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Schwitzen, leiden, besser werden. Aber wozu?

Das Theater Biel Solothurn zeigt mit «Neue Körper am Ende der Welt» ein Stück über Spitzensport. Biel mit der Nähe zu Magglingen ist der richtige Ort dafür – und das Theater die richtige Form.

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Das Theaterstück «Neue Körper am Ende der Welt» thematisiert die Schattenseiten des Spitzensports. (Bild: Theater Biel Solothurn (Tobs) / Joel Schweizer)

Wer selbst viel Sport gemacht hat, fühlt sich vom Bühnenbild (Martin Hickmann) sofort abgeholt. Der Turnhallenboden ist mit jener Art Teppich ausgelegt, auf dem Gymnastinnen turnen. Auf einer Seite steht eine Holzbank, auf der anderen ein Spind, dazu Trinkflaschen, Springseile. Und zentral im Raum platziert ist drohend eine Waage. 

Das sich erinnernde Gehirn fügt Gerüche hinzu: von Turnmatten, von Wasser aus Bidons, von Umziehkabinen. Vielleicht auch von Angstschweiss. 

Das Thema Sport findet selten auf Theaterbühnen statt. Zu getrennt sind diese Welten: Es ist entweder Kultur oder Sport. Das eine ist Kunst, das andere messbare Leistung ohne tiefere Message. Und oft können Anhänger*innen des einen mit dem anderen nicht so viel anfangen. 

Dass Regisseurin Marion Rothhaar beides verbindet, ist bereichernd. Denn die Welten sind gar nicht so weit voneinander entfernt. 

Im Fall von Marion Rothhaar liegt die Verbindung in ihrer Biografie begründet. Die 52-Jährige arbeitet seit zwanzig Jahren als Regisseurin und Dramaturgin. Als Kind und Jugendliche hat sie eine Karriere als Spitzensportlerin gemacht. Sie war mehrfache Deutsche Meisterin in Rhythmischer Sportgymnastik. 1988 nahm sie als 15-Jährige an den Olympischen Spielen in Seoul teil. Rothhaar lebt seit über 10 Jahren in Biel.

Mit dem Stück «Neue Körper am Ende der Welt» behandelt Rothhaar ihre eigene Vergangenheit als Rhythmische Gymnastin und den Spitzensport an sich. Als Ausgangspunkt dient das Nationale Sportzentrum Magglingen oberhalb von Biel. Dort trainieren die besten Sportler*innen der Schweiz, am «Ende der Welt» – so heisst die Magglinger Sporthalle. 

Und von dort berichteten 2020 acht ehemalige Kunstturnerinnen und Rhythmische Gymnastinnen im Magazin des Tagesanzeigers von systematischer Erniedrigung sowie psychischer und physischer Gewalt durch Trainer*innen. Die sogenannten «Magglinger Protokolle» erschütterten die Schweizer Sportwelt. Auch darauf stützt sich das Stück von Marion Rothhaar und Autorin Regina Dürig.

Starke Körper, starke Sprache

Auf der Bühne stehen die beiden Schauspieler*innen Rahel Jankowski und Gabriel Noah Maurer, die Bieler Gymnastin Alina Buchs (abwechslungsweise mit Shana Bundeli) sowie Regisseurin Marion Rothhaar selbst. 

Jankowski und Maurer reflektieren in der poetischen Sprache der Bieler Autorin Regina Dürig über Leistung und vermeintliche Perfektion, über Druck, Gewalt und Zukunftsängste. Dazu verausgaben sie sich in Workouts zur strengen Trillerpfeife der Trainerin, bekommen Medaillen umgehängt oder beeinflussen penibel und zwanghaft jedes Gramm ihres Körpergewichts. Sie verkörpert eine Athletin, er ist mal Athlet, mal Sportfunktionär oder Journalist. 

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Rahel Jankowski und Gabriel Noah Maurer kommen auf der Bühne ganz schön ins Schnaufen. (Bild: Theater Biel Solothurn (Tobs) / Joel Schweizer)

In den Auftritten der Gymnastin Alina Buchs wird die Rhythmische Gymnastik direkt erfahrbar – eine Sportart, die in ihrer Kombination von Akrobatik, Tanz und der Beherrschung von Handgeräten wie Keulen, Bändern oder Bällen unglaublich artistisch ist. Sie erfordert Körperbeherrschung, Koordination, Rhythmus und enorme Beweglichkeit. Die meisten Gymnastinnen beginnen im Alter von fünf oder sechs Jahren. Der Trainingsaufwand, um die Sportart auf hohem Niveau zu betreiben, ist ausserordentlich hoch. Rhythmische Gymnastik ist eine der wenigen Sportarten, die bis heute an Wettkämpfen nur von Mädchen und Frauen ausgeübt wird. 

