So bekämpft die Klinik Siloah den Pflegemangel
Das Spital in Gümligen hat die Arbeitszeit des Pflegepersonals reduziert – und erhält seither mehr Bewerbungen auf freie Stellen.
Michael Deutsch ist Pflegefachmann in der Klinik Siloah in Muri und findet seinen Beruf «schön und wichtig». Besonders die zwischenmenschlichen Begegnungen seien für ihn persönlich eine Bereicherung. Doch die Belastung ist gross. Zu viele Patient*innen, zu wenig Pflegende – die Qualität der Gesundheitsversorgung leidet. Deutsch wollte nicht mehr in einem System arbeiten, hinter dem er nicht stehen kann. Er hatte vor, einen Job bei einer Krankenkasse zu suchen, mit seinen Fähigkeiten aus der KV-Lehre wäre das ein Leichtes gewesen. Das war vor einem halben Jahr.
Ähnliche Überlegungen wie Michael Deutsch machen sich viele Pflegekräfte in der Schweiz. Über 40 Prozent der diplomierten Pflegefachleute und Fachangestellten Gesundheit (FaGe) steigen während ihres Berufslebens aus dem Beruf aus. Für Hoffnung sorgte die Pflege-Initiative, die das Schweizer Stimmvolk im letzten November angenommen hat. Doch mit der Umsetzung lässt sich die Politik Zeit.
Zu viel Zeit, findet Silvia Mohler, Pflegedirektorin der Klinik Siloah in Gümligen: «Wir wollten nicht warten, bis die Politik handelt.» Mit ihrem Team diskutierte sie, mit welchen Massnahmen die Klinik die bestehenden Pflegekräfte halten und zusätzliche rekrutieren kann. Mehr Lohn zu zahlen wäre eine. «Im Gespräch mit den Pflegenden erfuhren wir aber, dass viele Mühe haben, eine gesunde Work-Life-Balance zu halten.» Darum fiel der Entschluss, dass an der Arbeitszeit geschraubt werden muss.
Seit dem 1. Juli arbeiten die Pflegenden im Siloah 40 Stunden pro Woche, statt wie früher 42 Stunden – gerechnet auf ein Vollzeitpensum. Die einzelnen Schichten dauern gleich lange, jedoch werden die Pflegenden für weniger Schichten eingeteilt.
Silvia Mohler betont, dass die Arbeitszeitreduktion mit nicht unbeachtlichen Kosten verbunden ist. «Wir müssen zusätzliches Personal anstellen.» Das Siloah könne die Massnahme nur finanzieren, weil Geld im Budget zu Gunsten der Pflege verschoben worden ist. Sie glaubt, dass die Finanzen ein Hauptgrund sind, dass bisher noch nicht mehr Spitäler die Arbeitszeit reduziert haben. Es sei ein Teufelskreis: «Ist zu wenig Personal da, müssen Betten geschlossen werden. Das ist eine finanzielle Katastrophe. In dieser Situation sind die wenigsten bereit, in Personal zu investieren.»
Auch andere Berner Spitäler überlegen sich, wie sie bestehendes Personal halten und neues anlocken können.
Die Insel Gruppe baut einen Mitarbeiter*innen-Pool auf, der flexible und niederprozentige Arbeitsmodelle ermöglicht. Zudem sollen die Rahmenbedingungen so gestaltet werden, dass die Pflegenden deutlich weniger Überstunden leisten müssen und sich besser erholen können. Eine Arbeitszeitreduktion ziehe die Insel Gruppe aber nicht in Betracht, scheibt Mediensprecher Didier Plaschy: «Wir erachten Massnahmen, die unsere aktuell eher knapp verfügbaren Personalressourcen weiter reduzieren als nicht unmittelbar umsetzbar.»
Auch in den Berner Hirslanden-Kliniken ist nicht vorgesehen, die Arbeitszeit zu reduzieren. Als Massnahmen gegen den Fachkräftemangel nennt Annina von Arx, Leiterin Marketing und Kommunikation den Zuschuss zum Libero-Abo, der vom Personal «sehr geschätzt» werde. Ausserdem können Mitarbeitende zu den fünf Wochen Ferien zwei weitere dazu kaufen.
Die Lindenhofgruppe hat per 1. September ein Bündel an Massnahmen eingeführt: Wer im Dreischichtbetrieb arbeitet, erhält sieben zusätzliche Ferientage. Bei Nachtdiensten wird die Zeitgutschrift von 20 auf 30 Prozent erhöht. In der Summe entspreche das einer Verringerung der wöchentlichen Arbeitszeit auf weniger als 40 Stunden, schreibt die Medienstelle der Lindenhof-Gruppe.
Mit dem alten Modell hatten besonders jene mit höheren Pensen selten mehrere Tage am Stück frei. Durch die Reduktion der Schichten kommt es häufiger vor, dass sie sich zwei oder drei Tage erholen können. Ein spürbarer Effekt, wie Michael Deutsch findet: «Ich habe mehr Energie, um meine Aufgaben bewältigen zu können.» Auch von seinen Kolleg*innen hört er durchwegs positive Erfahrungen, eine gesunde Work-Life-Balance sei viel besser erreichbar durch die Reduktion der Arbeitszeit.
Auch Silvia Mohler weiss Positives zu berichten: «Wir haben deutlich mehr Bewerbungen auf Stellen für FaGe und Hilfspersonal.» Ausserdem entscheiden sich mehr Temporärkräfte, eine Festanstellung im Siloah anzunehmen. Und solche, die bereits aus dem Beruf ausgestiegen sind oder das vorhatten, sind zurückgekehrt beziehungsweise geblieben.
Nach wie vor Mühe hat Mohler, diplomierte Pflegefachkräfte für die Akutstation zu finden. Von ihnen gebe es zu wenig auf dem Markt, sie würden unter der Hand zwischen den Spitälern vermittelt. «Der Pflegemangel ist allgegenwärtig.»
Für Mohler ist darum klar, dass die Reduktion auf 40 Wochenstunden nur ein erster Schritt ist. Nur ein Puzzleteil. Vorgesehen ist, dass per 1. Januar 2024 die Arbeitszeit weiter reduziert wird, auf 38 Stunden. «Wenn die Politik bis dahin andere Massnahmen vorsieht, würden wir uns natürlich diesen anpassen», so Mohler. Bereits jetzt erhalten Mitarbeiter*innen, die kurzfristig bei einem Engpass einspringen, einen Bonus von 50 Franken. «Die Flexibilität muss entlöhnt werden», findet Mohler.
Sie hofft, dass sich mit der Umsetzung der Pflegeinitiative vor allem die Arbeitsbedingungen für das Pflegepersonal verbessern. Aus ihrer Sicht erhalte die sogenannte Ausbildungsoffensive in der bisherigen Diskussion zu viel Gewicht. «Ich erlebe oft, dass Leute hochmotiviert aus der Ausbildung kommen, den Beruf aber bald wieder verlassen.» Das Ziel müsse sein, die Leute im Beruf zu halten.
Pflegefachmann Michael Deutsch stimmt ihr zu. Anders als bei seiner früheren Arbeitgeberin stimmen für ihn die Arbeitsbedingungen im Siloah. So gut, dass er im August seinen Temporär-Vertrag in eine Festanstellung umgewandelt hat. «Die 40-Stunden-Woche hat bei dieser Entscheidung eine wichtige Rolle gespielt», sagt er. Wichtig sei für ihn auch, dass er neben der Pflege der Patient*innen die Zusatzaufgabe als Mitarbeiter in der Pflegeentwicklung übernehmen konnte.