Wo Milena Moser Wein trinkt und Rafik Schami Geburtstag feiert

Diesen Monat feiert die Buchhandlung Stauffacher ihr 70-jähriges Bestehen. Das Berner Traditionshaus hat mit seinen Angestellten ein trotziges Stück Eigenständigkeit bewahrt, obwohl es schon vor Jahren aufgekauft wurde.

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Geschäftsführer Roland Baumberger und Event-Verantwortliche Carola Klein in ihrem Reich. (Bild: Jonathan Liechti)

Eigentlich lehnt Gabriel Vetter gerade alle Veranstaltungsanfragen ab. «Ausser bei Stauffacher», erklärt der Komiker und Kolumnist an diesem Dienstagabend einem kleinen Publikum. «Im Stauffacher trete ich sofort auf!»

Es ist der 18. Mai, im ersten Stock der Buchhandlung Stauffacher wurden die Büchertische weggeschoben und durch Stuhlreihen ersetzt. Nach seinem Auftritt wird Gabriel Vetter zwischen den Buchhändlerinnen im Café Littéraire sitzen, Wein trinken und eine Palette verschiedener Salate essen, deren Vorbereitung Carola Klein, leitende Event-Verantwortliche, den ganzen Tag gekostet hat. Er wird sich bei ihr für den Aufwand bedanken und sie wird sagen: «Das muss so sein! Wir sind doch hier im Stauffacher!»

Tradition und Unabhängigkeit

Obwohl Stauffacher seit 22 Jahren der Thalia Bücher GmbH gehört, hängt an der Buchhandlung bis heute ein starkes Gefühl von Tradition und einer Unabhängigkeit, die sie so schon längst nicht mehr besitzt. Diesen Monat feierte Stauffacher mit einer zweiwöchigen Veranstaltungsreihe das 70-jährige Jubiläum. Ein kleiner Triumph über den Onlinehandel und Preiserosionen; über die Vereinheitlichung von Büchertischen und die Schliessung von Ladenflächen im ganzen Land. Ein persönlicher Erfolg für Carola Klein und ihren Kollegen, Geschäftsführer Roland Baumberger. Die beiden wurden 1992 und 1989 von Gründersohn Christian Stauffacher persönlich angestellt und prägen den Laden und sein Image seither massgeblich mit.

Das 70-jährige Bestehen der Stauffacher-Buchhandlung ist Zeugnis einer Leidenschaft, die Buchhändler*innen und Kund*innen für Bücher und Buchläden empfinden. Zugleich erzählt es die Geschichte einer einst blühenden Industrie, die heute mehr und mehr um ihr Überleben ringt.

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Bei Stauffacher - und sonst nirgendwo: Carola Klein liebt ihren Job. (Bild: Jonathan Liechti)

«Ich hab’ die Buchhandlung gesehen – das waren so verwirrende Gänge, wie ein Labyrinth – und dann bin ich im Splendid gelandet, stand auf dieser Empore oben, hab’ auf dieses Büchermeer runtergeblickt – und ich hab’ gewusst: Hier willst du Buchhändlerin sein und sonst nirgendwo.» Carola Klein, 58, stammt ursprünglich aus Siegerland. Mit ihren wallenden weissen Haaren und der donnernden Stimme ist sie im ganzen Laden weder zu überhören noch zu übersehen. Als sie als Buchhändlerin angestellt wurde, war Stauffacher ein Emporium des nationalen Buchhandels. Der Laden reichte bis in die angrenzende Von-Werdt-Passage, hatte Filialen im Bahnhof und im Einkaufszentrum Shoppyland, führte moderne Buchantiquariate und einen Comicladen im Aarbergerhof. Das Geschäft mag über die Jahre kleiner geworden sein, Carola Kleins Leidenschaft für Geschichten dagegen ist eher noch gewachsen.

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Vom Lift-Boy zum Geschäftsführer: Roland Baumberger verdankt Stauffacher viel. (Bild: Jonathan Liechti)

«Als wir angefangen haben», erinnert sich auch Roland Baumberger, «da konnte man einfach einen Laden haben und Bücher hinlegen – und das lief!» Inzwischen jedoch ist der Buchhandel von einer Schnelllebigkeit geprägt, die sich mit der Zeit von damals nicht vergleichen lässt. Allein auf Deutsch erscheinen jährlich 85'000 neue Titel, rund doppelt so viele wie noch vor 30 Jahren. Das wirkt sich auch auf die Bestsellerlisten aus. Blieben sie in den 80er Jahren während eines halben Jahres grosso modo unverändert, rücken heute alle zwei Wochen neue Titel nach. Dazu kommt der Onlinehandel. Amazon allein macht 25 Prozent des Umsatzes im Schweizer Buchhandel aus. Rund zehn Prozent werden digital als E-Books verkauft. In der Folge kosten Bücher nur noch einen Bruchteil dessen, was sie vor 20 Jahren gekostet haben.

