Rechtsvortritt erleichtert das Leben
An Quartierkreuzungen wird Philosophie-Kolumnist Christian Budnik zum Regelfetischisten. Hier schreibt er, warum Höflichkeit beim Rechtsvortritt fehl am Platz ist.
Wie es sich für einen Hauptstädter gehört, bewege ich mich oft tagelang nicht aus dem Quartier heraus. Auf dem Velo ist dann nur der Rechtsvortritt zu beachten. Die eine oder andere Ampel vielleicht noch. Das war’s. Eigentlich einfach. Aber dann: Ich fahre auf eine Kreuzung zu. Schaue nach rechts. Kommt da was? Ich bremse ein wenig. Kommt da was? Ja, es kommt.
Ein Auto. Ich sehe den Lichtschein. Ich sehe die Scheinwerfer. Ich sehe den Rest. Ich komme zum Halten. Ich halte. Ich schaue. Das Auto kommt zum Halten. Es hält. Es hat Vortritt. Es gilt ja Rechtsvortritt, und es kommt von rechts. Also kann es fahren.
Aber es fährt nicht. Es bleibt stehen. Soll ich etwa fahren? Warum fährt es nicht? Ich werde hier nicht losfahren. Nachher fahre ich los, und es fährt auch los. Das Auto hat Vortritt. Soll das Auto doch fahren. Ich fahre erst, wenn es weg ist.
Also warte ich. Das Auto wartet auch. Wir warten. Manchmal ist Blickkontakt möglich. Dann lädt mich die Person, die das Auto fährt, mit einer Geste dazu ein, die Kreuzung zu überqueren. Manchmal trete ich in die Pedale und überquere die Kreuzung. Manchmal schüttle ich den Kopf und lade die Person am Steuer ihrerseits dazu ein, die Kreuzung zu überqueren. Was dazu führt, dass sie losfährt. Oder auch nicht. Manchmal bleibt sie stehen und wiederholt ihre Geste. So geht es weiter, bis ich irgendwann aufgebe und die Kreuzung überquere. Obwohl ich von links komme. Manchmal fahren wir im selben Augenblick los.
Bitte keine Rücksichtnahme
Ich übertreibe natürlich. Aber nicht masslos. Die Situation kommt gefühlt dreimal in der Woche vor. Es ist emotional kein Problem für mich, damit umzugehen. Es gibt ja Schlimmeres. Ich ärgere mich nicht über die Verzögerung. Nur manchmal über mich selbst, wenn ich darauf beharre, auf der Kreuzung stehen zu blieben. Lediglich weil ich offiziell keinen Vortritt habe. Wie ein kleinkarierter Regelfetischist.
Es ist ja egal, könnte man denken. Und sich etwas entspannen. In anderen Kontexten beklage ich gebetsmühlenartig den Verlust von Empathie und zwischenmenschlicher Interaktion. Hier an der Quartierkreuzung ist es mir dann plötzlich zu viel. Was sollte denn schlimm daran sein, dass Verkehrsteilnehmende aufeinander Rücksicht nehmen und beim Überqueren von Kreuzungen höflich zu sein versuchen? Wenn sie sich in die Perspektive der anderen Verkehrsteilnehmenden versetzen? Wenn sie die besonders vulnerablen Velofahrer*innen bevorzugt behandeln möchten? Verkehrsregeln sind nicht in Stein gemeisselt. In Tempo-30-Zonen wird man ja wohl etwas selektiver damit umgehen können.
Mit Utilitarismus zu möglichst viel Netto-Glück
Verkehrsregeln sind auch keine moralischen Gebote, denen wir strikt zu folgen hätten. Ich bin kein Schuft, wenn ich jemandem den Vortritt lasse, obwohl ich selbst von rechts komme. Und dennoch kann eine Debatte aus der Moralphilosophie helfen zu verstehen, warum es nicht so einfach ist, die Rechtsvortritt-Regel von Fall zu Fall locker zu interpretieren.
Eine der wirkungsmächtichtigsten Theorien der Moral ist der Utilitarismus. Gemäss der klassischen Version dieser Theorie bemisst sich die Richtigkeit einer Handlung danach, inwiefern diese Handlung zum Glück in der Welt beiträgt. Anders gesagt: Man soll dafür sorgen, dass die eigenen Handlungen möglichst viel Glück oder möglichst wenig Unglück verursachen.
