Regierung und Tamedia verbeissen sich
Die Fronten zwischen Regierungsrat Philippe Müller und dem Tamedia-Verlag zur Berichterstattung über einen Polizeieinsatz bleiben verhärtet. Obschon ein Expertenbericht Entspannung anbietet.
«Jetzt ist es offiziell», schreibt der kantonale Polizeidirektor Philippe Müller (FDP) am Donnerstag triumphierend auf X: Die Berichterstattung der «Bund»-Redaktion über die Festnahme eines Mannes vor der Heiliggeistkirche im Juni 2021 sei «vorverurteilend und irreführend» gewesen. Die Chefredaktion der mittlerweile fusionierten Tamedia-Titel Bund und BZ weist den Vorwurf gleichentags zurück: Sie könne ihn «nicht nachvollziehen».
Unversöhnlich und starr sind die Positionen von Tamedia und Regierungsrat Philippe Müller seit bald vier Jahren. So lange dauert die Kontroverse um diesen einen Zeitungsartikel bereits. Nichts weicht sich auf.
Die «Hauptstadt» hat ausführlich dargestellt, um was es geht. In Kurzform: Am 11. Juni 2021 beobachten zufällig anwesende «Bund»-Journalist*innen, wie vor der Heiliggeistkirche in Bern ein Mann von der Polizei ruppig festgenommen wird. Sie schreiben kritisch darüber und publizieren Bilder. Der festgenommene, inzwischen ausgeschaffte Mann zeigt zwei Polizisten an. Einer wird im Herbst 2023 vor Gericht freigesprochen, der andere wegen Tätlichkeit und Amtsmissbrauch verurteilt. Er zieht das Urteil weiter.
Journalistische Sorgfalt?
Nach dem Freispruch des einen Polizisten im Herbst 2023 greift Regierungsrat Philippe Müller die Berner Tamedia-Redaktion frontal an. Die Journalist*innen hätten 2021 ungerechtfertigt «haarsträubende Vorverurteilungen» in die Welt gesetzt, ja eine Medienkampagne lanciert. Der Kanton habe als Arbeitgeber des Polizisten die fürsorgerische Pflicht, sich für ihn zu wehren. Bürgerliche Grossrät*innen nehmen die Argumentation von Müller eins zu eins auf und lancieren eine Motion, in der sie Tamedia Machtmissbrauch vorwerfen. Der Grosse Rat überweist den Vorstoss und beauftragt die Kantonsregierung, eine Untersuchung zur Tamedia-Berichterstattung von 2021 vorzunehmen.
Das Vorgehen von Berner Regierung und Parlament ist aussergewöhnlich, weil sich Fragen zu Gewaltentrennung, Medienfreiheit und Demokratieverständnis stellen, wenn Regierung und Parlament in die Medienberichterstattung eingreifen. Nun liegt ein Expertenbericht in dieser heiklen Frage vor.
Für ein Kostendach von 40’000 Franken hat Philippe Müller den bekannten Zürcher Medienjuristen Manuel Bertschi als Experten engagiert. Sein Bericht ist differenziert, wobei Bertschi vor den Medien betont, dass der Ermessensspielraum in diesen Fragen gross sei. In seiner Analyse müssen sich sowohl Tamedia wie Auftraggeber Müller Kritik gefallen lassen.
Machtmissbrauch?
In einem Punkt kritisiert Bertschi die Tamedia-Redaktion wegen Verletzung der journalistischen Sorgfalt. Allerdings deutlich. Im «Bund»-Artikel von 2021 kommt der Fall von George Floyd zur Sprache, der kurz zuvor in Minneapolis (USA) bei einer Festnahme durch polizeiliche Gewalt gestorben ist. Die Journalist*innen erwähnen Floyd, weil sie sich im Artikel auf ein Archivzitat des Rechtsmediziners Ulrich Zollinger berufen. Obschon Zollinger tags darauf der Redaktion schreibt, es sei unangebracht, den Berner Fall direkt mit demjenigen von Floyd zu vergleichen, verzichtet die Redaktion auf eine Klarstellung. Dabei bestand im Berner Fall nie Lebensgefahr.
Bertschis Einschätzung: Die Redaktion habe in diesem Punkt sowohl die Pflicht zur Wahrheitssuche als auch diejenige zur Berichtigung verletzt. Der Artikel weise deshalb «vorverurteilende Züge auf».
Ebenso deutlich thematisiert Bertschi das unangepasste Handeln seines Auftraggebers. Von Machtmissbrauch seitens Tamedia könne keine Rede sein, schreibt Bertschi. Genau das haben Regierungsrat und Grossrats-Mehrheit bei der Behandlung der Motion behauptet. Deutlich hebt Bertschi auch hervor, dass die zuständigen Gremien für die Beurteilung medienethischer und -rechtlicher Fragen der Presserat und die Gerichte sind. Und weder ein Parlamentssaal noch eine Medienkonferenz eines Regierungsrats.
Versöhnlichkeit?
Weil Bertschi beide Seiten sachlich kritisiert, könnte sein Bericht Ausgangspunkt für einen konstruktiven Blick nach vorne sein. Indirekt lassen Müller und Tamedia zwar durchblicken, dass es sinnvoll wäre, das gegenseitige Verständnis von journalistischer und polizeilicher Arbeit zu verbessern.
Allerdings ist an der Medienkonferenz kein versöhnlicher Ton zu hören. Philippe Müller spitzt seine Kritik an Tamedia im Vergleich zum Inhalt des Expertenberichts erneut zu. Tamedia hingegen wirft die Frage auf, ob das Vorgehen des Regierungsrats «mit der in der Bundesverfassung verankerten Medienfreiheit vereinbar ist». Die beiden Chefredaktoren von Bund und BZ hören sich Müllers Vorwürfe vor Ort schweigend an und verlassen danach wortlos den Saal.