So hungrig und so müde
Es ist schwer, heute jung zu sein: Das Romandebüt «Höhenangst» von Saskia Winkelmann bringt dieses Gefühl zwischen Lebenshunger und Lebensmüdigkeit wunderbar auf den Punkt.
Die Mutter ist keine grosse Unterstützung. Sie sitzt zuhause, sie liegt im Bett, sie hat Gäste – und ist nicht so richtig lebensfähig. Sie braucht die Tochter. Nicht, damit sie für jemanden sorgen kann, sondern damit jemand da ist. Die Tochter ist im Gymnasium und allein. Sie sucht. Die erste Liebe, die weitere Bestimmung, das Glück und auch die Flucht davor. Dann findet sie Jo, die rätselhafte und eigensinnige junge Frau, die nach einem mutmasslichen Suizid-Versuch neu zu ihr in die Klasse kommt. Die Protagonistin ist fasziniert, geradezu im Bann der neuen Schülerin. Mit ihr packt sie der Lebenshunger, die Lebensmüdigkeit, und alles dazwischen.
«Früchte beruhigen mich.»
Ich-Erzählerin
«Höhenangst» heisst das Romandebüt der 32-jährigen Bernerin Saskia Winkelmann, es feiert heute seine Taufe im Berner Tojo Theater. Es ist ein beglückender, einnehmender Roman, geschrieben in einer sorgfältigen Sprache. Kein Wort ist zu viel, keine Szene unnötig. Gerade deshalb taucht man ein mit der namenlosen Ich-Erzählerin. Geht mit ihr, wenn sie Jo ihren Geheimplatz zeigt, den Feigenbaum im Mittelmeerhaus im botanischen Garten. Ein Ort, an dem sie sich hinlegen kann, an dem sie verschwindet, nichts mehr wichtig ist. «Früchte beruhigen mich. Sie bedeuten, dass es Dinge gibt, die passieren können ohne Menschen, Dinge, die es vorher gegeben hat und die es nachher geben wird.»
Jo zeigt ihr auch ihren Lieblingsplatz, ein Keller in einem unbewohnten Haus, in dem illegale Partys stattfinden. Dort, aber das merkt die Protagonistin erst später, tauchen die jungen Menschen nicht nur mithilfe von Musik in die Nacht ein. Sie experimentieren mit Drogen, die die Welt erträglicher, intensiver, ruhiger oder auch lauter machen. Von ihnen versprechen sie sich, gerade das zu bekommen, was ihnen im Moment fehlt. Mit Jo versucht sich die Ich-Erzählerin an verschiedenen Drogen, der Rausch gehört zu ihrem Lebenshunger, gemeinsam wollen sie mehr spüren.
«Ich denke, dass sich so sehr alte Menschen fühlen müssen.»
Ich-Erzählerin
«Höhenangst» beschreibt die Geschichte einer Freundschaft in einer unsteten Lebensphase. Subtil zeigt Saskia Winkelmann auf, wie die jungen Menschen Grenzen ausloten, austesten, überschreiten. Mit kurzen Rückblenden schafft es die Autorin gekonnt, den Bogen zu spannen von der unbekümmerten Kindheit zum sich manchmal tonnenschwer anfühlenden Lebens eines Teenagers. Und zeigt, wie schnell in solchen Momenten die falschen Entscheidungen gefällt sind, auch, weil die Lebenserfahrung fehlt. Das führt zu einer Überforderung, die uns allen nicht fremd ist. Oder, wie die Protagonistin sagt: «Ich denke, dass sich so sehr alte Menschen fühlen müssen und kurz glaube ich, dass ich vielleicht schon uralt bin und in einem Heim wohne. Dass ich alt bin und das, was ich als junger Mensch erlebt habe, klarer ist als die Gegenwart.»
Die Geschichte endet tragisch, als Leserin weiss man das schon sehr früh, denn alles läuft darauf zu. Und trotzdem, oder vielleicht auch deshalb, ist sie sehr bereichernd. Weil sie das ganze Spektrum einer Jugend auffächert, die Möglichkeiten und die Gefahren, und weil die Protagonistin, trotz aller falscher Entscheidungen, stets ein fühlender Mensch bleibt, einer, der das Leben spüren will.
«Ich weiss, es gibt zwei Arten, die Welt zu sehen: Entweder sie ist, wie sie ist, und du bist davon getrennt. Oder du bist die Welt, bist ein Teil von ihr, sie kommt aus dir und du aus ihr.»
Saskia Winkelmann: «Höhenangst», Verlag Die Brotsuppe, 190 Seiten. Buchtaufe: Di, 9.5., 19.30 Uhr, Tojo Theater Bern.