In einer berührenden Szene betrachtet Marion Rothhaar Aufnahmen von sich selbst an den Olympischen Spielen, wie sie eine übermenschlich anmutende Kür auf den Teppich wirbelt. Bei einer Körpergrösse von 1.42 Metern wog die 15-Jährige damals 33 Kilogramm. «Ich habe mich verdoppelt», sagt die erwachsene Rothhaar auf der Bühne, wohl in Bezug auf ihr Körpergewicht. Dann macht sie eine Aussage, die schockiert: Erinnerungen an Olympia, sagt sie, habe sie heute keine mehr. Es blieben ihr nur Fotos von sich, posierend mit Sportstars wie der Sprinterin Florence Griffith-Joyner. Aber eigene Empfindungen aus der Zeit in Seoul hat Rothhaar wohl verdrängt.

Wenig Neues, aber spannend inszeniert

Das Stück ist eine persönliche Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit als Spitzensportlerin und eine kritische Betrachtung unserer Leistungsgesellschaft. Die Schattenseiten davon werden intensiv verhandelt: psychischer Druck, Essstörungen, verlorene Kindheit, Athlet*innen als Marionetten für das Prestige von Nationalstaaten, sexuelle Übergriffe. Auch der Frage: Wer bin ich, wenn ich aufhöre?, geht Rahel Jankowski in einem Monolog eindringlich nach.

Indem sich das Stück inhaltlich stark auf die vor mehr als vier Jahren veröffentlichten Magglinger Protokolle stützt und teilweise auch daraus zitiert, bleibt es allerdings auf Themen und Fakten fokussiert, die in dieser Form schon lange bekannt sind. Das ist wohl auch damit zu erklären, dass das Stück in der jetzigen Form eine Weiterentwicklung von früheren Arbeiten Marion Rothhaars zum gleichen Thema ist und damit Produkt eines längeren Prozesses. 

Trotzdem gehen dabei gewisse aktuelle Diskussionen verloren: Was ist geschehen nach der Empörung durch die Magglinger Protokolle? Wie kann zeitgemässer Spitzensport aussehen, sofern es ihn gibt? Was hat sich verändert seit 2020, und was seit Rothhaars eigener Karriere in den 1980er-Jahren? Gibt es nicht auch neue Generationen von Spitzenathletinnen, die nicht länger unfreie, unterernährte Mädchen sind, sondern selbstbestimmte, starke, einflussreiche Frauen (wie etwa US-Kunstturn-Superstar Simone Biles)?

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Die 52-jährige Marion Rothhaar schaut sich im Stück ihren eigenen Olympia-Auftritt als 15-Jährige an. (Bild: Theater Biel Solothurn (Tobs) / Joel Schweizer)

Bereichernd ist, dass die Rhythmische Gymnastik – und damit der Spitzensport – mit den Live-Auftritten von Alina Buchs und Shana Bundeli auch in ihrer Schönheit gezeigt werden. Und all das inszeniert im Theater – einer Welt, die sich genau wie der Spitzensport fragen muss, wie viel Streben nach Perfektion noch gesund ist. Und wie viel Rücksicht auf das menschliche Wohlbefinden es braucht in der Suche nach der perfekten Inszenierung. 

So bleibt am Schluss für die Zuschauerin, die staunend anmutige Gliedmassen betrachtet, die Frage offen: Wie gehen wir Menschen konstruktiv mit der Bewunderung um, die wir zweifellos haben für perfekte Körper, perfekte Bewegungen, die vollendete Leistung?

Das Theater würde sich wunderbar eignen, um auch in weiteren «Sportstücken» über solche Themen zu reflektieren. Gerne noch mehr Kombination der beiden Welten!

«Neue Körper am Ende der Welt – ein Sportstück» von Marion Rothhaar und Regina Dürig läuft bis am 16. März im Stadttheater Biel, und bis am 5. April im Stadttheater Solothurn.

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