrauf. Noch während der Sitzung holten die ersten Politiker*innen beim Ratsweibel den frisch angelieferten Pin. Und trugen ihn in der Ratspause gleich zum Austausch mit Hauptstädter*innen im Polit-Forum Bern.

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