Kann ich entweder zwei Personen extrem glücklich oder zweihundert Personen mittelmässig glücklich machen, dann sollte ich Letzteres tun, weil so mehr Netto-Glück in der Welt erzeugt wird. Wenn ich unterwegs ins Kino an einem Unfall vorbeilaufe, dann sollte ich den Unfallopfern helfen, auch wenn ich deswegen auf den Kinobesuch verzichten muss – das Unglück, das ich dadurch erleide, ist nämlich weitaus kleiner als das Unglück, das den Unfallopfern bevorsteht, sollte ihnen niemand zur Hilfe kommen.
Entscheidungsnot
Intuitiv ist das alles sehr plausibel. Der Utilitarismus ist aber in anderer Hinsicht problematisch. Viele dieser Probleme lassen sich auf den folgenden Punkt runterbrechen: Es wird uns als moralischen Akteur*innen zu viel zugemutet.
Die erste Variante dieser Kritik ist eher praktischer Natur: Wie sollen wir es hinkriegen, in jeder Handlungssituation die verschiedenen Optionen, die uns offen stehen, miteinander zu vergleichen? Oft haben wir dazu ganz einfach nicht genügend Zeit!
Noch schwerer wiegt die zweite Variante: Von unseren Handlungen hängen jederzeit ganz viele Personen ab, die wir in unseren Entscheidungen berücksichtigen müssten, weil jede Handlung die Unterlassung einer anderen Handlung beinhaltet. Wenn ich mich frage, ob ich ins Kino gehen sollte, muss ich streng genommen alle alternativen Handlungen als relevante Optionen in Betracht ziehen. Zu diesen Handlungen werden immer auch solche gehören, die insgesamt zu mehr Glück in der Welt führen: Ich kann einer Obdachlosen helfen, eine Petition gegen den Klimawandel schreiben oder das Geld, das ich für das Kino-Ticket ausgegeben hätte, für einen guten Zweck spenden.
Keine Frage – das sind alles löbliche Handlungen. Das Problem ist aber, dass der Utilitarismus uns niemals erlaubt, ins Kino zu gehen oder einem anderen banalen Hobby nachzugehen, weil wir immer etwas anderes tun können, das moralisch gewichtiger ist.
Regeln als Alternative
Diese Probleme stellen sich für den Utilitarismus, wenn er – wie bisher geschehen – als ein Handlungsutilitarismus verstanden wird, der die Richtigkeit einer Handlung direkt an die Güte ihrer Folgen knüpft. An dieser Stelle haben Vertreter*innen eines Regelutilitarismus die folgende Alternative vorgeschlagen: Wir sollen nicht das tun, was jeweils die besten Folgen hat, sondern das, was von Regeln vorgeschrieben wird, deren Befolgung die besten Folgen hat. Kein grosser Unterschied, möchte man denken. Mitnichten.
Folgt man dem Regelutilitarismus, kann es sein, dass Handlungen moralisch geboten sind, die für sich genommen nicht unbedingt die besten Konsequenzen haben. Das hängt davon ab, ob diese Handlungen zu einer Regel gehören, die die besten Folgen nach sich zieht. Jetzt kann man dafür argumentieren, dass es die besten Folgen hat, wenn wir einer Regel folgen, nach der es erlaubt ist, dass man in einem bestimmten Rahmen einem Privatvergnügen nachgeht und zum Beispiel ins Kino geht, wenn man sich ansonsten aber auch darum kümmert, die Welt besser zu machen. Vielleicht wären dann mehr Leute motiviert, etwas Gutes für andere zu tun, als wenn von uns gefordert wird, dass wir uns jederzeit zugunsten fremder Menschen aufopfern.
Es dürfen nicht zu viele Ausnahmen erlaubt sein, weil ansonsten der Vorteil einer Orientierung an Regeln verloren geht.
Besonders deutlich ist der Vorzug des Regelutilitarismus, wenn man an das praktische Problem denkt, das ich eben angesprochen habe. Zeitliche Bedrängnis taucht hier nicht auf. Ich muss nicht mehr jederzeit ein Kalkül anstellen und Dutzende von verschiedenen Handlungsoptionen berücksichtigen. Es gibt ja Regeln, an die ich mich halten kann.
Die Theorie muss aber noch ergänzt werden: In seltenen Situationen kann nämlich das Befolgen einer Regel, die ansonsten zu den besten Konsequenzen führt, eine katastrophale Folge nach sich ziehen.
Nehmen wir mal an, dass es alles in allem zu den besten Folgen führt, wenn man nicht unbefugt die Grundstücke anderer Personen betritt. Und stellen wir uns nun vor, dass wir einer verunfallten Person nur dann effektiv helfen können, wenn wir über das Grundstück einer anderen Person laufen, um Hilfe zu holen. In so einem Fall würde das Befolgen der Regel zum Tod des Unfallopfers führen. Weil Vertreter*innen des Regelutilitarismus das nicht akzeptieren können, müssen hier Ausnahmeklauseln eingefügt werden.
