Eine Nacht im Theater
Das Stück «Ojo d’oro» in der Grossen Halle spürt der Vergangenheit nach. Und nimmt das Publikum auf eine geheimnisvolle Reise mit. Wer will, kann sogar dort übernachten.
Wie ein grosser Knoten sind die weiss gekleideten Menschen ineinander verschlungen. Die Schauspieler*innen räkeln sich und purzeln langsam unter dem durchsichtigen Vorhang hervor. Mitten ins Publikum hinein. Manche Zuschauer*innen müssen zur Seite weichen, um der Szene Platz zu machen. Denn «Ojo d’oro», das Stück, das die Theatergruppe Vor Ort in der Grossen Halle in der Reitschule performt, findet nicht auf einer klassischen Bühne statt, sondern auf der ganzen Hallen-Fläche. Und die Zuschauer*innen müssen mit dem Stück Schritt halten.
Der Geruch von Weihrauch in der Luft und schummriges, blaues Licht sorgen für eine geheimnisvolle Stimmung. Diesen Eindruck unterstützen die einander gegenüberliegenden Vorhänge, einer weiss, einer schwarz, die mit Wind bespielt werden (Kostüme und Bühne: Heidy-Jo Wenger). Während sich die ineinander verknoteten Körper langsam voneinander lösen und ihre eigenen Wege gehen, bricht die Stille: Erst Geflüster, dann Rufe, Stimmengewirr, Geräusche von allen Seiten und hektisches Gewusel.
Dumpfe Schläge und das Donnern von vibrierendem Blech prallen auf sanfte, hohe Töne und kreieren eine aufgeregte Soundkulisse (Musik: Moritz Alfons). Ein Bäcker ackert sich an seinem Teig ab, ein Schneider bemüht sich mit seinem Stoff. Alle in ihren eigenen Monolog vertieft. «Hanspeter?» ruft es aus der einen Richtung. Und weiter hinten ertönt: «I steue dr so viu Chind uf d Wäut wid wosch, aber i wott go schaffe!».
Als Zuschauer*in weiss man gar nicht mehr wohin schauen und hören, überall findet etwas statt. Doch die Gleichzeitigkeit und Vielstimmigkeit verebben jäh, als sich plötzlich alle um den künstlerisch gestalteten Baum in der Mitte versammeln: der Stammbaum.
Goldene Augen blicken tief
Der Zugang zur eigenen Familiengeschichte steht im Mittelpunkt der Aufführung unter der Regie von Mathis Künzler. Die Theatergruppe Vor Ort gibt Einblick in die Geschichten ihrer eigenen Ahn*innen und betont anfangs zugleich: «An dieser Geschichte ist alles wahr – ausser die Wahrheit.»
So unternimmt «Ojo d’oro» einen Balanceakt zwischen Realität und Fiktion und hält, was der Titel verspricht: «Goldenes Auge» so lautet die Übersetzung des Ausdrucks aus dem Spanischen, der auf das Übersinnliche anspielt.
Während der Darstellung wechseln die Schauspieler*innen ihre Rollen: mal sind sie sich selbst, mal ihre Vorfahren. So fragt sich Dominique Jann über seinen Urgrossvater, der erst Stalin-, dann Mao-Fan war und zudem militanter Pazifist: «isch ds iz guet oder schlächt?» Und findet dann: «I weisses nid. Uf jede Fau isches so gsy.»
In der vielstimmigen Aufführung wechselt sich Schweizerdeutsch mit Französisch, Spanisch oder Hochdeutsch ab – je nachdem, wo die Ahn*innen sich aufgehalten haben. Und auch persönliche Objekte werden gezeigt. Etwa ein Walfischknochen aus Island, der für alles Vergessene steht. Oder der Reisekoffer des Grossvaters, den er mit nach Südamerika nahm. Und es wird eingeordnet. So findet Sonja Riesen, der koloniale Blick in den Tagebüchern ihres Grossvaters störe sie. Doch zeigt sie Verständnis: «Hüt stömer amne andere Ort – ds ghört derzue.»
Ein Spiel mit der Wahrnehmung
Es sind wichtige Fragen, die das Stück aufwirft: Wer sind wir, woher kommen wir und was bleibt? Doch Antworten darauf muss das Publikum für sich selbst finden. Denn das interpretationsoffene Stück wird teilweise gar bis ins Unerklärbare gesteigert. So lässt sich eine Szene, in der Dominique Jann den Schatten von Anna Blöchlinger wegzuschrubben scheint, bis diese in ein Loch klettert und dort eine Züpfe hervorholt, an der sich beide freuen, kaum auflösen. Ob das eine Geburt gewesen sei, fragt sich eine Zuschauerin. Oder hat das etwas mit dem Christentum zu tun, rätselt eine andere. Klar sagen kann man es nicht. Doch das ist beabsichtigt: «Wir spielen bewusst mit dieser Abstraktheit», sagt Blöchlinger später im Einzelgespräch.
Auch dass man mit Blöchlinger und den anderen Schauspieler*innen nach der Aufführung noch plaudern kann, ist gewollt. Sie haben noch nicht Feierabend, sondern begleiten die verbleibenden Zuschauer*innen zu ihren Schlafplätzen und erzählen am Bett Gutenacht-Geschichten.
Schnaps oder Tee?
So bietet sich um Mitternacht ein seltener Anblick: Während die meisten Zuschauer*innen heimgehen, beziehen andere ihr Bett. Etwa ein Viertel der Anwesenden verbringt die Nacht in der Halle. Das Übernachten wird als Teil der Aufführung gehandelt und soll ermöglichen, im Traum zur eigenen Geschichte vorzudringen. «Schnaps oder Tee?», ruft eine Mitarbeiterin der Halle, die mit einem Wägeli vorbeifährt. Wer will, bekommt einen Schlummertrunk.
Die Stimmung erinnert an ein Ferienlager. Während manche um das «Lagerfeuer» aus Kinderzimmer-Lampen sitzen und sich über das Stück unterhalten, sehen sich andere die Inventur genauer an, plaudern mit der Vor-Ort-Crew oder putzen bereits die Zähne. Als am nächsten Morgen früh um 07 Uhr sanfte Musik die Letzten weckt, hat man beinahe Mühe, sich aus der Geschichte zu lösen. Denn man ist selbst Teil davon geworden.
Dass man so tief in das Stück eintauchen und den Schauspielenden so nah kommen kann, zeichnet es aus. Denn die Nacht im Theater ermöglicht ein anderes Erleben als ein klassischer Theaterbesuch. «Ojo d’oro» ist belebte Geschichte und zeigt: Es ist nicht alles immer schwarz oder weiss – und was wir aus und mit unserer Geschichte machen, haben wir selbst in der Hand.
Weitere Vorstellungen: Mo, 12.8., Mi, 14.8., Fr 16.8., Mo, 19.8. und Di 20.8., immer 22.00 Uhr, Grosse Halle, Reitschule.