Fühl dich bitte nicht diskriminiert
Stadt und Kanton Bern setzen beim Thema Racial Profiling vor allem auf das Projekt «Dialog». Aber hinter dem Schlagwort steckt wenig Inhalt – und dieser richtet sich mehr an Betroffene als an Verantwortliche.
In der Stadt Bern von der Polizei kontrolliert werden, bedeutet für viele Bewohner*innen: Einmal alle paar Jahre mit dem Velo in eine Grosskontrolle geraten. Sonst haben sie kaum je mit der Polizei zu tun.
Anders ist es im Alltag vieler Schwarzer Menschen. Oder Personen, die durch sonstige Merkmale einer gesellschaftlichen Minderheit zugeschrieben werden, zum Beispiel wegen ihrer sozialen Rolle, ethnischen Herkunft oder sexuellen Orientierung. Etwa Sexarbeiterinnen oder Roma.
«Racial Profiling» bezeichnet eine Praxis, bei der die Polizei Personen aufgrund von äusseren Merkmalen solchen Gruppen zuordnet und sie pauschal als verdächtig behandelt. Das verstösst gegen das Diskriminierungsverbot und ist damit menschenrechtswidrig. Mit anderen Worten: Die Polizei darf Personen nicht anhalten und kontrollieren, etwa nur, weil sie Schwarz sind. Polizist*innen müssen neben der Hautfarbe weitere sachliche Gründe für die Kontrolle nachweisen können. Ansonsten ist sie rechtswidrig.
Darum geht es in einem Präzedenzurteil, das der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte kürzlich gefällt hat. Der Gerichtshof hat die Schweiz wegen ihres Umgangs mit einer diskriminierenden Polizeikontrolle am Zürcher Hauptbahnhof gerügt. Der Vorfall ist fast zehn Jahre her, und der betroffene Aktivist Mohamed Wa Baile hat sich durch sämtliche Instanzen der Schweizer Justiz gekämpft. Erst in Strassburg bekam er recht.
Das Urteil zeigt auf: Die Schweizer Behörden haben bis anhin zu wenig unternommen, um die rechtswidrige Praxis anzuerkennen und zu verhindern.
Weder Zahlen noch Beschwerdestellen
Wie oft Racial Profiling in der Schweiz vorkommt, ist unklar. Denn rassistisch motivierte Polizeikontrollen werden in der Regel nicht statistisch erfasst.
Gina Vega leitet die Fachstelle Rassismus und Diskriminierung bei der Menschenrechtsorganisation humanrights.ch. Sie sagt: «Oft werden Fälle von Racial Profiling von der Polizei als Einzelfälle bezeichnet. Das Urteil zeigt aber auf, dass es sich um ein institutionelles, strukturelles Problem handelt.»
Die Organisation fordert Massnahmen: Eine gesetzliche Grundlage, die die Praxis explizit verbietet. Eine statistische Erfassung von Polizeikontrollen. Und unabhängige Beschwerdestellen für Betroffene.
Im Kanton Bern existiert nichts davon.
Eine kantonale Ombudsstelle für Beschwerden zu Polizeieinsätzen hat der Grosse Rat seit 2001 fünfmal abgelehnt, zuletzt 2019.
2016 forderten linke Parteien im Berner Stadtrat zur Bekämpfung von Racial Profiling ein Quittungssystem für Polizeikontrollen. Dabei sollte die Polizei bei jeder Personenkontrolle eine Quittung mit Angaben zu den beteiligten Beamt*innen und dem Grund der Kontrolle ausstellen. Die Kantonspolizei lehnte die Forderung ab, 2018 war die Idee vom Tisch.
Man kann also auch im Kanton Bern nicht beziffern, in welchem Umfang Racial Profiling bei der Kantonspolizei vorkommt. Was man analysieren kann, sind die Strategien, die Polizei und Politik zu dessen Vermeidung verfolgen. Dabei fällt auf: Bestehende Massnahmen gegen Racial Profiling richten sich mehr an Betroffene als an die Polizei.
Schlagwort Dialog
Um diskriminierende Polizeikontrollen zu verhindern, setzen Kanton und Stadt Bern vor allem auf ein Projekt namens «Dialog».
Die Kantonspolizei stehe im Austausch mit Menschenrechtsorganisationen, um das «gegenseitige Verständnis» zu fördern, schreibt sie in einer Stellungnahme. Dabei meint sie das Projekt «Dialog», bei dem es zum einen um den Aufbau von Beziehungen und zum anderen um die gegenseitige Vermittlung von Wissen gehe. Damit könnten Missverständnisse vermieden werden.
Zudem lege die Polizei bereits bei der Rekrutierung grossen Wert darauf, dass ihre angehenden Polizist*innen eine unvoreingenommene Haltung mitbringen. In der Grundausbildung würden die Themen Menschenrechte, interkulturelle Kompetenz und Berufsethik vermittelt. Das Thema interkulturelle Kompetenz sei auch Teil der Weiterbildungen und der Kaderausbildung.
