Sie hätten spinnen müssen

Die Mitglieder des Berner Regierungsrats füllten den Smartvote-Fragebogen vor den Wahlen im Frühling 2022 nicht aus. Nun sagen zwei Juristen: zu Unrecht.

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Die Smartspider der Berner Regierungswahlen, Edition «Hauptstadt». (Bild: Jana Leu)

«Spinnen für den Regierungsrat» lautet der Titel des allerersten Artikels, den die «Hauptstadt» publiziert hat. Das war im letzten März, kurz vor den Regierungsratswahlen im Kanton Bern. Im Artikel ging es darum, dass alle sechs amtierenden Mitglieder des Regierungsrates, die sich erneut zur Wahl stellten, den Fragebogen auf der Online-Plattform Smartvote nicht ausfüllten, nachdem sie sich untereinander verständigt hatten. Die «Hauptstadt» konstruierte die sechs fehlenden Spider-Profile darauf selber.

Als Grund für ihren Smartvote-Verzicht nannten die wiederkandidierenden Regierungsmitglieder das Kollegialitätsprinzip und die Befürchtung, das Amtsgeheimnis zu verletzen. Denn anhand der Antworten würde sichtbar, in welchen Themen die einzelnen Mitglieder von der Regierungslinie abweichen. Genau das aber soll das Kollegialitätsprinzip verhindern: Die Regierungsmitglieder fassen gemeinsam Beschlüsse und tragen sie in Einigkeit nach aussen. Über interne Positionen und Diskussionen herrscht in der Regel Stillschweigen.

Wie sich am Wahlsonntag zeigte, hatte der Verzicht für die Ratsmitglieder keine negativen Konsequenzen: Obwohl die Wähler*innen wegen der fehlenden Spinnen um ein Werkzeug zur Meinungsbildung ärmer waren, bestätigten sie alle bisherigen Mitglieder in ihrem Amt.

Doch die Frage, ob das Kollegialitätsprinzip einen Smartvote-Verzicht nahelegt oder gar gebietet, war damit nicht beantwortet.

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An Stelle der Kandidat*innen fertigte die «Hauptstadt» die Smartspider an. (Bild: Jana Leu)

Ist sie immer noch nicht, zumindest nicht abschliessend. Argumentationsstoff liefern inzwischen zwei Mitarbeiter der Universität St. Gallen, der eine Rechtsanwalt (Micha Herzog), der andere Jus-Student (Damian Wyss). In einem Beitrag für die juristische Fachzeitschrift «sui generis» untersuchen sie die Beziehung zwischen dem Kollegialitätsprinzip und dem Ausfüllen des Smartvote-Fragebogens. Und wenden ihre Erkenntnisse auf das Berner Beispiel an.

Ihr Fazit: Mit der kompletten Verweigerung hatten es sich die Regierungsmitglieder zu leicht gemacht.

Der Smartvote-Fragebogen für die Berner Regierungsratskandidat*innen enthielt drei Kategorien:

  1. Fragen ohne Bezug zu laufenden Geschäften («Soll der Kanton Bern das Service-Public-Angebot in den ländlichen Regionen stärker fördern?»).
  2. Fragen zu konkreten Geschäften («Befürworten Sie das geplante Stauseeprojekt unterhalb des Triftgletschers im Gadmertal?»).
  3. Fragen zu Geschäften, die nicht in die Kompetenz des Kantons Bern fallen («Sollen alle in der Schweiz geborenen Personen das Schweizer Bürgerrecht erhalten?»).

Fragen zu kurz bevorstehenden oder gerade abgeschlossenen Geschäften – Kategorie 2 – haben die Ratsmitglieder laut der St. Galler Expertise zu Recht verweigert. Dort bestand die Gefahr, gegen die Pflicht zu verstossen, Entscheide des Gesamtgremiums solidarisch mitzuvertreten. Würden individuelle, abweichende Meinungen öffentlich gemacht, könnte dies den Regierungsauftritt schwächen.

Hingegen sei es geradezu eine Forderung des Kollegialprinzips, dass Regierungsmitglieder ihre Haltung zu «abstrakten und wertbezogenen Fragen» offenlegen, schreiben die beiden Juristen. Dies, weil eine Funktion des Kollegialprinzips genau daraus bestehe, Personen mit unterschiedlichen Wertehaltungen in einem Gremium zu vereinen. Kategorie 1 hätte also ausgefüllt gehört.

Ebenso Kategorie 3: Zwischen Geschäften in Bundeskompetenz und dem Kollegialitätsprinzip der Kantonsregierung besteht laut Herzog und Wyss kein Spannungsverhältnis. Eher würden diese Fragen, ähnlich jenen aus Kategorie 1, den Wähler*innen dienen, sich ein Bild der politischen Ansichten der Kandidat*innen zu machen.

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So sah der gestickte Smartspider von Philippe Müller (FDP) aus. (Bild: Jana Leu)

Mit ihrem Smartvote-Verzicht stehen die Berner Regierungsrät*innen nicht alleine da: Seit 2020 haben auch die amtierenden und wiederantretenden Regierungsmitglieder in den Kantonen Waadt, Basel-Stadt, Aargau und Schwyz den Fragebogen nicht ausgefüllt.

Die beiden Autoren schliessen ihren Text mit der Empfehlung an Smartvote, künftig bei Regierungswahlen auf Fragen zu aktuellen Vorlagen zu verzichten.

Anruf bei Michael Erne von Smartvote. Er hat erst durch die Anfrage der «Hauptstadt» vom juristischen Artikel und dessen Empfehlung erfahren. Die Chance, dass diese umgesetzt wird, schätzt er aber als gering ein. Denn Smartvote wolle vor allem eine Entscheidungshilfe für die Wähler*innen sein: «Wir nehmen jene Fragen auf, die Wähler*innen interessieren. Jene zu kantonalen Aktualitäten sind oft besonders spannend.»

Die geschmeidigste Lösung dürfte so aussehen, dass sich die Regierungsmitglieder für die nächste Wahl an die alte Praxis erinnern: «Zwischen 2006 und 2018 haben die Berner Regierungsrät*innen die Fragebögen ausgefüllt. Die Fragetypen haben sich nicht verändert. Die rechtlichen Grundlagen unserem Wissen nach auch nicht», so Erne.

Er hat – über diverse Kantone hinweg – eine interessante Beobachtung gemacht: «Je intensiver der Wahlkampf war, desto eher füllten die amtierenden Kandidierenden auch die Fragebögen aus.»

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