Gedanken zum Krieg

In seiner ersten Kolumne schreibt Philosoph Christian Budnik über den Krieg, die Ohnmacht und darüber, woran wir uns halten können.

Illustration für die Philo Kolumne
Illustration (Bild: Silja Elsener)

Als Philosoph bin ich es gewohnt, kritische Distanz zu Dingen einzunehmen und auf abstrakte Weise über sie nachzudenken. Beim Krieg in der Ukraine wird diese Fertigkeit täglichen Belastungsproben ausgesetzt. Ich sehe die Bilder, ich lese die Nachrichten und kann zunächst keinen klaren Gedanken fassen. Die gewohnten Strategien der argumentativen Auseinandersetzung mit Problemen wirken angesichts bombardierter Stadtviertel und flüchtender Familien nutzlos. Philosophische Theorien über Krieg und Frieden zu reflektieren, scheint im Strudel der aktuellen Entwicklungen müssig, weil dadurch keine Leben gerettet werden.

Ganz ähnlich wie mir ergeht es vielen Menschen, mit denen ich spreche: Die dominierenden Reaktionen auf die Nachrichten aus der Ukraine sind Ungewissheit und Ohnmacht. Wir wissen nicht, wann der Krieg vorbei sein wird, wie viel schlimmer er noch werden kann, und welche langfristigen geopolitischen Folgen er haben wird. Und es sieht so aus, dass nichts, was wir tun könnten, einen Einfluss auf seinen Verlauf haben wird – einen Verlauf, der in den kommenden Wochen mit grösster Wahrscheinlichkeit an Brutalität zunehmen und mehr und mehr Menschenleben fordern wird. Ungewissheit und Ohnmacht sind nie vollständig zu eliminieren, wenn es um Kriegssituationen geht.

Umso wichtiger scheint mir, dass es in der gedanklichen Auseinandersetzung mit dem Krieg in der Ukraine zumindest vier Dinge gibt, an denen wir uns festhalten können.

Kein Mensch verdient es, aufgrund moralisch zufälliger Umstände in einer Notlage zu sein.

  • Erstens und hauptsächlich muss es uns darum gehen, das menschliche Leid zu minimieren, das der Krieg in der Ukraine verursacht. In welchem Ausmass jede Person dazu aufgefordert ist, und welche konkreten Forderungen an sie diesbezüglich ergehen, wird sich von Fall zu Fall unterscheiden. Klar ist aber, dass wir moralische Hilfspflichten gegenüber den Leidtragenden des Kriegs haben. Diese Hilfspflichten können sich zum einen aus der Tatsache speisen, dass ein Land wie die Schweiz – ohne in einem relevanten Sinne für den Krieg verantwortlich zu sein – daran mitgewirkt hat, die Randbedingungen für sein Entstehen zu schaffen, indem es bilateral profitable Beziehungen zum Kriegsaggressor unterhalten hat. Selbst wenn man dieses «Verstrickungsargument» ablehnen sollte, spricht die blosse Tatsache, dass es sich etwa bei den ukrainischen Geflüchteten um hilfsbedürftige Personen handelt und wir in der Lage sind, ihnen zu helfen, für die Annahme einer moralischen Hilfspflicht. Dies ist insbesondere deshalb der Fall, weil davon ausgegangen werden kann, dass geflüchtete Personen keinen Einfluss darauf hatten, dass sie in eine lebensbedrohliche Kriegssituation geraten sind. Und kein Mensch verdient es, aufgrund moralisch zufälliger Umstände in einer Notlage zu sein.
  • Zweitens sollten wir uns darin üben, die empathischen Reaktionen auf die Bilder und Berichte aus der Ukraine auch auf andere Fälle anzuwenden, in denen wir Personen in Not helfen können. Es geht zurzeit eine Welle der Hilfsbereitschaft gegenüber ukrainischen Notleidenden durch ganz Europa. Das ist zu begrüssen und spendet ein wenig Hoffnung in düsteren Zeiten. Für die Frage, ob wir moralisch zur Hilfe verpflichtet sind, spielt es aber keine Rolle, ob die Personen, die Not leiden, sich in der Ukraine oder in Afghanistan befinden. Weder geografische Nähe zu noch etwaige kulturelle Verwandtschaft mit hilfsbedürftigen Personen sind moralisch relevant, wenn es um die Frage geht, ob man zur Hilfe verpflichtet ist. Diese Einsicht sollte auf keinen Fall die aktuell vorhandene Begeisterung dämpfen, mit der wir geflüchteten Personen aus der Ukraine zu helfen versuchen. Aber vielleicht können wir uns an diese moralisch löblichen Reaktionen erinnern, wann immer uns Notlagen begegnen, zu denen wir aus welchen Gründen auch immer keinen unmittelbar empathischen Zugang (mehr) finden.
  • Drittens dürfen wir nicht vergessen, dass der Krieg in der Ukraine in den wesentlichen Zügen der Krieg eines einzelnen Mannes ist. Eines Mannes, der weite Teile der russischen Bevölkerung seit Jahren mit Mitteln der Staatspropaganda täuscht und abweichende politische Ansichten mit Gewalt unterdrückt. Das bedeutet, dass wir zwar solidarisch mit den Menschen in der Ukraine sein müssen, dabei aber genau hinschauen sollten, wen wir an den Pranger stellen, wenn es um Kritik an Russland oder um verschiedene Formen des Boykotts geht. Nicht jede russische oder aus Russland stammende Person ist mit Putins Krieg einverstanden, und gerade die russischen Oppositionellen sind in diesen Zeiten ganz besonders auf unsere Unterstützung angewiesen.
  • Schliesslich sollten wir viertens bedenken, dass der Krieg in der Ukraine Bestandteil einer Auseinandersetzung ist, die schon seit längerer Zeit geführt wird. Putin führt nicht nur einen völkerrechtswidrigen Territorialkrieg um die Ukraine, er stiftet gleichzeitig geopolitisches Chaos, um seine Vision autokratischer Herrschaft gegen die Ideale der Demokratie, der Freiheit und der Rechtsstaatlichkeit durchzusetzen. In diesem Sinne betreffen uns die Ereignisse in der Ukraine ganz direkt – hier in Bern, hier in der Schweiz – und wir sollten uns auch entsprechend verhalten. Konkret bedeutet das, dass wir in den kommenden Monaten ganz besonders achtsam sein müssen, wenn es um Dynamiken geht, die das Potential haben, demokratische Prozesse zu unterminieren. In den letzten Jahren wurde mehrmals versucht, durch den Einsatz von Desinformation die Kategorie der Wahrheit aufzuweichen und langfristig ganz aus dem demokratischen Diskurs zu eliminieren. Wem Demokratie am Herzen liegt, sollte deshalb den falschen Analogien, blossen Vermutungen und regelrechten Verschwörungstheorien entgegentreten, die demnächst leider wieder Konjunktur haben dürften. Auch das ist etwas, woran wir uns in verunsicherten Zeiten orientieren können.
Christian Budnik posiert im Büro der Hauptstadt für ein Portrait, fotografiert am 03. März 2022 in Bern.
Philosoph Christian Budnik. (Bild: Manuel Lopez)

Zur Person: Christian Budnik ist Philosoph. Er verbrachte seine ersten Lebensjahre in Polen, emigrierte dann mit seiner Familie nach Deutschland und lebt nun seit 15 Jahren in Bern.

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