«Nur durch die Einbeziehung beider Parteien kann das Ziel erreicht werden, künftig weniger Diskriminierung zu erleben.»
Auch die Stadt betont den «Dialog». Die Direktion für Sicherheit und Umwelt schreibt, die Stadt Bern setze sich seit einigen Jahren gemeinsam mit der Kantonspolizei damit auseinander, wie Racial Profiling vorgebeugt werden könne. «Das Projekt ‹Dialog› verfolgt das Ziel, Diskriminierungsschutz zu gewährleisten und Racial Profiling zu verhindern. Es ist für die Stadt Bern zentral, dass sich polizeiliches Handeln nach gesetzlichen Vorgaben und insbesondere nach dem Verhältnismässigkeitsprinzip richtet.»
Im Stadtparlament war Racial Profiling in den letzten Jahren wiederholt ein Thema. Immer verwies die Regierung dabei auf das Projekt.
Überschaubarer Inhalt
Die Berner Behörden beschreiben das Projekt «Dialog» als zentrale Massnahme gegen Racial Profiling. Doch was tun Beteiligte konkret, um rassistische Polizeikontrollen zu vermeiden?
Das Projekt ist vor über zwölf Jahren entstanden. Die Fachstelle «Gemeinsam gegen Gewalt und Rassismus», genannt Gggfon, gelangte damals nach Konflikten bei Personenkontrollen an die Kantonspolizei.
Heute sind neben Gggfon vier weitere Akteur*innen beteiligt: Die städtische Sicherheitsdirektion, die städtische Fachstelle für Migrations- und Rassismusfragen, die Organisation Swiss African Forum sowie die Kantonspolizei. Das Projekt «Dialog» wird durch die Stadt Bern mit jährlich 10’000 Franken finanziert.
Zusammengefasst beinhaltete es von 2008 bis heute folgendes:
- Das Gggfon betreibt eine Meldestelle für Personen, die sich bei Kontrollen diskriminiert fühlen. Auf Wunsch der Betroffenen wird seit 2019 eine Fallbesprechung mit der Polizei organisiert. Diese hat allerdings keine rechtlichen Folgen und ist nur möglich, wenn der Fall juristisch abgeschlossen ist. Auch Fallbesprechungen zwischen Gggfon und der Kantonspolizei ohne die meldende Person sind möglich.
- Im Jahr 2023 gingen laut Gggfon 16 Meldungen im Zusammenhang mit Racial Profiling ein, wovon zehn die Kantonspolizei betrafen. Ausgehend von diesen Meldungen seien zwei Fallbesprechungen geplant. Sie sollen dieses Jahr stattfinden. In früheren Jahren waren es jeweils zwischen sechs und 18 Meldungen jährlich. Seit 2019 fanden insgesamt vier Fallbesprechungen statt.
- 2013 wurde ein Informationsflyer zu Polizeikontrollen entwickelt. Er richtet sich an potentiell Betroffene von Racial Profiling und informiert über Rechte und Pflichten bei polizeilichen Anhaltungen. Der Flyer liegt auch auf den Polizeiposten auf.
- Gemeinsam mit der Organisation «Swiss African Forum» besucht Gggfon Treffen und Veranstaltungen der Schwarzen Community, um über das Thema Racial Profiling zu informieren und sich auszutauschen. Seit 2019 fanden zehn solche Besuche statt. Bei vier war die Kantonspolizei dabei. Nach der Corona-Pandemie sei das Interesse der Community aber weniger ausgeprägt als davor. An sechs Workshops im Kompetenzzentrum Arbeit Bern und an einer Veranstaltung bei der Fachstelle für Migration wurde das Projekt «Dialog» vorgestellt.
- In den letzten 12 Jahren fanden drei grössere Foren zum Thema statt, an denen sowohl potentiell Betroffene als auch Mitarbeitende der Kantonspolizei teilnahmen. Das letzte Forum war im Jahr 2016 mit rund 30 Teilnehmenden.
Was auffällt: Verglichen mit dem Stellenwert, der ihm in offiziellen Erklärungen zugeschrieben wird, ist der Umfang des Projekts «Dialog» überschaubar.
Giorgio Andreoli, Teamleiter von Gggfon, entgegnet: «Angesichts des beschränkten Budgets haben wir viel herausgeholt.» Aber das Projekt «Dialog» dürfe auch nicht als Allheilmittel gegen Racial Profiling im Kanton Bern angesehen werden. «Es ist ein Ansatz, aber nicht die ganze Lösung für die Problemstellung», sagt Andreoli.
Täter-Opfer-Umkehr
Was auch noch auffällt: Der Dialog richtet sich vor allem an potentiell Betroffene von Racial Profiling. Die Polizei – als potentielle Täterin – ist selten Adressatin der Dialog-Bemühungen.
