Stadt hat tausende Rechnungen nicht bezahlt
Massive IT-Probleme beim Berner Erwachsenenschutz und Sozialdienst: Eine neue zentrale Software war bei der Einführung so langsam, dass Mitarbeitende nach einem Klick fünf Minuten warten mussten.
Seit elf Jahren planen und bauen Fachleute der Stadt Bern zusammen mit den Städten Zürich und Basel an der neuen Software. Fast ein Jahr lang wurde sie getestet. Am 12. Juni 2023 sollten die Sozialhilfe sowie das Amt für Erwachsenen- und Kindesschutz der Stadt Bern dann in ein neues Zeitalter starten. Mit der Einführung von Citysoftnet wurde die Fallführung komplett digitalisiert.
Doch statt zu einem Effizienzgewinn kam es mit Citysoftnet vorerst zu einem grossen Rückschlag, wie die zuständigen Gemeinderät*innen Franziska Teuscher (GB) und Reto Nause (Mitte) am Donnerstag vor den Medien einräumten. Tausende Rechnungen wurden nicht bezahlt, und Beiständ*innen im Erwachsenenschutz hatten keinen Überblick mehr über die Budgets ihrer Klient*innen.
Konkret kämpfte die Stadt unter anderem mit folgenden Problemen:
Schlechte Performance: Das System arbeitete über Wochen extrem langsam. Zum Teil mussten Mitarbeitende nach einem Klick über fünf Minuten warten, bis sie weiterarbeiten konnten.
Unklare Angaben nach dem Scannen von Dokumenten. Diese mussten danach händisch bearbeitet werden.
Im Erwachsenenschutz konnten wochenlang Geldeingänge von Klient*innen nicht zugeordnet und damit auch keine Rechnungen ausgelöst werden.
In der Sozialhilfe konnten eine Zeit lang Krankenkassenrechnungen nicht bezahlt werden.
Diese Schwierigkeiten hatten massive Auswirkungen für Klient*innen und Mitarbeiter*innen – insbesondere im Erwachsenenschutz. Tausende Rechnungen blieben liegen. Zum Teil kam es gar zu Betreibungen. Rechnungen mussten danach händisch ausgelöst werden
Obwohl man gewisse Probleme bei der Buchhaltungssoftware schnell geklärt habe, hätten Beiständ*innnen wegen der Performance-Probleme den Pendenzenberg nicht abbauen können, sagte Esther Meier, Leiterin des Amtes für Erwachsenen- und Kindesschutz (EKS) an der Medienkonferenz.
«Die Situation war sehr schwierig für Beiständ*innen, da für eine adäquate Betreuung der Überblick über die Finanzen fehlte», sagte Meier. Das EKS macht im Erwachsenenschutz die Buchhaltung für die 1700 Klient*innen. Pro Monat resultieren so rund 8000 Zahlungseingänge und 10’000 bis 15’000 Rechnungen. Laut Meier brachten Beiständ*innen zum Teil sogar Bargeld zu den Klient*innen nach Hause.
Um die Pendenzen abzubauen, hat die EKS im Juli zehn Personen angestellt, welche nun die Rechnungen abarbeiten. Drei Personen würden sich alleine um Mahnungen kümmern.
Zehn Mitarbeiter*innen haben gekündigt
Für die Mitarbeiter*innen im EKS war die Situation laut Meier sehr belastend. Acht Personen wurden in dieser Phase länger krank geschrieben und zehn Mitarbeiter*innen haben gekündigt. Um die Situation zu beruhigen, nimmt die EKS derzeit keine neuen Beistandsfälle entgegen. Diese werden von der Gemeinde Ostermundigen übernommen.
Beim Sozialdienst waren die Auswirkungen der Probleme etwas weniger dramatisch. Aber auch dort braucht es aktuell mehr Personal, um Pendenzen abzuarbeiten.
Teuscher und Nause werden für diese temporäre Stellenaufstockung nach den Herbstferien dem Gemeinderat und dem Stadtrat für das Jahr 2023 einen Nachtragskredit über 955’000 Franken beantragen. 700’000 Franken entfallen auf den Erwachsenenschutz, 255’000 Franken auf den Sozialdienst. Auf Antrag der Juso hat der Stadtrat vor einer Woche bei der EKS zwölf zusätzliche Stellen bewilligt. Die Zusatzkosten von 1,5 Millionen Franken werden ab 2025 budgetwirksam.
Die beiden Gemeindrät*innen baten an der Medienkonferenz Klient*innen, Mitarbeiter*innen und Partnerorganisationen, die betroffen waren, um Entschuldigung. Man habe über Monate intensiv getestet und doch habe es bei der Einführung gerumpelt, sagte Nause. Die Talsohle sei aber durchschritten. Technische Probleme würden nun laufend behoben, ergänzte Teuscher.
