Räucherstäbchen und Lacklederstiefel
Mit «Hänsel & Greta & The Big Bad Witch» zeigen Bühnen Bern ein Stück von Kim de l’Horizon, Autor*in der Stunde. Unterhaltung und Verwirrung sind garantiert.
Es sind aufregende Tage für Kim de l’Horizon. Am Dienstag wurde der Debütroman «Blutbuch» für den Deutschen Buchpreis nominiert, am Mittwoch für den Schweizer Buchpreis. Und am Donnerstag stieg die Premiere von de l’Horizons Theaterstück «Hänsel & Greta & The Big Bad Witch» bei Bühnen Bern im Vidmar 2.
Als «Klimastück ohne Klima» wird es auf der Website von Bühnen Bern beworben. Warum, ist rasch klar: Die Erde ist bereits untergegangen. Trotzdem stellt sich Greta (Lucia Kotikova) dem Versuch, die Erde zu retten. Diesen Widerspruch muss das Publikum aushalten, um sich dem Theaterabend öffnen zu können.
Greta und ihr Bruder Hänsel (Viet Anh Alexander Tran) leben in einer Welt (die bereits untergegangen ist?), in der die Menschen um fünf Uhr aufstehen, um joggen zu gehen und Yoga zu machen. Darauf folgt ein zwölfstündiger Arbeitstag. Burnout-Gefahr besteht keine, da alle Menschen «vollgepflanzt» sind mit «Vitalin». Die Droge macht sie arbeitswütig und wächst an allen (un)erdenklichen Orten: Unter den Augenlidern, in Briefkästen, in «Arschlöchern von Politiker*innen».
Der grosse Hunger treibt die Geschwister an den Ort, wo The Big Bad Witch (Genet Zegay) lebt. Die Hexe trägt kniehohe Lacklederstiefel mit Bleistiftabsätzen und ein glitzerndes Netzkleid, dessen Strickmuster ebenso als Spinnweben wie als Küchenvorhang durchgehen könnte (Kostüme: Shayenne Di Martino).
Bereits an dieser Stelle zeigt sich die grenzenlose Vorstellungskraft von Autor*in Kim de l’Horizon. Ein weiteres Beispiel ist die vierte Figur (Julius Engelbach), die nacheinander sechs verschiedene Rollen darstellt: Buche; Ein Mensch, das von da nach dort geht, ohne die Erde zu retten; Vronis; Das Schnegel; schllmrffffrSteinfresserschneckensteinschmätzer; Die Echte-Lungenflechten-Grünalge.
Kombiniert mit dem Sprachgefühl, das zu eigenartigen, lautmalerischen Wortkreationen führt, entsteht daraus ein Spielfeld, das weit entfernt des Alltäglichen liegt. Das Theater erscheint als einzig passende Herberge.
Die Hexe fuchtelt mit einem Räucherstäbchen, dessen Duft bis zum Publikum strömt.
Anders als bei der Oper «Sycorax», die eine Woche vorher bei den Bühnen Bern uraufgeführt wurde, existiert zu diesem Stück kein Leporello, das Handlung und Hintergrund erklärt. Das Publikum ist auf sich allein gestellt, um sich aus den szenenhaften Darbietungen eine verständliche Geschichte zu basteln. Denkfreude und Fantasie sind nötig dafür. Wer nicht gerne die Orientierung verliert oder Uneindeutigkeiten abgeneigt ist, besucht besser ein anderes Theaterstück.
Immer wieder sprechen Figuren parallel. Oft schreien sie – für sich, oder einander an. Einmal fuchtelt die Hexe mit einem Räucherstäbchen, dessen Duft bis zum Publikum strömt. Blau-violettes Discolicht zündet über die Bühne, während Technomusik erklingt und die Figuren dazu tanzen. Mal mit einem Pilzhut, mal mit einem Rabenkopf oder in schwarz-glänzender Lacklederkluft oder einem Kleid aus flatternden Stofffetzen.
Kurz vor Ende der Vorstellung taucht jene Alge auf, die offenbar die Erde retten kann. Aber ist die Erde nicht schon untergegangen? Wie am Anfang dominiert auch am Schluss die Verwirrung. Erscheint die Erdrettungslösung erst, wenn es bereits zu spät ist? Übertragen auf die Realität: Wenn bereits alle Klima-Kipppunkte überschritten sind? Und ist einem zu diesem Zeitpunkt tatsächlich zum Feiern zumute wie den Figuren auf der Bühne?
Fragen über Fragen. Keine schlechte Bilanz für ein Stück, das nie langweilt, aber durch die zeitweise Reizüberflutung und den Logikmangel überfordern kann.
Wer das Universum von Kim de l’Horizon zeitsparend beschnuppern will, ist gut aufgehoben an diesem 75-minütigen Theaterabend. Die 336 Seiten von «Blutbuch» zu durchwälzen dauert zweifellos länger.