Dabei muss man allerdings aufpassen. Es dürfen nicht zu viele Ausnahmen erlaubt sein, weil ansonsten der ganze Vorteil einer Orientierung an Regeln verloren geht und wir als moralische Akteure plötzlich wieder überfordert werden. Ein attraktiver Regelutilitarismus könnte sich so ganz leicht in einen problematischen Handlungsutilitarismus zurückverwandeln.
Schnell und sicher ans Ziel kommen
An dieser Stelle können wir zu unserem Ausgangsszenario zurückkehren. Der Strassenverkehr ist prädestiniert für eine utilitaristische Betrachtungsweise. Es ist sehr klar, was hier «nützlich» bedeutet: Wir wollen möglichst sicher und möglichst schnell an unser Ziel kommen.
In wenig dicht besiedelten Gebieten könnte man in der handlungsutilitaristischen Perspektive verharren und die Entscheidung darüber, was jeweils die optimale Balance aus Schnelligkeit und Sicherheit darstellt, jeder einzelnen Person überlassen. Es wäre geradezu albern, wollte man etwa eine Ampel an einem nur einmal im Monat befahrenen Waldweg anbringen.
In allen anderen Verkehrssituationen braucht es dagegen Regeln, deren Befolgung zu den besten Folgen im Hinblick auf Sicherheit und Schnelligkeit führt. Verkehrsteilnehmende müssten ansonsten zu viele Entscheidungen treffen. Wir wären damit sehr oft überfordert, weil unsere Aufmerksamkeit beim Auto- oder Velofahren ohnehin schon ziemlich beansprucht wird.
Schliesslich muss bedacht werden, dass nicht alle von uns gleichermassen kompetent sind, wenn es um die Einschätzung von Verkehrssituationen geht. Auch hier hat das Befolgen von Regeln die besseren Gesamtkonsequenzen, auch wenn es im Einzelfall zu suboptimalen Ergebnissen führen mag – so etwa, wenn wir mitten in der Nacht an einer roten Ampel warten.
Und genauso wie es für den Regelutilitarismus fatal wäre, wenn wir zu viele Ausnahmen für Regeln einführen würden, kann es zu unangenehmen Folgen führen, wenn wir uns bei der Rechtsvortritt-Regel zu viele Freiheiten herausnehmen. Ganz allgemein besteht das Problem darin, dass mit jeder Ausnahme die subjektiv wahrgenommene Verbindlichkeit einer Regel geschwächt wird. Genau diesen Effekt glaube ich bereits in unseren Quartiersstrassen beobachten zu können.
Der gut gemeinte Verzicht auf den Rechtsvortritt schwächt die antrainierten Quasi-Instinkte.
Wir verhalten uns zunehmend so, als wäre die Rechtsvortritt-Regel eine Art Empfehlung. Das ist sie aber nicht. Sie formuliert nicht, was in einer bestimmten Verkehrssituation schön wäre, sondern in welcher Reihenfolge Verkehrsteilnehmende über eine Kreuzung fahren sollen. Für Höflichkeiten aller Art gibt es dann noch Gelegenheit, wenn von allen Seiten jemand kommt.
Der Regelmechanismus erlaubt uns, an Kreuzungen nicht mehr nachzudenken. Wir können den Rechtsvortritt zu unserer zweiten Natur machen und an Kreuzungen mit den Gedanken woanders sein.
Der gut gemeinte Verzicht auf den Rechtsvortritt schwächt diese antrainierten Quasi-Instinkte und zwingt uns eine Umständlichkeit auf, wie ich sie eingangs karikiert habe. Ganz ehrlich: Manchmal weiss ich schon selbst nicht mehr, wer Vortritt hat und muss erst überlegen, wo rechts und wo links ist. Ich vermute, in vielen Fällen geht es den anderen Verkehrsteilnehmenden genauso. Die zaghaften Autofahrer*innen, die von rechts kommen, sich aber nicht über die Kreuzung trauen, sind da noch das geringere Problem.
Schlimmer ist, dass ich zunehmend nicht mehr das Gefühl habe, dass mich von links niemand über den Haufen fahren wird. Das ist nämlich eine andere Facette davon, dass wir unsere Rechtsvortritt-Instinkte verkümmern lassen. Ja, wir brauchen mehr Höflichkeit in unserem Alltag – aber an der Kreuzung im Quartier ist sie fehl am Platz.
Christian Budnik ist Philosoph. Er verbrachte seine ersten Lebensjahre in Polen, emigrierte dann mit seiner Familie nach Deutschland und lebt nun seit 15 Jahren in Bern.