Raum voller Erinnerungen

«Wann ist man an Ungerechtigkeit mitschuldig?» und «wie läuft die Wahrheitsfindung im Asylprozess?» Diese Fragen greift das Stück «Neutralisiert» anregend und kunstvoll auf.

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Weniger ist mehr: Das beweist Zarina Tadjibaeva in «Neutralisiert». (Bild: Zoé Aubry)

Wer gestern Abend leicht verspätet den Saal des Schlachthaus Theaters betrat, musste in den obersten Reihen Platz nehmen. Der Saal war bis zum letzten Platz gefüllt: Die Menschen waren der Verlockung gefolgt, das Stück «Neutralisiert» von Zarina Tadjibaeva und Julia Skof zu sehen. Die beiden Frauen konzipierten das Stück aus den gemeinsamen Erinnerungen an ihre Arbeit beim Staatssekretariat für Migration (SEM), bei dem Tadjibaeva als Dolmetscherin und Skof als Hilfswerksvertretung und Protokollführerin arbeitete. Unter der Regie von Skof ist so ein Stück entstanden, das ein zynisches Bild des Schweizer Asylwesens zeichnet.

Kein Raum für Widersprüche 

Während das Publikum vor Aufführungsbeginn noch plaudert, strömt langsam weisser Rauch von der Bühne hinüber in die Reihen der Zuschauer*innen. Blaues, gedämpftes Licht und sanftes Flüstern erfassen den Raum und überlassen ihn dann abrupt einer gespannten Stille. Jäh gebrochen wird diese von den Worten: «Gibt es irgendetwas, was Ihnen ganz speziell in Erinnerung geblieben ist, aus diesem Raum?» Es ist eine Vorahnung darauf, was dieses Stück besonders auszeichnet: Die Anatomie der Erinnerung. 

Unsere Erinnerungen sind flüchtig, lückenhaft. Manchmal wandeln sie sich, manchmal sind sie widersprüchlich. Sie vermischen sich mit Geschichten und Erinnerungen anderer. Diese Ambivalenzen werden im Selbstporträt der Dolmetscherin immer wieder durch lyrische Sequenzen verdeutlicht. Und sie stehen im Kontrast zur Art und Weise, wie das Stück das Asylsystem inszeniert: Als kalte Institution, die Lücken und Widersprüche in der Erinnerung sucht, um Asylgründe abzulehnen. 

Überspitzung bis zur Absurdität

Das Bühnenbild (Raum, Kostümbild: Claudia Tolusso): schlicht. Zu sehen sind drei Leinwände, drei Stühle und ein Tisch. Zarina Tadjibaeva tritt im frechen blauen Trainer mit rosa Streifen auf (Kostüm: Caroline Landolt). Zackig erklärt sie dem Publikum, was man von ihr als Dolmetscherin erwartet: Transparenz, Integrität, Genauigkeit, und vor allem: Neutralität. Das grenzt an menschliche Unmöglichkeit, wenn man sich die Szenen vor Augen führt, die darauf folgen. Jedes Gespräch läuft gleich ab. Eine Person, die einen Asylantrag stellt, eine Person, die die Anhörung durchführt, und Tadjibaeva, die dolmetscht. Auf jeder der drei Leinwände ist nun Tadjibaeva  zu sehen, wie sie diese verschiedenen Rollen spielt. 

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Tadjibaeva ist Antragstellende, Anhörende und Dolmetscherin zugleich. (Bild: Zoé Aubry)

Die Dialoge sind geprägt von der roboterartigen Repetition der Standardverfahren seitens Behörden und den individuellen und emotional aufwühlenden Erfahrungen der Antragstellenden, wobei auf diese kaum eingegangen wird. Die Gespräche muten absurd an: «Wie verstehen Sie die Dolmetscherin?»  wird gefragt. «Gut!» antwortet die Antragsstellerin auf Deutsch. «Bitte antworten Sie in Ihrer Sprache», kommt zurück. «Aber ich spreche fliessend Deutsch», entgegnet die Antragsstellerin. Es wird entgegengehalten: «Wir müssen die Anhörung in Ihrer Sprache durchführen, damit Sie alles sagen können.» 