Noch in den 80er Jahren war Stauffacher eine von sechs grossen Buchhandlungen in Bern – die anderen gibt es alle heute nicht mehr. Zusammen war ihr Umsatz bis 1970 so gross wie der von Thalia inzwischen allein. Als Christian Stauffacher 2000 krank wurde, verkaufte er seinen Laden an Thalia, eine deutsche Firma, die sämtliche «Lokalfürsten», wie Roland Baumberger sie nennt, aufkaufte. Jäggi in Basel, Meissner in Aargau, ZAP im Wallis. Thalia änderte die Namen der Geschäfte, um den eigenen Markennamen in der Schweiz bekannter zu machen, zahlte dafür aber einen hohen Preis: «Als sie Jäggi umbenannten, verloren sie im ersten Jahr direkt fünf Millionen Franken», sagt Baumberger. «An Stauffacher haben sie sich danach nicht rangetraut.»

«Solange ich noch Stauffacher heisse, ist es auch meine Pflicht, anders auszusehen.»

Roland Baumberger, Geschäftsführer

2013 schloss sich Thalia mit der Orell Füssli AG zusammen. Die Hoffnung: Eine Marktmacht zu werden, mit der sie Amazon würden ausbremsen können. Seither ist im Konzern vieles vorgeschrieben. Die Orell-Füssli-Filialen sind uniform, selbst ihr Ladenbau ist von einer Einheitlichkeit geprägt, die sich durchs Land zieht. Auch Stauffacher ist davon betroffen. Vorgaben im Sortiment, Vorgaben in der Anstellung von Personal. «Eigentlich sollten wir mehr umsetzen, als wir tun», sagt Baumberger. Ein Lächeln huscht über sein Gesicht. «Aber solange ich noch Stauffacher heisse, ist es auch meine Pflicht, anders auszusehen.»

«Du sagst, ‹Ich als Stauffacher›». Carola Klein und Roland Baumberger sitzen nebeneinander an einem Tisch in einer geräumten Ladenfläche. «Das sagt so viel aus. Die Menschen identifizieren sich extrem mit dieser Buchhandlung. Und der Roland ist ein Typ, der das fördert, der uns den Rücken freihält – und der seinen Kopf hinhält.» Klein wirft Baumberger einen Blick von der Seite her zu. «Ist doch so!»

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Carola Klein und Roland Baumberger wurden beide noch vom Gründersohn angestellt. (Bild: Jonathan Liechti)

Roland Baumberger ist ursprünglich nicht ausgebildeter Buchhändler. Er fing hier als Lift-Boy an. Der alte Fahrstuhl konnte nämlich nur ein begrenztes Mass an Gewicht transportieren. Während der geschäftigen Weihnachtszeit musste Baumberger darum kontrollieren, dass nie zu viele Leute den Lift betraten. Es sage einiges über den Führungsstil von Christian Stauffacher aus, finden Baumberger und Klein, dass er die Menschen gesehen habe und nicht deren Qualifikationen. «Christian Stauffacher scheute kein Risiko», sagt Baumberger. «Er hat sich oft vermeintlich überhoben, hatte das Wasser schon am Hals stehen – aber am Ende hat er immer Recht bekommen.»

«Er war ein Operettenfürst, hatte eigentlich klassischen Gesang studiert», ergänzt Klein. «Er war cholerisch und kreativ. Bei den Veranstaltungen beschränkte er sich nicht nur auf Autorenlesungen, sondern veranstaltete auch Konzerte. Stauffacher probierte, probierte, probierte.»

«Nach dem ersten Lockdown sind Stammkundinnen heulend vor mir gestanden, weil sie so froh waren, dass die Buchhandlung wieder auf hatte.»

Carola Klein, Leiterin Events

Klein arbeitete dreieinhalb Jahre für Christian Stauffacher, ehe ein Streit zwischen den beiden ausbrach. Klein verliess das Geschäft. «Er ist emotional, ich bin emotional – da hast du halt Krach!» Sie lacht, blickt fragend zu Baumberger. «Oder?» Baumberger schürzt leicht die Lippen, nickt. «Obwohl– ich bin kein emotionaler Typ und ich konnte auch so mit ihm streiten.» Nach vier Jahren kehrte Klein zu Stauffacher zurück. Sie und der Chef kreuzten sich in der Bestellabteilung. Stauffacher sei zwar emotional gewesen, nicht aber sentimental. «Aber der hat mich einfach in den Arm genommen!» Klein schüttelt fast ungläubig den Kopf über diese Versöhnung. «Das rührt mich bis heute, wenn ich daran denke. Der hat sich so gefreut, dass ich wieder da bin. Und ich hab’ mich auch gefreut.»

