Reliefs und Röhrenblick
Im Blindenmuseum in Zollikofen arbeiten die Hände. Die Ausstellung ist eine Einladung, den Tastsinn zu erkunden – bleibt aber in der Vergangenheit stecken.
Ein Museum besucht man meistens, um Exponate anzusehen. Die Augen arbeiten, die Hände pausieren – Gegenstände anzufassen, ist verboten. Das Blindenmuseum in Zollikofen wirft diese Gewissheiten über den Haufen.
Der Rundgang beginnt in einem Raum mit schwarzen Wänden und Stühlen. Sobald alle Besucher*innen Platz genommen haben, schliesst die Mitarbeiterin die Tür. Es ist stockdunkel. Selbst intakte Augen sind da aufgeschmissen. Für Notfälle wurden einige Besucher*innen mit einer Taschenlampe ausgerüstet.
Da startet das Hörspiel. Ein blindes Mädchen erzählt, wie sie von ihrem Bett in der Stadt Bern bis auf die Schulbank der Blindenschule, die gleich neben dem Museum liegt, gelangt. Kurz nach der Tagwache durch den sprechenden Wecker lauert das erste Hindernis: Der kleine Bruder hat seinen Klötzliturm an einem ungewohnten Ort aufgebaut. Die Zubereitung des Frühstücks läuft rund, alle Zutaten stehen am gewohnten Platz. Auf dem Weg zum Bahnhof wartet die nächste Herausforderung durch eine neue Baustelle. Mit Hilfe von Blindenstock, Gehör- und Geruchssinn (Brezelstand am Bahnhof!) und Mitmenschen findet das Mädchen den Weg zur S-Bahn.
Das Setting ist klug gewählt: Durch die Dunkelheit muss das Publikum eine Perspektive übernehmen, die jener von blinden und sehbehinderten Personen gleicht. Und zurückgeworfen auf den Hörsinn, liegt die Aufmerksamkeit ganz auf der Geschichte – niemand will sich die Blösse geben, einen Blick aufs leuchtende Smartphone zu werfen. Unter normalen Umständen eine fast schon unbewusste Handlung.
Auch nach dem Ende der Geschichte bleibt es dunkel. Via Handlauf an der Wand tasten sich die Besucher*innen – ausgebremst durch einige Hindernisse – zu einer Tür. Hinter dieser brennt wieder Licht, woran sich die Augen mit einigen Blinzelbewegungen erst gewöhnen müssen.
Den Bahnhof Bern ertasten
Ein Zeitstrahl entlang der Wand erzählt die Geschichte der Blindenpädagogik der letzten 200 Jahre. Auf den anderen drei Wänden tragen Regale Gegenstände aus dem Schulunterricht: Relief-Landkarten und -Globen, Braille-Schreibmaschinen, ein klingender Sportball und einen Holz-Frosch. Mit ungeübten Fingern über Kunststoff-Berge zu streichen oder den Bahnhof Bern zu ertasten fasziniert. Doch ohne die Unterstützung der Augen wäre es unmöglich, das Erfühlte zu benennen.
Der nächste und letzte Raum der Ausstellung bietet noch mehr Möglichkeiten, sich annähernd in die Position blinder oder sehbehinderter Personen einzufühlen. Da hängen zum Beispiel milchverglaste Brillen, mit denen Englisch-Lehrbücher gelesen werden können. Keine Chance. Selbst mit Hilfsmittel wie Lampen und Lupen. Bei einigen Brillen ist ein kleiner Punkt ausgespart, durch den das Auge scharf sehen kann. Sie simulieren den sogenannten Röhrenblick, wie er bei Netzhauterkrankungen auftreten kann. Die Lektüre ist damit möglich, aber anstrengend.
Blinde und sehbehinderte Menschen kommen in der Ausstellung auch persönlich zu Wort: In Videoporträts im Foyer und Hörporträts in einem Ausstellungsraum erzählen sie von ihren Berufswünschen (Rechtsanwältin), Hobbies (Reisen) und Aufreger über unsensible Mitmenschen («Wie viele Finger halte ich in die Luft?»).
Das Europäische Museumsforum hat das Blindenmuseum in diesem Jahr ausgezeichnet, weil die Ausstellung «sensorische und praktische Erlebnisse» ermögliche. Die Urkunde hängt im Goldrahmen im Foyer. Darunter hängen – ebenfalls in Gold gerahmt – die Gratulationsschreiben von Simonetta Sommaruga und Pierre Alain Schnegg.
Gegenwart und Zukunft fehlen
Die Ausstellung basiert vor allem auf der Sammlung von Museumsgründer und Blindenlehrer Theodor Staub (1864 bis 1960). Entsprechend alt ist das ausgestellte Material. Spannend wäre zu erfahren, wie die Blindenpädagogik der Gegenwart aussieht und welchen Einfluss die Digitalisierung auf den Alltag von blinden und sehbehinderten Menschen hat. Einzig eine kleine Tafel weist darauf hin, dass die Einführung des iPhone im Jahr 2007 ein «Meilenstein der Technikgeschichte» sei und seither laufend neue Apps speziell für blinde und sehbehinderte Personen entstünden.
Eine Aktualisierung der Ausstellung ist aber nicht geplant, schreibt Museumsleiterin Silvia Brüllhardt auf Anfrage der «Hauptstadt». Bei einem Budget von 160’000 Franken pro Jahr – bestehend aus Spendengeldern und Erlösen aus dem Ticketverkauf – liege das finanziell nicht drin. So bleibt nach dem Besuch der Kontrast zwischen der etwas antiquierten Ausstellung und ihrer modernen Hülle – der Neubau wurde Ende 2020 eröffnet – im Gedächtnis haften.
Wer aber die Einladung zu den taktilen Erkundungen annimmt und sich auf Lebenswelten mit weniger oder ohne Sehkraft einlässt, verlässt das Museum mit einem wertschätzenderen Blick auf und durch funktionierende Augen. Darin liegt die Stärke der Ausstellung.