Solche Situationen, in denen die Antragstellenden vor vollendete Tatsachen gestellt werden, kommen immer wieder. An einer anderen Stelle etwa wird einem Kind das angegebene Alter nicht geglaubt. Und weil es keinen Beweis dafür hat, wird es zwei Jahre älter gemacht.

«Ich war neutralisiert» 

Darüber, was solche Erfahrungen mit ihr gemacht haben, sagt Tadjibaeva: «Ich war neutralisiert. Eingesperrt. Die Tür war zu.» Die gefühlte Ausweglosigkeit bedrückt. Auch durch künstlerische Elemente – etwa in Videosequenzen (Video, Animation: Tillo Spreng, Joerg Hurschler), die hin und wieder auf den Leinwänden abgespielt werden oder durch schaurige Töne (Komposition, Sound: Franziska Bruecker) – kommt ein Unwohlsein auf. Standardsätze, die den Antragstellenden von der Behörde aufgetischt werden, aufgesetzte Empathie im Umgang mit Menschen, die traumatische Erfahrungen gemacht haben oder etwa rassistische Diskriminierung verstärken diesen Eindruck. 

Systemkritik

Das macht nachdenklich. Insbesondere weil es um Mechanismen geht, die durch Gleichbehandlung Gerechtigkeit herstellen sollten. Tadjibaeva kritisiert «das System» und verwendet dabei Ausdrücke wie «Habitus» oder «epistemische Gewalt». Es sind Begriffe, die Sozialwissenschaftler*innen entwickelten, um normalisierte und deshalb verinnerlichte Prozesse und Situationen der Ungerechtigkeit zu beschreiben. Gruppendynamiken und unterschiedliche Machtverhältnisse spielen dabei eine zentrale Rolle. So lässt sich «Neutralisiert» nicht als moralischer Rant verstehen, der sich gegen die Mitarbeiter*innen des Schweizer Asylsystems richtet, sondern als Kritik auf der Metaebene. Trotzdem mangelt es dem Stück nicht an konkreten Beispielen, weshalb Menschen, denen diese theoretischen Begriffe nichts sagen, der Vorstellung nicht fernbleiben müssen. 

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Videos, die glänzende, pulsierende Formen zeigen, sorgen für einen unheimlichen Eindruck. (Bild: Zoé Aubry)

Anders als der Titel vermuten lassen würde, ist das Stück keineswegs neutral. Es bezieht klar Haltung. Fast scheint es, als müsste Tadjibaeva nach all der erfahrenen Ungerechtigkeit nun Druck ablassen, indem sie sich entneutralisiert. Sie räumt Raum ein für die Erinnerungen und Stimmen der Asylsuchenden, denen nicht richtig zugehört wurde. Die frühere Dolmetscherin funktioniert nun als Sprachrohr. So sagt sie an einer Stelle: «Mein Gesicht besteht aus 1000 Gesichtern.» 

Tadjibaeva, die während der Aufführung viel Text vorträgt und diesen immer wieder mit sanften Gesangs- und Tanzeinlagen unterlegt, schafft es,  eine grosse Vielfalt und Tiefe auf die Bühne zu bringen. Und immer wieder erntet sie für ihre zuweilen verspielte und humoristische Darstellung Lacher aus dem Publikum. «Wer kann sich noch an alle Details erinnern?» fragt Tadjibaeva zuletzt ins Publikum. Und meint damit auch: Können wir Erinnerungen als Fakten behandeln? Diese Fragen spielen auf das Verfahren der Anhörungen an und zeigt deren eigene Widersprüchlichkeit auf. Tadjibaeva bringt damit – wie sie selbst anmerkt – zwar nicht die Lösung des Problems, aber sicher Anstoss für Reflektion. 

Weitere Vorstellungen: Do, 3.10., Fr, 4.10., jeweils 20.00 Uhr, Schlachthaus Theater.

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