Klein ist geblieben. Sechzehn Jahre arbeitete sie als stellvertretende Filialleiterin, heute leitet sie das Veranstaltungsteam. «Bei Stauffacher werden die Geschichten lebendig», sagt sie. «Wenn Rafik Schami hier spätabends Gedichte vorträgt, ist das pure Magie. Das spürt man im ganzen Laden!» Klein kennt sie alle, die grossen Dichterinnen und Poeten. Sie trinkt Wein mit Milena Moser, kocht ihr besonderes Chili con Carne für Pedro Lenz und feiert Geburtstag mit Rafik Schami. Für Klein gehört hier alles zusammen: Die Bücher, die Veranstaltungen, die Menschen, «und auch ein gutes Essen mal zwischendrein.» Weil das Budget für Veranstaltungen oft knapp ist, zahlt Klein für das Essen manchmal selber. «Hier wird nicht nur gearbeitet», erklärt sie ihre Haltung. «Hier wird auch gelebt.»

Zusammenschluss hat auch Vorteile

Manches, denken sie und Baumberger, wäre ohne Orell Füssli einfacher. Sie könnten freier über Budgets verfügen. Hätten weniger Diskussionen mit der Zentrale. Aber der Zusammenschluss hat auch Vorteile. Gute Einkaufskonditionen zum Beispiel. Weniger Verantwortung in Krisen wie der Corona-Pandemie. Corona habe gezeigt, dass die Menschen Bücher noch immer bräuchten. «Nach dem ersten Lockdown sind Stammkundinnen heulend vor mir gestanden, weil sie so froh waren, dass die Buchhandlung wieder auf hatte», erinnert sich Klein. Sie vergleicht die Buchhandlung mit einer Stadt, die viele Stadtteile hat. Das mache die Atmosphäre in dem Laden so besonders. «Ich merke das jetzt umso mehr, wo wir wieder Auftritte haben können. Es ist etwas ganz anderes, zwischen Bücherregalen zu stehen als im Konzertsaal.»

Mit 80'000 Titeln ist Stauffacher die grösste Filiale von Orell Füssli in der Schweiz, aber mit Büchern allein kann kein rentabler Umsatz mehr realisiert werden. 25 Prozent des Umsatzes werden durch sogenannte Non-Books erzielt. YB-Fanshop, Papeterie, Musik.

Backen für die Auftretenden

«Wo ist Carola hin?», fragt Gabriel Vetter zwischen zwei Bissen Apfelkuchen. Klein hat extra gebacken. Fast zwölf Stunden stand sie für dieses Essen in der Küche. Es ist kurz vor 23 Uhr. «Kinderbuchabteilung», sagt eine Mitarbeiterin. Klein helfe einer der Kellnerinnen dabei, ein Buch für deren Tochter auszusuchen. Ein Fragezeichen huscht über Vetters Gesicht, ehe er sich lächelnd den Kopf schüttelnd wieder dem Nachtisch zuwendet.

«Es ist hier so vielfältig und gross», sagt Carola Klein, als sie wieder die Treppe hinaufkommt, «dass du auch als Mitarbeiterin immer wieder Neues entdeckst. Da findste manchmal Sachen, da wunderst du dich!»

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Diskussion

Unsere Etikette
Hanspeter Zaugg
01. Juni 2022 um 18:46

Es ist schon spannend dass heute mehr Bücher herauskommen pro Jahr und trotzdem verschwinden die "unabhängigen" Läden immer mehr.

Ein Hoch auf den "Stauffacher" als ich früher noch mehr dort vorbeigehen konnte, ging ich mit voller Geldbörse rein, gefühlte 6 Stunden später ohne Geld aber mit vollem Herzen nach Hause.

Es lebe das geschriebene Wort!

Bernhard Engler
31. Mai 2022 um 13:44

Als alter Branchen-Fuchs gratuliere ich Stauffacher zum Geburtstag und ziehe den Hut vor Menschen wie Roland und Carola, deren Standhaftigkeit, Fachkompetenz und Wärme!

Yannick Suter
30. Mai 2022 um 05:03

Merci für diesen Artikel. Damals als der Stauffacher noch Filme/DvDs verkaufte, habe ich meine Zeit während dem Gymi oft damit verbracht, Klassiker zu entdecken. Der Stauffacher hat mich weiter dahingehend geprägt, dass mein Interesse für Geschichte, Politik und neuerdings Wirtschaft und angewandte Psychologie nie versiegt ist. Die Comics Abteilungs ist nebst dem Drachennest ein sicherer Wert in der Stadt Bern. Aues guete zum Gebrui Stauffacher!