Dazu passt das neuste Vorhaben im Bereich «Dialog»: Ein 90-sekündiges Video, das Menschen ermutigen soll, Vorfälle von Racial Profiling zu melden. Es soll dieses Jahr veröffentlicht werden. Das Video richtet sich ebenfalls an die Schwarze Community. Mit dem Ziel, das Thema «für die betroffenen Menschen niederschwellig zugänglich zu machen».
«Es braucht es keinen Dialog mit der betroffenen Community, um gegen Racial Profiling vorzugehen.»
«Wir leisten Sensibilisierungsarbeit», sagt Giorgio Andreoli. Diese führe auch zu Perspektivenwechsel und besserem Verständnis bei der Polizei, etwa durch die Fallbesprechungen. Nur durch die Einbeziehung beider Parteien könne das Ziel erreicht werden, künftig weniger Diskriminierung zu erleben, sagter. Die Aus- und Weiterbildung von Polizist*innen gehöre nicht zum Projektauftrag von Gggfon.
Halua Pinto de Magalhães, SP-Stadtrat und Mitgründer des Berner Rassismus-Stammtisches, kritisiert diese Herangehensweise. «Das Projekt «Dialog» ist ein Feigenblatt. Und seine Inhalte sind höchst problematisch», sagt er. Das habe er auch in der Vergangenheit bei Debatten im Stadtrat bereits mehrfach betont.
Er sieht den Fokus auf die betroffene Community als eine Täter-Opfer-Umkehr. Also so, wie wenn man Frauen dazu auffordert, sich im Ausgang nicht freizügig zu kleiden, um sexuelle Gewalt zu vermeiden.
«Racial Profiling ist rechtswidrig», sagt Pinto de Magalhães. «Deshalb braucht es keinen Dialog mit der betroffenen Community, um dagegen vorzugehen. Sondern es braucht klare Regeln und ein rechtmässiges Verhalten der Polizei.» Von aktuellen Konzepten der Rassismusarbeit sei der Ansatz des Projekts weit entfernt. Bei Gemeinderat und Kanton fehle aber diese Einsicht.
«Zielführend und wirkungsvoll»
Giorgio Andreoli von Gggfon bestreitet eine Täter-Opfer-Umkehr. Diese Kritik sei ihm nicht unbekannt, sagt er. «Aber mit der Meldestelle geben wir Betroffenen von Racial Profiling eine Möglichkeit, sich zu äussern, wenn sie das wollen. Das soll sie bestärken», sagt er.
Sich melden könnten Betroffene auch ohne das Projekt «Dialog». Dieses sei nur ein kleiner Bestandteil der Arbeit von Gggfon, das als unabhängige Beratungs- und Informationsstelle bei Rassismus und Diskriminierung fungiere.
Auch die Stadt Bern und die Kantonspolizei weisen die Vorwürfe zurück. Beide erachten das Projekt «Dialog» als «zielführende und wirksame Massnahme».
«Der politische Wille für griffige Massnahmen fehlt in Bern seit vielen Jahren.»
Die Kantonspolizei werde durch das Projekt in die Verantwortung genommen, schreibt die städtische Sicherheitsdirektion. Die Stadt wolle diesen Ansatz auch in Zukunft weiterverfolgen.
Die Kantonspolizei teilt mit, Gggfon biete niederschwellig fachliche und persönliche Unterstützung, insbesondere, wenn sich Personen nicht direkt an die Polizei oder Justiz wenden wollen. «Zudem erhalten wir dadurch direkte Rückmeldungen zur Wirksamkeit der von der Polizei präventiv getroffenen Massnahmen und können gemeinsam neue Ansätze entwickeln und besprechen», so die Kapo.
Seit zwanzig Jahren Einzelfälle
Müde von solchen Erklärungen ist GFL-Stadtrat und Rechtsanwalt Michael Burkard. Er beschäftigt sich als Politiker seit langer Zeit mit dem Thema Racial Profiling. Bereits in den 1990er Jahren war er Vorstand des Vereins «Colours», der sich als Berner Stimme für People-of-Colour etablierte. «Es löst einen gewissen Unmut aus, seit zwanzig Jahren zu hören, dass das Problem nicht existiere, und wenn, dass es sich um Einzelfälle handle», sagt Burkard.
Um ein strukturelles Problem zu erkennen, müsse man Fälle sichtbar machen. Zum Beispiel mit statistischem Erfassen von Kontrollen und einem Quittungssystem, wie es in Bern 2018 abgelehnt wurde – in England aber beispielsweise gängige Praxis ist. «Weshalb sollte sich Bern hier nicht an ‹Best Practices› orientieren?», sagt er. Dasselbe gelte für die Forderung einer unabhängigen Ombudsstelle.
«Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat der Schweiz jetzt aufgezeigt, dass sie ihre Hausaufgaben nicht gemacht hat», sagt Burkard. «Lippenbekenntnisse reichen nicht. Aber der politische Wille für griffige Massnahmen fehlt in Bern seit vielen Jahren.»