Trotz der Einführungsprobleme sind Teuscher und Nause von der neuen Software der Herstellerfirma Emineo überzeugt. Citysoftnet werde ein grosser Mehrwert sein und zu Entlastung und Effizienzsteigerung beitragen. Es sei das modernste System der Schweiz, und grundsätzlich laufe es, betonten beide. Citysoftnet sei ein Ferrari, sagte Nause. «Aber beim Start war es ein Like-a-Bike, das wir mit Muskelkraft voranbringen mussten.»
Kosten steigen auf 18 Millionen Franken
Die Kosten für das Projekt Citysoftnet summieren sich mit den Nachtragskrediten derzeit auf 18,4 Millionen Franken. Das wäre eine Kostensteigerung um 23 Prozent. Beim Erwachsenenschutz könnten laut Nause aber auch im kommenden Jahr noch Mehrkosten wegen der Pendenzen anfallen.
Ursprungskredit 2018: 14,9 Millionen Franken
Nachkredit Dezember 2022: 2,54 Millionen Franken
Nachkredit Oktober 2023: 955’000 Franken
Beim Betriebskredit für Citysoftnet rechnet die Stadt derzeit für fünf Jahre mit rund sechs statt vier Millionen Franken.
Auch Sozialamtsleiterin Claudia Hänzi erachtet Citysoftnet noch immer als ein gutes Projekt. Es sei ein Digitalisierungsprojekt, das nur einmal pro Generation durchgeführt werde und nun 20 bis 25 Jahre im Einsatz stehen solle. Das Fallführungssystem sei komplexer als zum Beispiel ein Gesamtbankensystem, sagt sie zur «Hauptstadt». «Und Citysoftnet ist trotz der Nachtragskredite deutlich günstiger als vergleichbare Systeme in der Privatwirtschaft.»
Dennoch wecken die aktuellen Software-Probleme Erinnerungen an das Debakel bei der Schulsoftware Base4kids. Beide IT-Projekte hat Franziska Teuschers Direktion zu verantworten. Hat sie denn aus Base4kids keine Lehren gezogen? «Die aktuelle Situation ist anders gelagert als bei Base4kids», verteidigte sich Teuscher auf Anfrage der «Hauptstadt». «Das System Citysoftnet hat Einführungsprobleme, aber es funktioniert». Und man habe diesmal direktionsübergreifend gearbeitet.
«Aber es ist sehr unschön, dass nach all den Tests noch unerwartete Performance-Probleme auftreten», sagte Teuscher. Sie sei daher gespannt auf die Analyse. Noch weiss die Stadt nicht, woran es gelegen hat. Die üblichen Tests habe man im Vorfeld gemacht, sagte Hänzi an der Medienkonferenz. Die Probleme könnten offenbar auch mit hohen Anforderungen an den Datenschutz und Cybersecurity zusammenhängen. Das System läuft auf Servern der Organisation und Informatik (OIZ) der Stadt Zürich. Bern hat das System als erste Stadt eingeführt. Zürich und Basel folgen später.
Trotz der aktuellen Probleme sei das Gesamtprojekt aber normal unterwegs, sagte Teuscher. Bei sehr vielen Einführungen von IT-Systemen würden Probleme auftauchen. «Im Gegensatz zur Privatwirtschaft sind diese Probleme bei der Stadt auch öffentlich sichtbar. Was auch richtig ist», so die grüne Gemeinderätin.
«Eine Katastrophe und zum Fremdschämen»
Weniger zuversichtlich tönt es aus dem Parlament. «Diese IT-Probleme sind eine Katastrophe und zum Fremdschämen», sagt Jglp-Stadträtin Corina Liebi. Nun habe man wieder ein Digitalprojekt der Stadt, das nicht funktioniere. «Frau Teuscher versicherte dem Stadtrat, dass man genug Testläufe mache», so Liebi. Und im Frühjahr habe das Parlament extra noch Geld gesprochen, damit das Projekt für Bern optimiert werde. «Da ist schon sehr fragwürdig, dass man nun wieder Daten von Hand nachtragen muss.»
Auch FDP-Stadtrat Tom Berger hat «kein Verständnis» für Performance-Probleme im Tagesgeschäft: «Denn solche Tests gehören zum kleinen Einmaleins von IT-Projekten vor dem Go-Live.»
Der Wirtschaftsinformatiker und BFH-Professor Matthias Stürmer erachtet die Probleme bei Citysoftnet als ein Desaster: «Offensichtlich hat die Stadt das System ohne wirkungsvolle Lastentests eingeführt», sagt Stürmer. Das sei fahrlässig, denn die Performance-Probleme würden zu einem grossen Vertrauensverlust und Frust bei Mitarbeitenden führen. Die Situation sei auch ein peinliches Urteil für die Anbieterfirma Emineo. «Den Schaden hätte man begrenzen können, wenn man das System schrittweise in kleineren Teams eingeführt hätte.» Die Probleme bei der Einführung von Citysoftnet erinnern Stürmer an die Fehler bei Base4Kids. «Ich frage mich schon, ob man die richtigen Lehren gezogen hat.»